Romane & Erzählungen
Die Taube auf dem Dach - Gesamtfassung

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"Angestaubtes - Dichtung und Wahrheit ..."
Veröffentlicht am 30. April 2014, 36 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
© Umschlag Bildmaterial: fleur de la coeur
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Über den Autor:

"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln." Wilhelm Busch Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-) Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen. Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume ...
Angestaubtes - Dichtung und Wahrheit ...

Die Taube auf dem Dach - Gesamtfassung

Porumbel

Der gute Onkel Ludwig mit seinem trockenen Humor und einem schier unerschöpflichen Vorrat an witzigen Sprüchen und Schüttelreimen war in meinem Elternhaus immer ein gern gesehener Gast. Mit dem Spitznamen, den er Andrei Ghidea eines Tages - hinter dessen Rücken - verpasste, hatte er nicht nur den Nagel auf den Kopf getroffen, sondern dem rumänischen Zahnarzt geradezu ein Denkmal gesetzt. Es liegt schon viele Jahre zurück, dass der Zufall die beiden zusammengeführt hatte. Da Dr. Ghidea mit seiner deutschen Ehefrau Lore gerade in dem Moment unverhofft bei uns

auftauchte, als meine Eltern und ich mit Onkel Ludwig und Tante Gunda zum Rosarium aufbrechen wollten, unternahmen wir diesen Ausflug schließlich alle gemeinsam. Während wir zwischen den Rosenbeeten herumspazierten, blieb Dr. Ghidea immer häufiger andächtig stehen und stieß - erst verhalten, dann immer lauter - Rufe des Entzückens aus, wobei sein Gesichtsausdruck sich stark verklärte. Lore tat ein Übriges, um seine Begeisterung zu schüren, indem sie ihn auf besonders bewundernswerte Exemplare hinwies. "Schau her, Porumbel! Ist diese nicht himmlisch?" "Oh ja, meine Liebe! Sie gleicht einem göttlichen Blutstropfen!"

"Der Wunderknabe würde sich auch als Pastor gut machen", stellte Onkel Ludwig halblaut fest und kniff die Augen leicht zusammen. "Aber wie ruft sie ihn immer, ist das sein Vorname?" "Es ist sein Kosename aus der Kindheit. 'Porumbel' heißt auf rumänisch 'Taube', oder in diesem Fall besser 'Täuberich'", erklärte ich. "Na bitte, fehlt nur noch der Ölzweig!" sagte Onkel Ludwig trocken. Tante Gunda drohte ihrem Mann mit dem Finger und zog mich weiter. "Deine Mutter sagt, ein bißchen wunderlich war dein Zahnarzt schon immer. Aber chic sieht er ja aus - so groß und schlank und

brünett ... Sie dagegen - also, das Kostüm ist unmöglich!" urteilte Tante Gunda und verdrehte die Augen. "Du hättest sie voriges Jahr sehen sollen, als wir sie zum Flughafen brachten. Da trug sie aus demselben karierten Stoff noch einen Hut, extra für die Reise genäht, und in der Hand einen Staubwedel aus bunten Federn!" erzählte ich und unterdrückte das Lachen. "Unmöglich! - Aber kommen die denn jedes Jahr hierher?" "Fast jedes. Lores Mutter wohnt hier im Nachbarort", sagte ich. "Und wie hat sie ihn kennen gelernt?" erkundigte sich Tante Gunda. "Im Urlaub am Schwarzen Meer. Er hat sich dort in sie verliebt.

"Und woher kennst du sie?" fragte Tante Gunda weiter. "Ich bin ihm in Bukarest ins Motorrad gelaufen, kurz nach meiner Ankunft. Ich war selber schuld, aber es ist mir nichts passiert. Er gab mir seine Adresse und kam dann mit seiner Frau ins Studentenwohnheim, um nach mir zu sehen." "Na, ihr beiden Lästermäuler", sagte Onkel Ludwig hinter uns, "habt ihr keine Angst, dass dem Herrn Pimpinella die Ohren klingen?" "Pimpinella?" fragten Tante Gunda und ich wie aus einem Mund. Diesen Namen sollte er in unserer Familie nie wieder loswerden. Wunderlich, theatralisch und ein bisschen melancholisch - so musste mein ehemaliger

Beschützer auf Außenstehende wirken, zumindest in dieser für ihn fremden Umgebung. Und Beschützer war er auf jeden Fall während meiner Jahre in Bukarest für mich gewesen. Dieser bemerkenswerte Mann war für mich eine Mischung aus väterlichem Freund und großem Bruder. Er hatte gewissermaßen die Patenschaft über mich übernommen und kümmerte sich in vielerlei Hinsicht um mich. Als Oberarzt an der Klinik für Stomatologie hatte er natürlich Kontakte zu Medizinern und setzte sich dafür ein, dass wir im Krankheitsfall einen guten Arzt bekamen und nicht mit dem oberflächlichen Studentenarzt vorlieb nehmen mussten. Er kümmerte sich

auch um die Zustände im Wohnheim, wo wir DDR-Studentinnen mit Rumäninnen und Wanzen in "gemischten" Zimmern zusammenlebten. Als meine Freundin Betty und ich im zweiten Semester der Wanzenplage überhaupt nicht mehr Herr wurden und uns mit unseren beiden rumänischen Mitbewohnerinnen restlos zerstritten hatten, setzte er bei der Heimleitung durch, dass wir umziehen durften. Ohne ihn hatten wir das nicht erreicht, da die Heimleiterin der Ansicht war, wir Deutschen hätten die Wanzen mitgebracht, denn vor uns hatte sich noch niemand darüber beschwert… Was machte es da schon aus, dass er oft ein bisschen sentimental und wunderlich war? Die Ghideas hatten mich häufig zu sich nach

Hause eingeladen, um "über ein Problem" zu reden. Gemeinsam hatten wir Museen, den Zirkus, die Oper besucht. Nach meiner ersten Berührung mit dem Bolero waren wir auch in Konzerte gegangen.

Bolero

Diese Geschichte mit dem Bolero ereignete sich an einem warmen Juniabend.
Das zweite Semester neigte sich dem Ende zu, und ein paar Tage später würden die anstrengenden Prüfungen hinter uns liegen. Ich hatte den Tag mit Betty im "Studentenbad" am Lacul tei verbracht. Im Schatten einer der mächtigen Linden, denen der See am Stadtrand von Bukarest offenbar seinen Namen verdankt, hatten wir unsere Bücher und Kladden ausgebreitet, ein wenig mit ein paar rumänischen Geologiestudenten geflirtet und den Vorgeschmack auf das Sommerlager am Schwarzen Meer ausgekostet.

Am Abend, nachdem wir im Wohnheim bei zunehmender Heiterkeit geduscht und uns die Haare gewaschen hatten, gingen wir aus. Betty war am Kino verabredet, und ich besuchte die Ghideas. Trotz unseres schattigen Lagerplatzes hatten wir ordentlich Farbe bekommen, und Bettys Sommersprossen leuchteten fast so dunkelbraun wie ihre Augen. Sie sah einfach umwerfend aus in ihrem engen weißen Rock und der gelben Bluse. Ich trug ein Trägerkleid mit straffem Gürtel und weitem Rock. Das türkis und orange gemusterte Leinen lag angenehm kühl auf der Haut. Wir fühlten uns richtig toll, als wir ausgelassen die Calea Victoriei - die Siegesstraße -

entlangspazierten. Am Kino trennten wir uns, und ich brauchte nur noch durch einen kleinen Park zu gehen. Die Luft war samtig und voller Blütenduft, und plötzlich ertönte eine getragene und dennoch aufreizende Melodie, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Wie betäubt lief ich an Rosenbeeten und blühenden Jasminbüschen entlang, erfüllt von einem unbestimmten Glücksgefühl. Noch bevor ich das Haus der Ghideas erreicht hatte, wurde irgendwo ein Fenster zugeschlagen und die Musik brach unvermittelt ab. Es war schon reichlich spät, als die Hausangestellte Doina mir die Tür öffnete, und dennoch hatte ich das Gefühl, zu früh zu

kommen, in der Küche machte sich Pimpinellas Mutter Viorica zu schaffen. Für einen Moment richtete sie ihre glänzenden schwarzen Augen auf mich und nickte mir freundlich zu, um sich danach wieder mit grämlicher Miene ihrem Salat zuzuwenden. Die alte Frau im grellgeblümten Hausmantel mit der unvermeidlichen Zigarette im Mundwinkel wirkte in ihrer grotesken Aufmachung wie das Zerrbild eines alternden Bühnenstars. Das fuchsrot gefärbte Haar, jetzt handbreit schlohweiß nachgewachsen, baumelte ihr in losen Strähnen auf die mageren Schultern. Ihr Lippenstift war verschmiert und der knallrote Lack von den Fingernägeln zum Teil wieder abgeplatzt. Diese traurigen Reste verschlissener Eleganz

machten überdeutlich, dass die Witwe Viorica Ghidea einst sehr viel bessere Zeiten erlebt hatte und eigentlich nichts mehr vom Leben erwartete. Dennoch gelang es ihr - allein durch ihre Gegenwart - spielend, ihrer Schwiegertochter Lore das im fremden Land ohnehin nicht leichte Leben schwer zu machen. Während Doina im Speisezimmer das Abendessen auftrug, mühte sich Lore an einer Ecke des Tisches ziemlich erfolglos damit ab, den widerstrebenden Constantin mit Möhrenbrei zu füttern. Die ständigen Ratschläge und Belehrungen ihres Ehemannes hatten sie schon beträchtlich entnervt, so dass sie meine Ankunft als

willkommene Unterbrechung empfand und mich herzlich begrüßte. Gleichzeitig wurde ihr offenbar klar, dass sie wieder einmal das allabendliche Geduldspiel gegen ihren anderthalbjährigen Sohn verloren hatte. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich leichter Unmut. Es stand außer Zweifel, dass dieser blauäugige, blonde Knirps, der Lore wie aus dem Gesicht geschnitten war, die Familie wie ein kleiner Teufel beherrschte, indem er Vater, Mutter. Großmutter und Hausmädchen erbarmungslos gegeneinander ausspielte. Nun, als er seinen Brei nicht mehr essen musste, quietschte er ausgelassen und ließ sich willig zu Bett bringen. Pimpinella schenkte mir zur Begrüßung ein

strahlendes Lächeln und einen Kuss auf die Wange. Dann schob er mich in die Mitte des Zimmers und musterte mich durch seine langen, gebogenen Wimpern, die seinen Blick melancholisch verschleierten. "Was für ein herrliches Kleid!" rief er entzückt, "wie schön du bist heute Abend!" Seine braunen Augen begannen, feucht zu glitzern. "Ein einfaches Kleid aus dem Kaufhaus, nichts Besonderes", sagte ich, verlegen über seinen Gefühlsüberschwang. "Aber es steht dir phantastisch", steigerte er sich in seine Begeisterung, "Lore, sieh nur. diese Taille! Und die Farben! So etwas solltest du auch tragen - nicht so, wie du immer herumläufst!"

Wie konnte er nur in meiner Gegenwart so mit ihr reden! Aber im Grunde hatte er recht, die schlanke, zierliche Lore kleidete sich absolut geschmacklos. Dennoch tat sie mir leid, obwohl sie die Situation sehr gut meisterte. "Porumbel hat recht, Reni. Schönheit wird nicht am Preis gemessen. Dieses einfache Kleidchen bringt deine schmale Taille und die Sonnenbräune perfekt zur Geltung. Dennoch scheint mir heute Abend noch etwas ganz anderes in dir zu stecken - oder vielmehr aus dir herauszuleuchten und dich von innen heraus schön zu machen", sagte sie lächelnd, als wir bei Tisch saßen. "Lore meint, du siehst glücklich aus", sagte

Viorica auf Deutsch mit dem Akzent der Siebenbürger Schwaben und prostete mir zu. "Ja, das bin ich auch", gab ich erstaunt zu und erzählte, wie mich zu all meiner Vorfreude auf die Semesterferien die Musik im Park berauscht und beflügelt hatte. Pimpinella schaltete mit einem bedeutungsvollen Blick zu Lore den Plattenspieler ein, und der Raum war plötzlich erfüllt von betörenden, wehmütig-monotonen Klängen. "Genau das war es!" sagte ich frappiert, "es kam also von hier?" "Es ist der Bolero von Maurice Ravel", erklärte Pimpinella. "Und ich glaubte, es sei die Liebe!" rief

Viorica und schwang ihr Weinglas in der Hand. "Reni,wolltest du nicht deinen Freund hereinbringen?" fragte sie mich neugierig und legte mir Kiftele auf den Teller, eine Art Frikadellen mit viel Knoblauch. Freundlich lächelnd schüttelte ich den Kopf und sog die Musik tief in mich ein. "Aber Mutter", sagte Pimpinella vorwurfsvoll und verzog schmerzlich sein Gesicht, „wer kann schon essen beim Bolero!“ "Ich", konterte Viorica, "denn jetzt ist die Zeit zum Essen, und wenn das euch den Appetit stiehlt, dann sollte es ausgestellt sein."


verdacht

"Was ist nun mit deinem Freund?" fragte mich Lore, nachdem Viorica ihrem Sohn zum Rauchen auf den Balkon gefolgt war. "Wir haben uns getrennt", sagte ich. „Nanu, hattet ihr Streit?“ wollte sie wissen. "Nein, überhaupt nicht. Aber Jürgen war irgendwie nicht der Richtige für mich“, antwortete ich zögernd. "Das mit der Trennung kann ich kaum glauben, denn du wirkst so glücklich und verliebt“, bohrte Lore weiter. "Genau genommen bin ich das auch, nur dass er nichts davon weiß und ich mir auch gar nicht allzu viele Hoffnungen mache“, gab ich zu. "Seitdem ich ihn kenne, habe ich

jedoch einen Maßstab, und dem hat Jürgen nicht genügt." "Ich finde, das hört sich ziemlich hochtrabend an. Ja, wenn das mit dem andern nur platonisch ist, hättest du da nicht erst einmal noch alles beim Alten lassen können? Nicht jede kriegt am Ende ihren Traumprinzen“, gab Lore zu bedenken. "Kann sein. Aber ich bin ja erst neunzehn und habe noch Zeit. Wenn ich in den einen verliebt bin, kann ich doch nicht einen andern als Ersatz nehmen, so nach dem Motto: 'Lieber den Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach'", antwortete ich. "Lore, du bist ja noch gar nicht umgezogen", unterbrach uns Pimpinella,

"beeile dich! Reni und ich werden unten auf dich warten". Da die Ghideas in einem Eckhaus mit zwei Eingängen wohnten und sie nichts vereinbart hatten, postierten wir uns getrennt. Nach einer Wartezeit, die mir endlos vorkam, ging ich zu Pimpinella und schlug vor, uns gemeinsam an die Ecke zu stellen. In diesem Augenblick hörten wir Lore im Park ungehalten nach ‚Porumbel’ rufen. Als er sich meldete, kam sie zornig auf uns zu gerannt. Es stellte sich heraus, dass er zwischendurch Zigaretten gekauft und sie dadurch verpasst hatte. Sie aber, plötzlich von rasender Eifersucht gepackt, hatte uns im dunklen Park vermutet, "irgendwo im Gebüsch". Nun langte es mir aber! Wie sie in ihrer

geschmacklosen Aufmachung so dastand, hausbackenes Kleid, Söckchen, unmöglicher Lippenstift - der reinste Nachkriegslook - uns ihre abstrusen Anschuldigungen entgegenschleuderte und dabei selbst in der Erregung nicht vergaß, den Siebenbürger Dialekt nachzuahmen, fand ich sie ausgesprochen lächerlich. Dennoch konnte ich mir dergleichen nicht bieten lassen, drehte mich ruckartig um und ging zurück ins Wohnheim. Sollten sie doch erst einmal selbst miteinander klarkommen, ehe sie mich da mit hineinzogen! Am nächsten Abend standen die beiden strahlend Arm in Arm vor dem Wohnheim und baten mich um Verzeihung. Sie wegen

falscher Verdächtigung, er "aus gegebenem Anlass". Eigentlich habe aber Viorica die Eifersuchtsszene ausgelöst. Da sie durch die offene Balkontür unsere Unterhaltung zwar mitgehört hatte, aber das deutsche Sprichwort vom "Spatz in der Hand" nicht kannte, hatte sie die Taube wörtlich auf ihren Porumbel bezogen und Lore die Hölle heiß gemacht. Wir lachten herzlich, aber im Stillen hat jeder für sich ganz gewiss seine Lehren aus der Angelegenheit gezogen. Obwohl mir die nächste Prüfung im Nacken saß, konnte ich ihre Einladung ins Gartenlokal zu einer Flasche Wein, gewissermaßen zur Versöhnung, nicht abschlagen. Schon bald wehten appetitliche

Düfte vom Grill herüber, denen wir nicht widerstehen konnten. Pimpinella bestellte nicht nach der Speisekarte, sondern führte mich an das gläserne Büffet, wo ich mir mein "persönliches" Grillstück aussuchen sollte. Während er für Lore und sich Hammelkoteletts auswählte, erkundigte ich mich nach einer weißen, geknäuelten Masse. Lores entsetztes Kopfschütteln völlig ignorierend, empfahl er mir diese Speise wärmstens, ohne jedoch ihren Namen zu nennen. "Das waren die 'Eier vom Bock' ", verriet er mir lächelnd, nachdem ich das im Geschmack an Hirn erinnernde Gericht mit Appetit verzehrt hatte, und diesmal sah er

ausgesprochen spitzbübisch unter seinen melancholischen Augenwimpern hervor.

Die Taube auf dem Dach

Die Musiker waren inzwischen von den rumänischen Volksweisen, die so sehnsüchtig wie Zigeunerlieder klangen, zu Tanzmusik übergegangen und Pimpinella hatte eine weitere Flasche Wein bestellt. Immer wieder musterte er mich unter seinen langen Wimpern hervor und fragte schließlich, woher ich die Kleidung hatte, die ich trug – eine ärmellose Kunstseidenbluse mit roten Mohnblumen und einen weißen Leinenrock - er habe sie noch nie an mir gesehen. Ob es bei uns Mädels auch üblich sei, sich untereinander Sachen auszuborgen…. Ich musste lachen, na klar war das üblich. Aber meine Freundin Betty hatte eine Kleidergröße weniger als ich, und

Beate hatte einen viel größeren Busen, so dass wir unsere Sachen nicht untereinander tauschen konnten. Da sagte er lächelnd, mein Busen sei genau richtig und ich müsse auch nicht dünner werden, alles sei so perfekt. Ich war sprachlos und traute mich nicht, Lore anzuschauen. Aus den Augenwinkeln sah ich ihr Gesicht traurig werden. „Heute Vormittag bekam ich ein Päckchen von zu Hause, darin war diese Bluse, die mir meine Tante genäht hat. Und den Rock habe ich mir hier schneidern lassen, das Leinen ist ein Rest Markisenstoff aus dem Kaufhaus. Auch die roten Ballerinas habe ich mir hier aus Ziegenleder anfertigen lassen.“ Um die Situation zu entschärfen, habe ich noch auf witzige Weise von den ungewöhnlich

bürokratischen Umständen erzählt, die der Empfang eines Päckchens aus dem Ausland so mit sich brachte. Aber Lore kannte das ja alles aus eigenem Erleben…. Die Harmonie zwischen den beiden war aus dem Gleichgewicht. Ich erlebte zwar keine offenen Zerwürfnisse mehr mit, aber unter der glatten Oberfläche ihrer Ehe schien es ständig zu kriseln. Während Pimpinella beruflich fest im Sattel saß, hatte Lore in ihrem Beruf als Dolmetscherin keine Chance. Um nicht auf Anhieb als Ausländerin erkannt zu werden, hatte sie sich diesen Dialekt zugelegt, wie ihn die "Volksdeutschen" in Siebenbürgen sprachen. Vor Constantins Geburt hatte sie an

der Abendschule Deutsch unterrichtet, jetzt war sie nach langem Bemühen bei einem deutschsprachigen Verlag untergekommen. Allmählich wurde auch mir klar, dass Lores Schwierigkeiten mit ihrer DDR-Staatsbürgerschaft zusammenhingen. Dass sie die aber nicht aufgeben wollte, verzieh Viorica ihr niemals. Aber auch sonst mischte sich Viorica ständig in die Ehe ihres Sohnes ein, und beschnitt Lore in allen häuslichen Angelegenheiten. Auch nach Vioricas Tod und der Geburt des zweiten Sohnes Marin, der ganz nach dem Vater kam, wurde die Ehe der Ghideas nicht besser. Da ich inzwischen meine Auslandssemester in Bukarest längst

abgeschlossen hatte, sahen wir sie nur anlässlich ihrer Besuche bei Lores Familie in unserm Nachbarort. Obwohl sie sich während ihrer Besuche bei uns - die mit der Zeit immer seltener wurden - niemals stritten, spürte man doch eine traurige Leere zwischen ihnen. Und als Lores Mutter starb, hörten diese Besuche ganz auf, und jeglicher Kontakt zwischen uns riss ab. Einige Jahre später – ich hatte inzwischen eine eigene Familie und wohnte nicht mehr bei meiner Mutter - übergab sie mir einen an mich gerichteten krakeligen, stark verwischten Brief von der alten Doina, den ich nur mit Mühe entziffern konnte. Ich entnahm ihm, dass Pimpinella nicht mehr lebte und Lore mit den

Söhnen in die Bundesrepublik ausgereist war. Dem Brief lag ein Foto bei, das mich in dem türkisfarbenen Trägerkleid zeigte. Doina schrieb, sie habe es in einem seiner Fachbücher gefunden. Auf der Rückseite stand in seiner Handschrift auf Deutsch ‚Reni - die Taube auf dem Dach’.



*Alle Namen und Spitznamen sind geändert*

So oder so ähnlich hat es sich zugetragen und manches auch anders ...



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Über den Autor

FLEURdelaCOEUR
"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln."
Wilhelm Busch

Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-)
Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen.

Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume für mich ausgesucht. Er hat nichts mit der Gestalt aus den Harry-Potter-Büchern Fleur Delacour zu tun.

Inzwischen bin ich im letzten Lebensquartal angelangt, da küsst mich die Muse nur noch selten. ;-(

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baesta Ich bin wieder gerne mit Dir in die vergangenheit "abgetaucht". Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, ist nebensächlich. Du hast alles so lebendig beschrieben, dass man es fast als "Film" vor sich sehen konnte.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Liebe Bärbel,
ich freue mich sehr, dass es dir gefällt und sehe auch diesen Film, wenn ich zurück denke. Habe heute gerade in alten Fotoalben geblättert. Das Foto von mir im türkisfarbenen Trägerkleid wurde 1963 in Constanta aufgenommen, im Hintergrund das Casino. Es ist inzwischen total verblasst. Im Internet habe ich die Söhne des "Porumbel" gefunden, auch "Lore" ... Sie haben alle wieder Fuß gefasst.
Vielen Dank für das reichhaltige Geschenkpaket und lieben Gruß
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Hallo Fleur, diese Geschichten kannte ich noch gar nicht und bin froh, dass ich sie jetzt lesen konnte. Schön und stimmungsvoll erzählt und gar nicht angestaubt!
Danke dafür
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Danke, Angie, es freut mich sehr! Das war in den 60er Jahren und "der kleine Constantin", der natürlich ganz anders heißt, geht auch schon stramm auf die 60 zu ... ;-)
Lieben Gruß
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Fleur,

es spielt gar keine Rolle, ob es sich GENAUSO zugetragen hat. Du hast so herzerfrischend erzählt, dass die Seiten nur so vorübergezogen sind. Die Charaktere leben, kommen authentisch rüber, alles stimmt. Ganz faszinierend, wie du Victoria beschreibst ...

Den Bolero hat mir mal mein Onkel mitgebracht, er versorgte mich mit Platten und Literatur, da meine Mutter sich so etwas kaum leisten konnte. Wie du, war ich damals hin und weg.

Es sind tolle Erinnerungen, die du hier in den Geschichten verpackt hast. Und wie wunderbar, wenn man sie so in Worte fassen kann wie du.
Eine gute Nacht wünsche ich dir - mit angenehmen Träumen.
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Liebe Enya,
ich freue mich sehr, dass du es gelesen hast und so gut bewertest, von Herzen Dank für alles! Natürlich muss ich die Persönlichkeitsrechte seiner Familienangehörigen wahren...
Ja, im Alter schwelgt man zunehmend in Erinnerungen, ansonsten passiert ja nicht mehr viel ;-)
Lieben Nachtgruß
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Liebe Blume,
einzeln kannte ich die Geschichten schon, aber alles noch einmal zusammen gefasst zu lesen, hat mir Spaß gemacht.
Das sind Erinnerungen, die dir keiner nehmen kann.
Liebsten Abendgruß
deine Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Liebste Sabine,
ich freue mich riesig, dass du dir auch das Gesamtwerk noch mal reingezogen hast, DANKE für den großen Geschenkekorb!
Es ist eine meiner Lieblingsstorys, weil sie meine schönsten Jugendjahre widerspiegelt, wenn auch einige Details, sowie alle Namen und Berufsbezeichnungen geändert wurden.
Ganz liebe Abendgrüße,
deine M-Blume
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Die Taube auf dem Dach - Gesamtfassung..."
Ich frage mich, warum ich diese prima aufgeschriebene Geschichte
erst jetzt gelesen habe. Und dabei spielt es auch überhaupt keine Rolle,
ob es denn in allen Details der erlebten Realität entsprach.
Aber dieses Zeitbild ist bei mir gleich auf doppelt fruchtbaren Boden
gefallen. Denn neben dieser gut erzählten Geschichte erging es mir mit Ravels
Bolero ganz ähnlich. Und als ich dann später noch Maja Plissezkaja
in einem französischen Video zu dieser unglaublich phantastischen Musik
Ravels tanzen sah, da war es definitiv um mich geschehen...
Deine dazu passende Geschichte, die hab' ich sehr gerne gelesen... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Danke, lieber Louis,
ganz besonders freue ich mich über die "gut/prima erzählte Geschichte" plus Favo! Und dass du auch ähnliche Erfahrungen mit dem Bolero gemacht hast, finde ich toll! Das gehörte zum realen Teil der Geschichte, wie auch die Charakteristik der Personen ...
Liebe Grüße nach Berlin,
fleur
PS:
Maja Plissetzkaja kenne ich natürlich auch noch von Filmaufnahmen. Sie war grandios, auch in Schwanensee ...
Vor langer Zeit - Antworten
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