Kurzgeschichte
Wie konnte sie ihn nur vergessen

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"Für Mom"
Veröffentlicht am 27. Februar 2015, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Memory
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Über den Autor:

Meistens bin ich ruhig. Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands. Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann. Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben. Ergänzung: Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste ...
Für Mom

Wie konnte sie ihn nur vergessen

Wie konnte sie ihn nur vergessen? Wie konnte sie ihn nur vergessen? Vincent kann es noch immer nicht verstehen. Er sitzt, wie so oft, in seinem Korb-Schaukelstuhl, im Schatten der riesigen Hibiskusbüsche in seinem - ihrem Garten, schaut auf die blauen Wellen des Meeres und spürt den seichten Wind. Diesen leichten Hauch, der einen nicht frieren lässt, aber trotzdem auf der Haut zu spüren ist, hat sie immer so geliebt. Er weht so nur an wenigen Tagen im Jahr und genau dann haben beide ihn gemeinsam genossen. Das waren die Abende, an denen sie lange eng umschlungen auf der Liege lagen oder aneinander geschmiegt in der Schaukel

saßen. Dieser Wind ließ die Worte immer leicht werden, an solchen Abenden konnten sie besonders vertraut miteinander reden. Schmiedeten oft Pläne für die Zukunft, konnten alles besprechen, verstanden einander auch wortlos. Oft schauten sie Stunden auf das blaue und dann später, wenn die Nacht hereinbrach, dunkelblaue Meer, beobachteten die Schmetterlinge und lauschten dem Plätschern der Wellen. Ein tiefer Seufzer verlässt seine Kehle und er spürt wieder einmal, wie Tränen seine Wangen herab rinnen. Wie konnte sie ihn nur vergessen? Oder bilde er sich das nur ein? Denkt auch sie

an ihre gemeinsame Zeit? Träumt auch sie noch immer von den vielen gemeinsamen Stunden der vertrauten Zweisamkeit? Wird er jemals Gelegenheit haben, zu erfahren, ob sie ihn auch noch liebt? Ewige Liebe hatten sie sich geschworen. Es war an einem dieser Abende, der sich genauso anfühlte, wie der heute.

Zwei Jahre waren sie schon offiziell ein Paar. Seine Mutter, seine Schwester und seine beste Freundin hatten sich endlich damit abgefunden, dass er als Single nicht mehr verfügbar war. Die Anfangszeit seiner Beziehung mit Julie war schwer, sie alle wollten ihn nicht teilen und fast fürchtete er, sie würden ihm das Glück nicht gönnen.

Am schlimmsten war es mit seiner Mutter. Sie war der Meinung, das alleinige Frauen-Aussuchsrecht zu haben und war anfangs überhaupt nicht mit seiner Wahl einverstanden. Seine Julie arbeitet in einem Büro, hatte damals eine eigene Wohnung und ein eigenes Leben, sie war überhaupt nicht das Mauerblümchen, das sich Mutter wünschte. Aber diverse Frauengespräche und einige Abende später, an denen ziemlich viel roter Wein floss, waren sie plötzlich über Nacht die besten Freundinnen geworden und fortan hatte er es schwer, gegen diese geballte Frauenpower anzukommen. Zu den Tränen in seinen Augen schleicht sich ein kleines Lächeln in die Mundwinkel. Seine Julie - wie sehr er sie immer noch liebt.

Die ewige Liebe hatten sie sich geschworen.

Vincent hatte nach einer arbeitsreichen Woche früh Feierabend gemacht. Diese Gelegenheit hat er genutzt, war einkaufen gefahren und in Windes Eile die Terrasse vorbereitet. Nach zwei Stunden war er mit seinem Werk zufrieden. Es war alles aufgeräumt, überall standen blühende, duftende Sträuße, Kerzen in funkelnden Gläsern waren rings um die Terrasse verteilt. Julies Lieblingsmusik klang aus der Box und der Tisch war in einer Mischung aus liebevoller, vornehmer und frecher Dekoration gedeckt. Er hatte sogar gekocht, jedenfalls fast. Den Salat hatte er selbst angerichtet, hatte sogar

geschafft, noch ihr Lieblingsbrot zu backen, nur das Reisgericht ließ er von seiner Mutter vorbereiten. Als sie dann von der Arbeit kam, überraschte er sie schon an der Tür. Die Gelegenheit war perfekt. Nach dem langen Begrüßungskuss hob er sie hoch auf seinen Arm und trug sie nach draußen auf die Terrasse. Dort platzierte er sie zwischen Blumen und Kerzen, strahlte sie an und kniete mit einer Rose in der Hand vor ihr nieder. Mit, vor Aufregung heiserer Stimme, stellt er ihr die Frage der Fragen und war der wohl glücklichste Mann auf der ganzen Welt, als sie seinem Heiratsantrag zustimmte. Sie fiel ihm um den Hals, küsste ihn leidenschaftlich und antwortete mindestens

zwanzig Mal „Ja“. Vincent lehnt sich im Schaukelstuhl zurück und spürt das gleiche Herzklopfen, wie an jenem Abend. Er denkt glücklich zurück an die folgende Nacht. Obwohl sie schon lange als Paar zusammen lebten, war diese Nacht etwas ganz besonderes. Es war die Nacht eines zukünftigen Ehepaares, die Nacht zwischen Verliebten, Vertrauten, Partnern fürs Leben. Sie waren so glücklich…

Und jetzt hat sie ihn einfach so vergessen. Er kann und will sich nicht damit abfinden. Wann und wie ist es passiert? Sie haben es beide nicht bemerkt oder wollte er die Zeichen nicht sehen? War er vor lauter

Liebe blind für die Realität? Wieder spürt er die Tränen, für die er sich schon lange nicht mehr schämt. Jäh wird er aus seinen Gedanken gerissen, ein Auto hupt vor seiner Einfahrt. Ja, zum Glück ist schon wieder Mittwoch. Schnell geht er ins Haus, zieht wie immer am Mittwoch den dunkelblauen Anzug an. Den Anzug, den seine Julie so sehr an ihm liebte.

Noch einen Blick in den Spiegel, dann nimmt er zärtlich den Strauß roter Rosen und verlässt das Haus. Die Fahrt dauert nicht lange und wie immer geht er als erster zu dem schönen flachen Gebäude am Strand. Seine zwei Begleiter bleiben - auch wie immer - noch im Auto, um

ihm ein bisschen Zeit allein zu gewähren. Er spürt dankbar die warme, freundliche Atmosphäre und bleibt einen Moment am Eingang stehen. Noch einmal atmet er tief ein. Dann erst klingelt er - an der Tür der Alzheimerstation des Seniorenheims. Sein Sohn und sein Enkel winken ihm aus dem Auto zu.



© Memory 2015

 

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Über den Autor

Memory
Meistens bin ich ruhig.
Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands.
Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann.
Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben.
Ergänzung:
Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste meinen Mann, meine große Liebe, ziehen lassen. Seit dem steht die Welt still.

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Gast Ich habe es auch noch mal gelesen und an deine Mom gedacht. Aber auch an meine ... Sie hat immer gesagt, die Familienbilder an der Wand sähen nur so aus wie ihre, aber in Wirklichkeit seien das alles fremde und sie sei im falschen Zimmer ...
Liebste Grüße
deine Herbstblume
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Danke dir, du Liebe.
Ja, wir haben oft gemeinsam gelacht, aber im Grunde war es ja sehr traurig.
Donnerstag hat sie Geburtstag. Sie fehlt mir.
Liebsten Nachtgruß
deine Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Ich wars, seufz ...
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Sabine,

und wieder hast du ein so schweres Thema einfühlsam geschildert, es berührt mich sehr. Eingeflochten in eine Liebesgeschichte der besonderen Art, hast du ein allgemein gesellschaftliches Problem sehr persönlich mit großer Empathie gezeichnet. Das geht mitten ins Herz.
Es ist eine traurige Tatsache, dass wir zwar immer älter werden und den Körper weitgehend gesund erhalten können, beim Geisteszustand gelingt das weitaus weniger.
Für Angehörige ist es wohl besonders schwer, damit umzugehen.
Besonders vielleicht auch, weil wir nicht wissen, was die Menschen jenseits ihres Vergessens fühlen.

Liebe Grüße in den Tag.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Liebe Enya,

vielen Dank, dass du diese Geschichte gefunden hast. Sie ist noch aus der Zeit, als ich nur fiktive Geschichten schrieb, aber sie passte später so gut zu der Geschichte meiner Eltern, speziell meiner Mom. Am Donnerstag hätten wir ihren 92. Geburtstag gefeiert ...
Zu dem Thema habe ich viel geschrieben. Ich war durch meine Mom selbst betroffen und ich finde auch, dass das Thema zu wenig Beachtung findet. Das bemerke ich inzwischen auch täglich in meiner Arbeit und finde es sehr traurig.
Trotzdem denke ich nur lächelnd an sie, irgendwie hatte sie viele gute Tage. Mein Dad hatte es viel schwerer. Er war körperlich schwer krank, aber klar bei Verstand. Damit war ihm seine unveränderbare Situation ständig bewusst.
*seufz* Ein Thema, über das es so viel zu sagen gäbe.

Danke dir von Herzen.
Liebe Grüße zu dir
Sabine

Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Wie berührend und einfühlsam, zärtlich, Du erzählst! Das große Vergessen scheint besonders in unserer heutigen Welt sehr verbreitet zu sein. Liebe Grüße Ira
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
So ist es leider. Viele Krankheiten werden "künstlich" verlängert und in Folge tritt auch immer häufiger dieses Krankheitsbild auf.
Lieben Gruß zu dir und vielen Dank
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Wie Rainer schon schrieb. Für die Angehörigen ist es oft schlimmer, als für die Betroffenen selbst. Du hast es wieder mit sehr einfühlsamen Worten beschrieben.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Der Meinung bin ich auch. Der Betroffenen merkt relativ wenig von seinem Leid.
Danke dir, liebe Bärbel und viele Grüße
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList In dieser Geschichte hat eigenes Erleben die Feder geführt. Es ist immer schlimmer für die, die vergessen wurden. Sie bedürfen genauso der Hilfe von nahestehenden Menschen, wenn auch anderer Art, wie der oder die Kranke selbst.
Vor diesem trauirigen Hintergrund ist es eine wunderschöne Liebesgeschichte, liebe Sabine.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
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