Kurzgeschichte
Wunder der Geburt

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"Was ist, wenn nichts ist? Auseinandersetzungen mit einem Tabu-Thema..."
Veröffentlicht am 11. August 2017, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Schreiben begleitet mich seit ich es gelernt habe. Mein erstes Tagebuch bekam ich mit 8 Jahren und kritzelte es mit Begeisterung voll! Egal, wo ich war, ohne Stift und Notizbuch ging es nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. In meinen Geschichten schaue ich gerne hinter die Fassaden. Mich interessiert es, was die Menschen tief in ihrem Inneren bewegt! Das versuche ich zu Papier zu bringen.
Was ist, wenn nichts ist? Auseinandersetzungen mit einem Tabu-Thema...

Wunder der Geburt

Müde öffnete Luise ihre Augen. Das Bündel an ihrer Seite schlief noch fest, sie nahm seine regelmäßigen und kräftigen Atemzüge wahr. Wieder einmal hatte sie eine schlaflose Nacht gehabt.

Wieder einmal war sie schlapp und entkräftet erwacht. 

Vor ihr lagen endlose Stunden voller Anstrengung, die sich nicht vermeiden ließen. Vorsichtig darauf bedacht, ihr Kind nicht unnötig zu berühren und es damit aufzuwecken, drehte sich Luise zur Bettkante, richtete sich auf und tappte aus dem Schlafzimmer. Im Bad wusch sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser, um den

Schwindel der Müdigkeit aus ihrem Kopf zu bekommen. Den Blick in den Spiegel wagte sie noch nicht. Sie zog sich Jogginghose und T-Shirt vom Vortag über und schlich leise die Treppe hinab. Kein Mucks war aus dem Schlafzimmer zu hören.

In der Küche angekommen, fiel ihr auf, dass sie zum ersten Mal seit sie aufgewacht war, wieder tief durchatmete.

Verlockend glänzte die silberne Kaffeedose vor ihr. Matthias hatte sich vor dem Weggehen bestimmt noch eine Tasse aufgebrüht. Sollte sie nicht einfach doch? Wenigstens ein paar Stunden einen entspannten Kopf haben, positive Gedanken? Nein, ermahnte sie sich. Der

Schuss kann nach hinten losgehen. Sie stellte sich bildhaft vor, wie das Koffein durch die Muttermilch in den Blutkreislauf ihres Säuglings gelangte und dort heftige Turbulenzen anrichtete. Nein! Nicht, solange ich stille!

Luise seufzte und stellte das verführerische Gefäß in die hinterste Ecke des Küchenschrankes.

Stattdessen nahm sie die in unauffälligem Öko-Grau gehaltene Packung mit der Aufschrift - "Haferschleim- gut für Mutter und Kind" aus dem untersten Regal.


Das Baby hatte ihr die Zeit gestohlen und sie war froh um jede Sekunde, die

sie wieder zurückbekam. Das große Glück, von dem sie geträumt hatte, war nicht eingetreten. Die seelenstarke Verbindung mit dem kleinen Wesen gab es nicht, noch nicht. 

Sie hatte sich alles so einfach vorgestellt: In dem Moment, in welchem man ihr das eigene Kind nach der Geburt in die Arme gelegt hätte, wäre sie in tiefer Dankbarkeit versunken und hätte sich endlich wieder fest verwurzelt gefühlt in ihrem Leben. 

Aber das war nicht eingetreten. 

Statt dessen hatte man sie mit der äußerst befremdlichen Ausführung einer Art Miniaturmensch alleine gelassen, dessen undurchdringliche Gestik und

Mimik ihr kaum einen Hinweis darüber gab, ob es einen Bezug zu ihr hatte. 

24 Stunden am Tag war sie damit beschäftigt, herauszufinden, was dieses Wesen liebte und brauchte. 

Die gewohnte Bestätigung bekam sie nicht und all ihr Tun und Wirken schien in einem unstrukturierten Dunst an Selbstverständlichkeiten zu verblassen. Sie suchte, hoffte und ersehnte einen bedeutungsvollen Augenaufschlag ihres Babys, einen besonderen, auf sie gemünzten Laut, irgendetwas, was sie im entferntesten an menschliche Kommunikation erinnerte. Die Hebamme sagte ihr, dass dies nur eine Frage der Zeit sei, sie solle geduldig sein.

Aber während sie auf das erste „Engelslächeln“ auf den Gesichtszügen ihres Kindes wartete, zerfiel ihr Menschenbild zunehmend. Die Enttäuschung hatte ihr urplötzlich und unangekündigt den Boden unter den Füßen weggerissen. Stattdessen erschien am fernen Horizont ihrer Lebenswirklichkeit das Bild der Sinnlosigkeit.

Ihr ganzes Leben lang war Luise davon überzeugt gewesen, dass die sichtbare Liebe, die sie kannte, dem Menschen in die Wiege gelegt sei. Sie hatte fest daran geglaubt, dass jeder Mensch im Grunde seines Herzens einem Gegenüber zugewandt sei. Und dass der Ursprung

dieser segensreichen Kontaktfähigkeit in seiner allerersten Beziehung liege: In der natürlichen Hinwendung des Säuglings zur Mutter. 

Nun aber wurde sie eines Besseren belehrt. Sie hatte ein gesundes, kräftiges Kind zur Welt gebracht, dessen Hauptanliegen im Leben nicht war, dem anderen seine Liebesfähigkeit zu beweisen. Vielmehr verdeutlichte es von Geburt an, dass es hier war, um Raum einzunehmen. Etwas, was ihr selbst derzeit nicht zugestanden wurde.

Das Kind forderte nicht mit der glasklaren Härte eines Vorgesetzten, nicht mit dominantem, einschüchterndem Verhalten. 

Nein. 

Viel schlimmer. 

Es stellte seine Bedingungen über dieses immense Maß seiner Hilflosigkeit. Und die grausame Konsequenz - sollte man sich nicht darauf einstellen, sollte man die Hinweise des kleinen Erdenneulings übersehen - verfolgte Luise seither wie ein überdimensionales, furchteinflößendes Gespenst: 

Die Konsequenz war, dass das kleine Wesen, vor nicht mehr als zehn Tagen geboren, eines Tages tot in seinem Bettchen liegen könnte.

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Hörbuch

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RachelWonder
Das Schreiben begleitet mich seit ich es gelernt habe. Mein erstes Tagebuch bekam ich mit 8 Jahren und kritzelte es mit Begeisterung voll! Egal, wo ich war, ohne Stift und Notizbuch ging es nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. In meinen Geschichten schaue ich gerne hinter die Fassaden. Mich interessiert es, was die Menschen tief in ihrem Inneren bewegt! Das versuche ich zu Papier zu bringen.

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Memory 
Warum Tabu-Thema? Nicht alles im Leben verläuft wie im Bilderbuch.
Wochenbettdepressionen sind gar nicht selten.
Du hast das Thema schnörkellos beschrieben, das gefällt mir.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
AtorianMT Eine wunderbare Beschreibung eines ersten Kommunikationsversuches mit einem neuen Leben. Ich mag deine kurze, doch wirklich lebendige Schreibweise.

Liebe Grüsse
AtorianMT
Vor langer Zeit - Antworten
HansJoachim Pragmatisch die Begegnung des natürlichsten Vorgangs in der Natur beschrieben.So habe ich es verstanden.
Aber sehr gut in Worte umgesetzt.Darum einen Favo.. von mir.
lg hj
Vor langer Zeit - Antworten
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