Kurzgeschichte
Altes Leben. Neues Leben - Jurybeitrag SP 98

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"Altes Leben. Neues Leben - Jurybeitrag SP 98"
Veröffentlicht am 20. Mai 2022, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Altes Leben. Neues Leben - Jurybeitrag SP 98

Altes Leben. Neues Leben - Jurybeitrag SP 98

Altes Leben. Neues Leben.

Corina atmete durch: Heute, auf den Tag genau sind es zehn Jahre, die sie hier ist. Der Anfang war gefahrvoll und anstrengend gewesen.

Damals, mit 17, war sie rüber gekommen. Schwanger. Ohne Bernhard. Die Flucht war ihm zu gefährlich. Er blieb. Er wollte, dass sie auch blieb. Doch sie floh.

In West-Berlin bekam sie ihr Kind. Ein Mädchen. Corina gab ihr den Namen ihrer Mutter: Birgit. Dann bekam sie einen Platz in einer betreuten

Wohngemeinschaft für junge Mütter. Einer der dortigen Sozialarbeiter war Daniel. Zwischen den Beiden hatte es sofort gefunkt. Die beiden waren zusammen gezogen, Corina hatte ihre Ausbildung als Erzieherin beendet und wurde ein zweites Mal schwanger. Die beiden beschlossen zu heiraten.

Heute Vormittag, am 11. November 1989, hatten sie sich das Ja-Wort gegeben. Anschließend hatten sie mit ihren Freunden in ihrer Weddinger Wohnung gefeiert; es hatte Kaffee, Schampus und ein paar belegten Schrippen gegeben.

Jetzt stand Corina mit ihrem dicken Bauch an der Spüle und wusch ab, während Daniel mit ihrer Tochter das `Aufräumspiel` spielte. Später wollten sie mit Daniels Eltern noch essen gehen. Die Eltern von Corina waren leider nicht dabei, da sie Republikflüchtling war; ihre Eltern durften nicht kommen.

Das Baby in ihr bewegte sich. Sie streichelte über ihren Bauch. Diesmal würde es ein Junge werden, hatte die Ärztin gesagt. Er würde Mark heißen. Corina atmete zufrieden aus: Sie war angekommen! So ein Leben hatte sie sich immer gewünscht.

Manchmal dachte sie noch zurück: An ihr Leben mit Bernhard, an die DDR. Dort brach gerade alles zusammen. Irgendwas musste bald passieren. Da war sie sicher. Die Nachrichten überschlugen sich. Corina hatte nur Angst um ihre Eltern. Hoffentlich passierte ihnen nichts.

Da klingelt das Telefon. Corina trocknete ihre Hände und hob ab: „Ja?“

„Ich bin es, Corina ... Ich bin drüben … Die Mauer ist offen.“

„Bernhard?“

„Ja,… wie geht es unserem Kind? Ich hab deine Nummer aus dem Telefonbuch. Ich komm zu Euch!“

„Mama, Mama!“ Birgit kam schmollend

in die Küche. „Daniel will mir kein mehr Eis geben, weil wir gleich essen gehen, sagt er. Ich will aber ein Eis!“

Wortlos schaute Corina ihre Tochter an.

Bernhard war drüben!

Instinktiv drückte sie Birgit an sich.

Sofort war alles wieder da: Die Angst, die Starre, die Enge ihres früheren Lebens. Sie war wieder 17. Ein Teenie, der mehr vom Leben wollte. Warum nur war Bernhard damals nicht mit ihr geflohen? Gemeinsam hätten sie sich etwas Neues aufbauen können. Stattdessen war er dort geblieben.

Birgit zappelte in ihren Armen. Erschrocken ließ Corina sie los. „Mama, was is`n?“ Irritiert sah sie zu ihrer Mutter hoch. Langsam schüttelte Corina den Kopf. Ohne ein weiteres Wort legte sie den Hörer auf die Gabel, strich ihrer Tochter über die Haare und sagte: „Da hat sich jemand verwählt, mein Schatz! Geh wieder zurück zu Daniel. Ich komme gleich nach.“

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PuckPucks

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FLEURdelaCOEUR 
Liebe Judith,
ich kenne auch viele, die wie Corina gegangen sind, bin selbst aber geblieben, wie die Mehrheit. Nie hätte ich meine Familie im Stich lassen wollen. Trotz der Reiseeinschränkungen empfand ich mein Leben auch nicht als angstvoll, starr und eng. Man kann nicht pauschal urteilen, jeder muss nach seiner Überzeugung entscheiden und damit leben können. Es ist traurig, wie viele Beziehungen dadurch auseinander gegangen sind.

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Da hast du recht, liebe fleur. Ich kenne auch einige, die ihr Leben in der DDR überhaupt nicht angstvoll, starr und eng erlebt haben. Eher mit dem Leben nach der Wende nicht gut zurecht kamen; und z.T. noch immer nicht zurecht kommen.
Informationen und Zuhören sind meines Erachtens ein Schlüssel, um wieder zusammen zu wachsen.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Wahnsinn, das geht unter die Haut, liebe Judith.
Fast nüchtzern erzählst du zunächst die Fakten, sicher gab es früher im geteilten Berlin viele ähnliche Situationen.
Corina war mutig, entschlossen, es muss ihr schwer gefallen sein.
Und nun muss sie erneut eine Entscheidung fällen. Eigentlich steht diese aber gar nicht zur Diskussion.

Eine bittersüße Erinnerungsgeschichte. Sehr gut.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Meine arabische Freundin hat mir mal erklärt: Männer sind der Kopf der Menschheit. Und wir Frauen sind der Hals, der den Kopf dreht ;o)
Ich glaube, das Entscheidungen, wie die von Corina, Frauen eher kennen als Männer. Da wird die große Polititk vornehmlich von Männern gemacht, aber die Kinder austragen, hüten, erziehen, ihrem Leben eine Richtung geben...das ist die Macht der Frauen.
Nachdenkliche Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Feedre Wahnsinn deine Story....bin überzeugt, sie ist so, oder ähnlich oft passiert.
Aber bitter bleibt es trotzdem, vor allem wenn man weiter denkt...
Kopfkino......
lieben Gruß von mir
Feedre
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Ja, liebe Feedre, es sind wir Frauen, die das Rad des Lebens in Schwung halten, auch wenn`s manchmal bitter ist.
Ich schicke dir Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Eine Gänsehautgeschichte, liebe Judith.
Die Entscheidungen damals und auch die danach waren sehr vielschichtig und oft kompliziert. Ich kann mich auch noch gut an einige aus meinem Bekannten-und Freundeskreis erinnern. Niemand wusste damals wohl so recht, was richtig oder falsch war. Entscheidend war wohl vor allem der Mut.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Ja, liebe Sabine, Mut ist in der Tat eine großartige Ressource um durch sein Leben zu kommen und seine Wünsche blühen zu sehen.
Lieber Gruß
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Altes Leben. Neues Leben..."
Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist das die transformierte Form
einer Geschichte von Dir, liebe Judith, nur halt eben zusammengefasst
und auf den Punkt gebracht... ...smile*
Ich möchte nicht wissen, wie viele solcher und ähnlicher Schicksale
es damals im geteilten Berlin gab. Und nicht nur dort...
Letztlich haben dies die Deutschen diesem größenwahnsinnigen Welteroberer
und dessen faschistischen NS-System zu verdanken.
Bei dem Gedanken daran, kann einem Angst und Bange werden,
was dieser neue Faschist des 21. Jahrhunderts aus Russland vorhat...
Dennoch, gerne gelesen, liebe Judith... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Ja, lieber Louis, so ist das mit den Erinnerungen: Sie schnurkeln auf ein handliches Maß zusammen, werden komprimierter. So auch mein Berliner Mauerschicksal.
Den Anruf hat es übrigens wirklich gegeben; nur war es nicht der Vater meiner Kinder ;o)
Lachende Grüße
Judith Tschoepe
Vor langer Zeit - Antworten
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