Journalismus & Glosse
Kleinigkeiten aus der Großstadt - Nummer 13

0
"Leider wahr"
Veröffentlicht am 19. August 2022, 10 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
© Umschlag Bildmaterial: lynx, "Subway", piqs.de
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Getauft, Geschieden, Geimpft: 3G also, tretet näher, Herrschaften! Was ich so schreibe, ist natürlich erlebt, erlauscht, erlesen und erlogen; von alberich bis böse oder dunkeltrüb, und mit Vorliebe gereimt. Erfreue mich an Musik verschiedener Richtungen, an Literatur und natürlich an Menschlichem wie Situationskomik und liebevolle Reaktionen abseits des jeweiligen Business'. Solange ich die komische Seite der Dinge erkenne, geht's mir gut -- und ...
Leider wahr

Kleinigkeiten aus der Großstadt - Nummer 13

Feierabend, Heimweg bei 34 Grad. Auf dem U-Bahnsteig geht direkt vor mir ein junger Mann mit großer Tasche; von der Erscheinung her ganz klar ein Obdach-loser, ein flaschensammelnder Stinker. Plötzlich springt der Bursche gewandt ins Gleis. Da will er wohl etwas auf-heben? Nein, er legt sich exakt zwischen die Schienen, da fährt auch schon die Bahn ein, ich und alle anderen signali-sieren dem Fahrer „Halt!“, doch der hat keine Chance, und ich sehe, wie der Mann unter dem Zug verschwindet. Während eine Frau anhaltend zu schreien beginnt, drehe ich mich zum Ausgang und überlege, wie ich nun nach Hause

komme. Beginne zu fluchen, so ein Mistkerl, und der tut das natürlich im Berufsverkehr. Die armen Schweine, die das dokumentieren und wegräumen müs-sen. Der arme Fahrer, der nun vielleicht eine Behandlung benötigt. Schon an der Treppe kommt mir der erste Polizist entgegen, sie haben wohl ein gutes Alarmsystem. Bald darauf er-scheinen Rettungswagen, während ich langsam meine zehn Stück Obstkuchen durch den glühenden Abend zum näch-sten Bahnhof trage. Ich fühle mich nicht geschockt, eher sauer. Später habe ich nur manchmal bei einfahrenden Zügen oder Straßenbahnen die Vorstellung, ich

würde springen; wie fühlte sich das an? Na ja, nicht nur meine Arthrose würde mich davor bewahren. „Wegen eines Notarzteinsatzes derzeit kein Zugverkehr“, das hört man gar nicht selten. Vielleicht gibt es eine Art hämi-schen Trotz gegen die Gesellschaft, zu der man nicht mehr gehört? Drum klaubt man sich auf dem Bahnsteig gelassen die Läuse aus Hemd und Schuh und uriniert in Bahnhofsecken und Fahrstühle – ob-wohl es zum Park nur zwei Minuten wä-ren. Legt benutzte Spritzen in Parks und Treppenhäuser, gut für Kinder erreichbar. Oder schlummert in einer Pfütze Eigen-urin im Waggon, und das Bahnpersonal

wirft uns allen schon von weitem unter-lassene Hilfleistung vor. Nachdem ich einem Bettler nichts gege-ben hatte, drehte der sich um und brummte laut „Arschloch“. Noch Fragen? Einer von uns arbeitet 40 Jahre fünf Tage acht Stunden und zahlt nebenbei Sozial-hilfe und Kassenbeiträge für den an-deren. In meiner früheren Heimat gab es auch Ausgestiegene. Wir hatten damals im Haus ein Alkoholikerpaar, in dessen WC sämtliches Porzellan zerschlagen war und das immer mal auf dem Hof lärmte. Auf der Straße, unter Brücken lag aber

niemand. Ich weiß nicht, ob das damals nicht besser für alle war. Wir boten an-dererseits auch keinen Markt für Heroin und diese vielen feinen Dinge. (Stech-apfel? Gabs das wirklich?)

DANach

Ich komme nach Hause, da berichtet einer im Radio von seiner Arbeit, im Internet Kindesmißbrauch aufzudecken. Zum Beispiel gibt es Filme, wo Säug-linge gequält werden ... Die Moderatorin bemüht sich um psychologische Klassi-fikation. Alles normal. So ist das Leben. Am nächsten Morgen gehe ich kurz ein-kaufen, da verläßt vor mir ein länglicher Lieferwagen das Hospiz in meiner Nähe. So einer mit Platz für zwei dieser Holz-kisten, die uns alle einmal erwarten. Alles normal. So ist das

Leben. Das Leben ist so. Kopf hoch. © 2022 Brubeckfan

0

Hörbuch

Über den Autor

Brubeckfan
Getauft, Geschieden, Geimpft: 3G also, tretet näher, Herrschaften! Was ich so schreibe, ist natürlich erlebt, erlauscht, erlesen und erlogen; von alberich bis böse oder dunkeltrüb, und mit Vorliebe gereimt. Erfreue mich an Musik verschiedener Richtungen, an Literatur und natürlich an Menschlichem wie Situationskomik und liebevolle Reaktionen abseits des jeweiligen Business'. Solange ich die komische Seite der Dinge erkenne, geht's mir gut -- und das ist allermeistens.

Leser-Statistik
14

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
HarryAltona Das kann man doch nachvollziehen. Wenn man so allein unter Millionen lebt, da wird jede Störung der Routine zum persönlichen Angriff. "Denken diese beknackten Springer denn gar nicht an das arbeitende Volk?" Diese Frage hab ich schon zu oft gehört.
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan Ach mein Harry, inzwischen glaube ich, sie denken wirklich. Wenn schon al Fine, dann mit Stinkefinger.
Und die Routine des Arbeitswegs wird durch zahlreiche technische Pannen gestört, also ist man sowieso Flexibilität gewöhnt. Egal, ob gerade die Gelenke protestieren.
Thema Selbstschutz: Lieber doch ärgern als ewig davon träumen, was vom Manne übrigblieb.
Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Lieber Gerd,
irgendwie schwanke ich noch in meiner Meinung zu deiner Großstadt-Kleinigkeit.
Geht uns langsam jegliches Mitgefühl verloren?
Wenn man Suizid begehen möchte, sollte man doch fremde Mitmenschen unbeteiligt lassen. Andererseits gehört wohl schon sehr sehr viel Elend dazu, wenn man sich mitten in Berlin auf die Gleise legt.
Ich habe vor 35 jahren einen Mann dabei beobachtet, als er aus dem zehnten Stock gesprungen ist. Irgendwie bin ich auf den noch heute sauer, weil ich das Geräusch bis heute im Ohr habe.
Und dann wären da ja auch noch die zehn Stück Obstkuchen ...
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan ;-) Der Obstkuchen kam unversehrt in den Gefrierschrank, nachdem mich meine knirschenden Beine mehrere Treppen hoch und runter und ein paar Wege weit getragen hatten.
Puhh, ein Grusel bleibt hängen, nicht wahr. Und man möchte sich gar nicht vorstellen, was die vielen Kriegsflüchtlinge mit sich herumtragen, die in aller Welt ständig "produziert" werden.
Vielen Dank, liebe Sabine, und viele Grüße!
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Darkjuls Gerd, krieg Dich mal wieder ein. Ich kann gar nicht glauben, wenn Du schreibst, was die Kriegsflüchtlinge alles mit sich herumtragen. Da geht es ums nackte überleben. Die sind tagelang unterwegs. Du musst ja wirklich sehr genervt sein von Deinen Mitmenschen. Ich bin sehr verblüfft darüber, was Du hier schreibst. LG Marina
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan kurz nochmal deutlich: Hier ging es um Sabines und meine Verletzung, und was erst Überlebende eines Krieges aushalten müssen.

Wer von uns durfte also hier verblüfft sein?
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan die unvollstellbare Steigerung des hier erwähnten Grusels. Du mußt mich nicht belehren. Bin schon groß.
Vor langer Zeit - Antworten
Darkjuls Da habe ich das völlig falsch verstanden, entschuldige Gerd. Liebe Grüße Marina
Vor langer Zeit - Antworten
Darkjuls Das ist eine traurige Geschichte, die mich wütend macht, lieber Gerd. Der Typ, den Du beschreibst, würde auch bei minus 20 Grad kein Mitgefühl haben, höchstens für sich selbst. Es wird Zeit, dass wir wieder Mitmenschlichkeit leben und nicht nur voneiander genervt sind. Liebe Grüße Marina
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan Liebe Marina, ich verstehe Dich so, daß Du mein "Ich" meinst.
Nun ja, wenn Du während einer halben Stunde Bahnfahrt von drei Männern im arbeitsfähigen Alter angebettelt wirst, dann darfst Du ein wenig genervt sein, ja? Auch Gutmenschen müssen für das beschriebene asoziale Fehlverhalten dieser Männer (ja, fast ausschließlich Männer) keine Toleranz aufbringen, für Mitgefühl gibt es viele andere Gelegenheiten. Wo bleibt denn deren Mitgefühl für mich?
Und wir leben ja nicht in New York oder New Delhi - Muß hier wirklich jemand so sehr degenerieren?
Tut mir leid, hier ist wirklich "Ich"=Ich.
Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
19
0
Senden

169447
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung