Hotel "Mama"
Seit Jahren lebe ich im Hotel "Mama". Der Service ist gut und lässt kaum Wünsche offen. Gleich früh, so dass sie noch den Morgentau der Gräser an ihren Waden spürt, huscht meine Mutter zur Wäscheleine und hängt meine Sachen auf.
Auf dem Rückweg ins Haus stolpert sie über die Vulkanlandschaft meiner Schuhe im Flur, die sich dort vor dem Schuhschrank stapeln.
Währenddessen, durch den Krach wach geworden, werfe ich einen qualvollen Blick auf die Wanduhr neben dem Kalender unter der alten Deckentäfe-lung. Da fällt mir ein, dass meine Mutter morgen Geburtstag hat und ich noch Blumen kaufen muss. Bares ist knapp und anpumpen will ich meine alte Dame diesmal nicht, das wäre vielleicht doch unseriös. Mein letztes Geld hebe ich mir für das Tätowieren auf. Da wird Mutter aber Augen machen, wenn sie den Totenkopf an meinem Oberarm erst zu
Gesicht bekommt.
Ach, ich kann die Blumen aus dem Supermarkt mit der Chipkarte bezahlen, denke ich und schlendere in die Küche direkt an den Tresen.
Als wäre es eine Rezeption, gebe ich die Bestellung für mein Frühstück auf. Meine Mutter nickt nur und macht sich
an die Arbeit, den Tisch zu decken. Ich verschwinde in der Zeit noch schnell auf die Toilette. "Mutsch, der Toiletten-papierhalter ist leer!", hört sie mich verzweifelt rufen. Ihre Hand steckt eine Rolle Toilettenpapier durch die Tür. Hungrig schlürfe ich wieder in die Küche und nasche unerlaubter Weise schon einmal von den aufgebackenen Brötchen. Natürlich erwischt mich meine Mutter in flagranti.
Sie meint entnervt: "In der Zeitung sind Wohnungen inseriert, bitte schau dich endlich um, das Hotel "Mama" schließt und ich habe bereits einen Käufer für das Haus."
Verblüfft schaue ich sie an. "Wo willst du denn dann leben?", frage ich nach. "Das ist jetzt kein Geheimnis mehr.
Ich gehe ins betreute Wohnen, mach dir mal um mich keine Sorgen!" Gegenüber sitzt sie, die Ruhe selbst, während mir tausend Fragen durch den Kopf rasen. Wer soll das bezahlen? Wo soll ich hin?
Wer kümmert sich um mich? Meine alte Dame sieht die Bestürzung in meinen Augen und fragt sich still, was sie nur falsch gemacht hat? Doch ab jetzt will sie meine Bequemlichkeit auf keinen Fall mehr unterstützen. Traurig sage ich zu ihr: "Du wirst mir fehlen!" Lächelnd gibt sie zur Antwort: "Du kommst mich doch sicher besuchen, mein Junge." Unsere Blicke treffen sich und das letzte Wort darüber scheint gesprochen.