Die Milchstraße
In meiner Großmutter Dorf gab es ein paar Jahre nach dem großen Krieg eigentlich nur drei wichtige Anschriften.
Zwei davon waren für uns Kinder nur im Sommer interessant und das waren die Adressen von den zwei Wirtshäusern.
Eines, welches am Ortseingang des Dorfes gelegen war und die von einem zweiten Wirtshaus, welches sich kurz vor dem Ortsausgang befand.
Im Sommer, wenn es tagsüber sehr heiß war, konnte man sich in beiden immer für zehn Pfennig ein Glas erfrischend prickelnde Fassbrause holen. Ansonsten blieben die Kneipen den Männern vorbehalten, denn dort
trafen sich regelmäßig die Bauern, um ihr Feierabendbier zu trinken und um ein Schwätzchen mit dem Nachbarn zu halten. Samstagabend war abwechselnd immer Tanz in den Gastwirtschaften und dann drückten wir Kinder uns gelegentlich die Nasen an den Fensterscheiben platt, um dem bunten Treiben da drinnen ein wenig zuzuschauen.
Viel wichtiger für uns war aber die dritte Adresse im Dorf, mittendrin an der einzigen kopfsteingepflasterten Dorfstraße gelegen.
Das war der hiesige Tante-Emma-Laden.
Die Besitzerin hieß auch nicht Emma, wohl aber Frau Kosche. Frau Kosche war eine überaus freundliche ältere Dame, die den Laden allein mit ihrer hübschen Tochter führte, denn ihn Mann war aus dem größten und wohl
verhängnisvollsten aller Kriege, nicht zurückgekehrt.
Über drei Stufen aus schwarzen, kunstvoll verschnörkelten Gusseisenplatten gelangte man in den Verkaufsraum. An der Ladentür hingen mehrere metallene Glöckchen und wenn man die Ladentür auch nur ein Stück weit öffnete, begannen sie zu bimmeln.
Das Innere des Verkaufsraumes war wie ein großes 'U' gehalten. Der Fußboden bestand aus schwarzen und weißen Fliesen und sah aus, wie ein überdimensionales Schachbrett, welches an den verschiedensten Stellen jedoch schon tüchtig abgetreten war. Aber dieser Fußboden war stets sehr sauber gewischt und wenn man wollte, hätte man auch vom ihm essen können. Auf dem
dunklen Holz des Verkaufstresens waren ringsherum weiße Marmorplatten befestigt und über den Marmorplatten befand sich ein stabil angeschraubtes und stets auf Hochglanz blankpoliertes Messinggeländer, auf welchem die Frauen des Dorfes immer ihre ledernen Einkaufstaschen abstellten. An den Wänden standen bis unter die Decke gefüllte dunkle Holzregale, in welchen die unterschiedlichsten Lebensmittel fein sortiert untergebracht waren.
Ganz oben standen akkurat aufgestapelt, die Konservendosen und Gläser. In dem einen Regal standen die Tüten mit dem Mehl, in einem anderen, der Zucker und das Salz. In Höhe des Ladentisches waren in einem der breiten Regale die frisch duftenden Brotlaibe übereinander gelegt. Hinter den blitzblank
geputzten Glasscheiben lagen dicke Salami, und Leberwurstringe, sowie große Scheiben von Kochschinken. Auf den Ladentischen standen überall verschiedenartigst große Gläser mit abnehmbarem Deckel, welche die unterschiedlichsten Leckereien enthielten. Hier gab es alles, was das Kinderherz begehrte. Von dicken Gläsern mit grünen Eukalyptusbonbons, mit köstlicher schwarz-glänzender Lakritz, Zuckerstangen und jede Menge anderer bunter Bonbons, bis hin zu süßen Gummischlangen und den braunen Karamel-Lollis. Jedes Mal, wenn Großmutter uns Kinder zum Einkaufen mitnahm, war stets auch immer ein Stück Süßes für uns mit dabei, welches uns die freundliche Frau Kosche mit einem Lächeln spendierte.
So geschah es eines Tages, dass ich von Großmutter den Auftrag bekam, rasch noch einen Liter Milch zu holen, den sie dringend benötigte. Also gab sie mir ein 50-Pfennig- Stück und drückte mir ihre alte, schwarzweiß gesprenkelte, emaillierte Milchkanne in die Hand.
»Du gehst jetzt noch mal zu Kosches und holst mir bitte noch eine Kanne Milch, die hab' ich nämlich heute beim Einkaufen vergessen. Wirst du das schaffen?«, fragte sie mich und sah mich durch ihre runde Brille prüfend an.
Ich nickte stolz,
»Natürlich Oma, was denkst denn du!«, platzte ich heraus. Großmutter lächelte und ich wollte mich gerade auf den Weg machen, als meine kleine Schwester zu plärren anfing.
»Ich will auch mit...«, heulte sie plötzlich los. Garantiert will sie auch nur was Süßes haben, dachte ich missmutig, bloß deshalb will sie nämlich überhaupt mitkommen.
Großmutter nickte,
»Selbstverständlich kannst du mitgehen«, sagte sie milde und strich ihr liebevoll über das blondgeflochtene Haar. Meine Schwester griente hinter Großmutters Rücken und steckte mir frech die Zunge heraus. Ich wagte einen letzten Versuch, sie davon abzubringen,
»Aber nur, wenn sie sich vorher noch die Hände wäscht, denn so dreckig, wie sie ist, nehm‘ ich sie nicht mit«, wehrte ich mich protestierend. Wohlwissend, dass meine kleine Schwester ansonsten nämlich ziemlich wasserscheu war.
Großmutter schaute sie über ihren Brillenrand hinweg an und wie ein geölter Blitz stürzte meine Schwester davon und lief auf den Hof zu der grün angestrichenen Wasserpumpe. Sie hängte sich einmal an den langen Schwenkarm der gusseisernen Pumpe und zog mit ihrem ganzen Körpergewicht langsam den Pumpenschwengel hinunter. Sobald das große Löwenmaul der Pumpe das saubere Wasser ausspuckte, langte sie mit ihren kleinen Patschhändchen unter den dicken kalten Wasserstrahl.
»Sauber, sauber, ätsch!«, rief sie mir zu und drehte ihre klatschnassen Hände dicht vor meiner Nase hin und her. Wohl oder übel musste ich sie nun doch mitnehmen, denn mir waren zu meinem Leidwesen dummerweise
die Argumente ausgegangen.
Bevor wir gemeinsam loszogen, riss ich noch ein großes Stück altes Zeitungspapier ab und wickelte das 50-Pfennig-Stück großflächig darin ein. Erst dann steckte ich es in die linke Tasche meiner kurzen Lederhose. Die rechte Tasche war nämlich auf einer meiner vielen Abenteuererkundungen, innen längst schon abgerissen. Die linke Tasche dagegen hatte ganz unten nur ein kleines Loch. Wenn also das Einwickelpapier größer war als das Loch, dann konnte ich logischerweise auch das mir anvertraute Geldstück nicht mehr verlieren.
So gewappnet machten wir uns also auf den Weg in die Mitte des Dorfes zu Frau Kosche, um den vergessenen Liter Milch zu holen. Unterwegs hopste meine kleine Schwester
immer vor mir her und sang einige alte Kinderlieder, wobei sie ständig vom Ton in Lehm kam...
»...Mariechenkäfer fliege,
Vater ist im Kriege.
Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt...«
Aber die meisten erfand sie wohl gerade in dem Moment, bevor sie sie sang. Außerdem sang sie laut und zudem auch noch übelst falsch. Es war mir richtig peinlich, mit ihr auf der Dorfstraße zu gehen. Einer von meinen Kumpels hätte uns dabei ja beobachten, oder was Gott verhüten möge, auch hören können. Ich versuchte sie abzulenken, damit sie
endlich mit der blöden Singerei aufhörte.
»Wenn ich dir einen Zaubertrick zeige, bekomme ich dann auch deine Lakritze?«, fragte ich sie unvermittelt, denn ich wusste, dass sie sich immer eine Stange Lakritz aussucht. Sie schüttelte den Kopf und hörte aber wenigstens mit dem Singen auf. Nach einer Weile längeren Überlegens fragte sie mich,
»Was ist das denn für ein Zaubertrick?«
»Na ja, sagte ich. Ein richtiger Zaubertrick eben. Ich kann mit diesem Zaubertrick verhindern, dass die Milch aus dieser Kanne hier läuft, auch wenn ich sie umgekehrt nach unten halte...«
Sie lachte schelmisch,
»Die Milch, die kann ja gar nicht raus, da ist
doch ein Deckel auf der Milchkanne, der lässt die Milch ja sowieso nicht raus.«
»Ja aber mein Zaubertrick macht, dass die Milch auch dann nicht herauskommt, selbst wenn da kein Deckel drauf ist«, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
»Das glaube ich nicht. Die kommt auch ohne Deckel nicht raus?«, fragte sie mich ziemlich misstrauisch.
Ich nickte weltmännisch überlegen,
»So ist es. Weißt du denn wo die Milch herkommt?« Jetzt nickte sie überzeugend,
»Na von den Kühen...«
»Ja und wo kriegen die Kühe die Milch her?«, fragte ich zurück. Natürlich konnte sie darauf keine plausible Antwort geben, also log ich was das Zeug hielt. »Mit meinem Zaubertrick,
will die Milch dahin zurück, wo sie herkommt«, flunkerte ich ohne rot zu werden.
»Und wohin will die Milch dann mit deinem Zaubertrick?«
»Na wieder zurück auf die Milchstraße«, schwindelte ich weiter und verstrickte mich immer mehr in meinem eigenen Lügengespinst.
»Und wo ist die Milchstraße?«, fragte sie mich langsam Löcher in den Bauch. Bei dieser Frage allerdings, bekam ich zum Glück wieder etwas Luft unter die Flügel.
»Wenn es dunkel wird, was siehst du denn da draußen, wenn du in den Himmel schaust?«, fragte ich sie hinterlistig.
»Na nichts, es ist ja dunkel draußen«, lachte sie erneut. Ihre Logik war einfach umwerfend.
»Es ist ja nicht immer so finster und was siehst du dann?«, bohrte ich unentwegt weiter.
»Dann sieht man die Sterne«, sagte sie.
Ich nickte zur Bestätigung und war auf einmal wieder voll in meinem Fahrwasser.
»Genau, sagte ich, und da oben ist auch die Milchstraße und wie der Name es schon sagt, von da kommt auch die Milch und da will sie natürlich auch wieder hin. Selbstverständlich nur, wenn man den richtigen Zaubertrick kennt. Die Kühe holen sich die Milch jede Nacht von dort oben. Und ich kann es mit meinem Zaubertrick schaffen, dass die Milch auch wieder dahin zurück will«, gab ich vor und grinste verschlagen.
»Das will ich sehen«, meinte sie.
»Also gut, deine Lakritz gegen meinen
Zaubertrick, ist das in Ordnung?«, fragte ich sie. Sie nickte zwar, wenngleich auch noch nicht ganz von meinen Worten überzeugt.
»Und was ist, wenn dein Zauber nicht wirkt?«, fragte sie plötzlich zurück.
Siegessicher warf ich nun großzügig meine zu erwartende, gesamte Lakritz ins Rennen.
»Dann sollst du meine ganze Lakritz bekommen, aber das wird nicht passieren, denn ich habe natürlich recht, wirst sehen. Wetten?« Ich hielt ihr meine Hand hin. Sie schaute mich von unten herauf an und kniff ein Auge zu.
»Schwindelst du mich auch nicht an?«, fragte sie mich in ihrer naiven Art.
»Die Milch fällt auch ohne Deckel nicht aus der Kanne und sie will wieder zurück zu
Milchstraße«, behauptete ich rasch und hoffte damit diese dumme Flunkerei umgangen zu haben. Ich hielt ihr immer noch meine offene Hand hin. Sie legte ihr Patschhändchen in meine Hand,
»Abgemacht«, sagte sie. Unser Pakt war geschlossen und ich freute mich, dass ich sie auf das Glatteis geführt hatte. Immer will sie überall mitmischen, will alles haben, was ich habe. Und weil sie eben "die liebe Kleine" ist, bekommt sie meistens auch alles, was sie will. Nun aber hatte ich endlich einmal genügend Oberwasser und mein Talent sollte nun auch ausreichen, sie zu übertölpeln. Inzwischen waren wir bei Kosches Ladengeschäft angekommen. Über die drei gusseisernen Treppenstufen gelangten wir in den Laden,
während die Glöckchen über der Türe lautstark bimmelten. Frau Kosche schaute uns beide überrascht an,
»Nanu?, sagte sie. Eure Großmutter war doch heute schon bei mir einkaufen gewesen...«
»Großmutter hat heute nur vergessen, einen Liter Milch mitzubringen und den wollen wir jetzt noch nachträglich kaufen«, sagte ich wie selbstverständlich und reichte der freundlichen Frau Kosche die gesprenkelte Milchkanne über den Ladentisch. Dann nahm sie den Deckel von der Kanne ab und legte ihn auf den marmornen Ladentisch. Unterdessen wickelte ich das so kunstvoll gesicherte 50-Pfennig-Stück aus dem Zeitungspapier aus und lies es leise klingelnd in die blinde Mulde der gläsernen Geldablage fallen.
Frau Kosche nahm einen zylindrischen Messbecher aus blankem Metall vom Haken und nachdem sie von einem kleinen Marmorbassin den Deckel entfernt hatte, tauchte sie den Messbecher mit dem langen Griff zweimal in das Bassin und befüllte daraus die alte Milchkanne meiner Großmutter. Danach tat sie den Deckel wieder drauf und reichte mir die Kanne vorsichtig über den Ladentisch zurück. Während sie das Geldstück in ihre Lade legte, sagte sie sehr freundlich,
»So und nun dürft ihr euch jeder natürlich noch ein Stückchen Süßes aussuchen.«
»Bitte von der Lakritz«, sagte ich und meine kleine Schwester strahlte über das ganze Gesicht, wie ein Honig-Kuchen-Pferd. Sie
nickte. Wir langten in das Glas, welches sie uns hinhielt und bedankten uns bei ihr. Dann verließen wir ihren Tante-Emma Laden und gingen langsam den Weg zurück. An der nächsten Straßenbiegung blieben wir stehen. »Und was ist nun mit deiner Milchstraße?«, fragte mich mein Schwesterlein neugierig. Noch hielt sie ihre Lakritz unversehrt in der Hand. Eine Entscheidung reifte heran.
»Also gut, sagte ich. Du hältst jetzt den Deckel von der Kanne fest und ich zeig' dir meinen Zaubertrick.« Ich nahm den Deckel ab und reichte ihn ihr. Da stand sie nun, in einer Hand die Lakritz, in der anderen, den Deckel von der gesprenkelten Milchkanne haltend und starrte mich mit großen Augen an, was nun wohl passieren würde.
Ich stellte die Kanne auf die Erde, hielt aber den beweglichen Henkel der Kanne weiterhin fest und murmelte irgendwas Beschwörendes. Plötzlich rief ich ganz laut,
»Abra Kadabra, dreimal schwarzer Kater!« Mit einem Griff schleuderte ich die alte Milchkanne wie ein Windmühlenflügel an meinem Arm, durch die Luft.
Als die dritte Runde beendet war und ich gerade meinen Sieg zu genießen begann, geschah plötzlich das völlig Unerwartete...
In der vierten Runde gab die rostige Öse an der alten Milchkanne nach und der Henkel samt Öse riss von der Kanne ab...
Urplötzlich endete über mir mit einem Schlag die kontinuierliche Zentrifugalkraft und die Milch ergoss sich über meinen Kopf. Ich stand
da, wie ein im wahrsten Sinne des Wortes, begossener Pudel. Mein Hemd, meine schönen Lederhosen und meine Haare, alles glänzte, als hätte ich wie Kleopatra dereinst in Milch gebadet. Meine Schwester starrte mich nach einer kurzen Schrecksekunde noch einen Moment lang an. Dann sagte sie jedoch seelenruhig,
»Hat nicht geklappt, dein Zaubertrick, deine Lakritz...« Sie hielt ihr Patschhändchen auf und verlangte ihren versprochenen Wetteinsatz.
Ich war richtiggehend sauer und auf dem Heimweg redeten wir kein Wort miteinander. Als wir zuhause ankamen stand Großmutter in der Küche und erkannte mit einem Blick, was geschehen war.
»Der Henkel ist mir abgerissen...«, versuchte ich eine klägliche Ausrede und hielt meiner Großmutter die lädierte Milchkanne hin. Großmutter beugte sich zu mir herunter, fasste mir mit einer Hand unters Kinn und schaute mir dabei fest in die Augen.
»So, so, meinte sie lächelnd. Der Henkel von der Kanne ist dir also abgerissen und davon hast du nun nasse Haare...«
Ich war der Unwahrheit überführt und senkte meinen Blick.
»Er wollte mir nur seinen tollen Zaubertrick zeigen und nun ist die ganze Milch wieder auf der Milchstraße«, lachte meine kleine Schwester und kaute dabei genüsslich grinsend an meiner so leichtfertig verspielten Lakritz...
***
Impressum
Cover: workARTself
Covermotiv: Jörg Noack_pixelio.de
Text: Bleistift
© by Louis 2013/4 Update: 2019/6