Kurzgeschichte
Warum ich keinen Weihnachtsbaum habe?

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"Jeder hat so seine Geschichte"
Veröffentlicht am 13. Dezember 2013, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Frans Hals "Der Laute spielende Narr"
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Über den Autor:

Einst brach ich auf, eine Welt zu erobern! Heut sitz ich in einem Käfig voller Narren! So kam ich zum Entschluss, "Will Hofnarr sein!" Und daran arbeite ich nun, in Berlin, das durch seine einmalige Nähe von Ost und West vielleicht schon einen Gedanken voraus ist. Mag sein, dass dieser Gedanke auch Nord und Süd einander etwas näher bringen kann.
Jeder hat so seine Geschichte

Warum ich keinen Weihnachtsbaum habe?

Es ist gut und gerne zwanzig Jahre her. Ich war zwanzig Jahre jünger, stärker und dickköpfiger als heute.

Damals, wir waren gerade umgezogen. Zurück, aus dem jahrelangen „Exil“ meines Dienstes.

Zurück in meine Heimat, Berlin. Immer, wohl zwanzig Jahre lang, trug ich Berlin in meinem Herzen. Nun ja. Meine Oma lebte noch dort! Genau dort, wo ich aufwuchs. In dem schönen, alten Haus an der Dahme, mit dem riesigen Garten, all den uralten Bäumen, den Kastanien, den Eichen und der wunderschönen Linde am Wasser, an deren unterstem Ast oft eine Schaukel hing, die verkündete, dass es Kinder, Enkel oder Urenkel gab, die im Schaukelalter

waren. Omas Wohnung war riesig. Genug Platz, auch für mich und meine Familie, wenn mich die Sehnsucht übermannte. Also kurz und gut, ich hatte stets einen Koffer in Berlin.

Doch meine Oma war nun achtzig! Sie schaffte es nicht mehr, allein. Einhundertachtzig Quadratmeter, sechs Zimmer! Dazu kam der Garten, wohl an die zweitausend Quadratmeter, der zwar die Freiheit des englischen Gartenbaustils leben durfte, aber Rasenmähen und Laubharken überließ er doch den Menschen. Auch von den vielen guten Freunden meiner Großeltern, mit denen sie schwerste Zeiten, gefährliche Kämpfe überstanden, den größten Sieg ihres

Lebens feierten, und auch nach diesem nicht ruhten, etwas besseres aufzubauen, lebte kaum noch einer. Sie hier zu treffen, wie es jahrzehntelange Tradition war, geschah also auch nur noch in der Erinnerung.

Meine Schwester wollte die Oma zu sich holen. Und Oma wollte zu ihr. Doch meine Schwester lebt im Fläming! Nicht allzu weit von Berlin, aber eben nicht Berlin!

Mein Koffer passte nicht in das Haus meiner Schwester.

Wohin also mit meiner Sehnsucht, wenn sie mich wieder übermannen sollte?

Meinen Dienst hatte ich mit dem

Untergang der DDR quittiert. Es gab eigentlich keinen triftigen Grund mehr für mein „Exil“. Auch meine Frau hab ich in Berlin kennen gelernt. Ja, wir haben sogar in Berlin geheiratet, aus Verbundenheit zu dieser Stadt und aus Verbundenheit zu meinem Großvater, der die Stadt so liebte, in ihr geboren und gestorben war. Nur meinetwillen zog meine Frau damals zu mir, in die Einöde der drei „Weltmeere“. Waldmeer, Sandmeer, Jarnüschtmehr.

Inzwischen hatten wir uns einen florierenden Markthandel aufgebaut. Also, meine Frau hat ihn aufgebaut, als ich noch versuchte, mittels eines postgradualen Studiums, die Eintrittskarte in die Deutsche

Großindustrie zu ergattern. Doch das war Illusion! Hatte ich doch nur an einer Offiziershochschule studiert, und nicht in Heidelberg, Bonn oder Boston. Ich konnte gar nicht geeignet sein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Nun war ich, wie gesagt, noch zwanzig Jahre stärker und dickköpfiger als heute, und so stürzte ich mich in Welt des Markthandels. Doch was in der Einöde funktionierte, sollte auch am Rande Berlins und im Berliner Umland funktionieren!

So zogen wir in die schöne, ein wenig herrschaftliche Wohnung meiner Großeltern. Nun hatte ich ihn wieder, den Garten meiner Kindheit. Und mein Koffer stand, nun leer, auf dem

Dachboden.

Doch dann näherte sich das Weihnachtsfest! Ein Baum musste her! Da fiel mir auf, dass ich in dieser Wohnung niemals, selbst als Kindergartenkind nicht, einen Weihnachtsbaum gesehen habe. Wohl erinnerte ich mich, dass ich den Opa danach fragte. Doch so einfühlsam und klug mir mein Opa die kompliziertesten Dinge dieser Welt auch erklären konnte, so wenig erklärte er mir dies. Es war eben so! Geschenke, ja! Sehr schöne und persönliche Geschenke! Aber einen Weihnachtsbaum? Niemals! Mit dem auch christlichen Charakter dieses Festes konnte es nichts zu tun haben. Wäre sonst Ostern immer so ein

Heidenspaß gewesen? Opa war doch der beste Ostereierverstecker überhaupt! Und der unverdächtigste Tippgeber, wenn die Suche zur Qual zu werden schien, sowieso!

Wieso also kein Weihnachtsbaum? Die Frage ließ mich nicht los!

Ich rief die Oma an. Doch auch sie sprach nur in Andeutungen. Die Armut in ihrer Kindheit, die jüdische Herkunft und überhaupt die Zeit der Illegalität, des Zuchthauses, der Schutzhaft, der Emigration, des ewigen Hin- und Her. Auf meine Einwände, dass der Baum doch nichts mit christlicher Tradition zu tun habe, eher den heidnischen Brauch des Sonnenwendefeuers

ersetze, reagierte sie nicht. Aber irgendetwas sprach zwischen ihren Worten, etwas, das ich noch nicht verstand.

Ich konnte lange nicht einschlafen, in der Nacht nach diesem Telefonat. Was hatte ich gehört, zwischen den Worten?

Am nächsten Morgen, mufflig, unausgeschlafen, natürlich, ich hatte mir gerade meinen Kaffee der Marke Moorlandschaft gebrüht, hielt ich plötzlich inne. Keinen Bissen wollte ich hinunterkriegen. Ich sah Bilder, hörte Stimmen! Mein nächtlicher Traum schien zurückzukommen, wollte in mein Bewusstsein! Ich sah den Opa, als jungen Mann, entlassen aus dem Zuchthaus, seinen Sohn, schon

zweieinhalb, das erste Mal im Arm tragend, ihn der Oma gebend. Und höre ihn sagen, dass er sofort wieder untertauchen müsse, weil er die illegale Gruppe und die kleine Familie nicht gefährden wolle. Und dann überschlagen sich die Bilder, Worte, nein Wortfetzen zwischendurch, wie aus weiter Ferne. Sehe, wie Menschen, Freunde, Kampfgenossen von Gestapo und SS abgeholt werden, noch auf der Straße zusammengeschlagen. Die Großeltern, ich seh sie! Dicht aneinandergeschmiegt, das harmlose Liebespaar mimend, in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite, sich gegenseitig den Mund mit dem Mund verschließend,

aus Liebe zueinander, doch vielmehr um nicht vor Hass, Wut und Angst los zu schreien. Und dann geht mein Blick hinauf, an die großen Altberliner Fenster. Ich sehe Weihnachtsbäume, festlich geschmückt, einige wohl auch mit Hakenkreuzen und Portraits des Führers. Sehe Kinder, die vom Lärm neugierig geworden, an die Fenster rennen und sofort von ihren Eltern zurückgezogen werden. Denn nichts soll die kindliche Seele verletzen, nichts das Fest der Nächstenliebe stören. Ja! Vielleicht war es die Weihnachtsfeier, unverdächtig der üblichen Familienbesuche wegen, die als Tarnung für ein illegales Treffen aufflog, verraten wurde. Was wäre,

wenn sie ein, zwei Minuten eher eingetroffen?

Vielleicht haben die Großeltern die Freunde nie wieder gesehen? Vielleicht wurden sie gar auf der Straße noch erschossen, oder erschlagen wie räudige Hunde? Eingerahmt in ein Bild strahlender Weihnachtsbäume, glücklicher Kinder und untermalt von festlicher Musik, die leise auf die blutige Straße quillt.

Ich schluckte! Ich hatte zwar immer noch keinen Bissen zu mir genommen, keinen Schluck Kaffee, aber ich schluckte, konnte gar nicht mehr aufhören zu schlucken.

Die Bilder ließen mich den ganzen Tag

nicht mehr los. Aber morgen wollte ich doch mit den Söhnen den Baum kaufen gehen. Ich hatte es ihnen versprochen!

Ich druckste herum! Wie konnte ich es ihnen erklären? Sie waren doch erst acht und fünf Jahre alt. Alles Mögliche hab ich erfunden, etwas zu umschreiben, was nicht zu umschreiben war, auf dem Weg zum „Baumparadies“.

Der Große las es dem Kleinen sofort vor: „Baumparadies“. Worauf der fragte: „Was ist das, Paradies, Papa?“ Also erklärte ich beiden, beim Rundgang, der Begutachtung des Wuchses und der Preise, was sich die Menschen darunter vorstellten. Von der Seele, dem Leben, dem Tod und dem

Leben der Seele nach dem Tod. Plötzlich blieb der Kleine stehen, wandte sich ab, und ich sah Tränen über seine Pausbacken rollen. „Watt iss, Kleena?“ hörte ich mich sagen, wobei ich ihm die Tränen trocknete. Auch der Große schien nun irgendwie betroffen. „Papa, wenn das hier das Baumparadies ist, sind das alles tote Bäumchen?“ Als ich bejahte, fragte er, wie lange sie noch zu leben hätten, wären sie nicht abgesägt worden. „Na vielleicht sechzig oder hundert Jahre. Vielleicht mehr! Ich weiß es nicht, so genau!“ antwortete ich besten Gewissens. Nun war er nicht mehr zu halten. Die Tränen schossen in Bächen. Das Gesicht wurde zur wütenden

Maske, die ich nur kannte, wenn er sein Böckchen hatte. Er stampfte auf, und brüllte heraus: „Ich will keine Baumleiche, keine Babybaumleiche!“ Der Große schien erleichtert. Er gewann seinen immerfreundlichen Gesichtsausdruck zurück, nahm seinen Bruder bei der Hand und stürmte mit ihm dem Ausgang des Marktes entgegen. Ich konnte nur noch folgen! Denn eigentlich wollte ich ja, wenn auch aus ganz anderen Motiven, keinen Baum. Der Verkäufer, wohl ein Könner seines Fachs und ein guter Geschäftsmann obendrein, stellte sich uns in den Weg, und fragte: „Na nicht das richtige gefunden? Ist ja auch nicht so einfach, eine Nadel im Heuhaufen zu

finden! Warten Sie! Ich zeige Ihnen die besten und preiswertesten Exemplare!“ Worauf ihn mein Kleiner anschnauzte: „Behalt doch Deine Babybaumleichen!“ und der Große, aus gebührendem Abstand, noch rief: „ Jenau! Du olla Baummörda!“ Ich schaute dem Verkäufer in s Gesicht und zog nur die Schultern hoch, froh, ihm nicht noch meine Begründung geben zu müssen.

Zu Hause angelangt, fragte nun meine Frau nach dem Weihnachtsbaum. Doch ich brauchte nicht zu antworten, ja ich kam gar nicht dazu. Unsere Söhne erklärten ihr, mit sich überschlagenden Stimmen, und sich gegenseitig unterbrechend, was sie herausgefunden, und warum sie

garantiert nie, nie wieder einen Weihnachtsbaum haben wollten. Sie sah abwechselnd zu den beiden, und lächelte mir dann zu. Ich war erleichtert! Nichts musste ich erklären!

 

Einige Jahre später, bei einer Autofahrt, schilderte ich meiner Oma meine Traumbilder, wobei ich tat, als ob ich ihr einen, mich stark berührenden, Film wiedergäbe. Da sah ich Tränen in ihren Augen. (Ich habe sie vorher nur zwei Mal weinen sehen. Ein Mal, als mein Vater, ihr Sohn starb, und das zweite Mal, als mein Opa gestorben ist.) Sofort hielt ich an und fragte, was denn sei. Worauf sie sich die Tränen wischte, und sagte: „Ach nichts! Ich

musste nur gerade an drei gute Freunde und den Opa denken! Lass uns weiter fahren!“

 

Und so habe ich seit gut und gerne zwanzig Jahren keinen Weihnachtsbaum mehr im Haus gehabt. Auch meine Söhne haben keinen Weihnachtsbaum in ihren Wohnungen.

Ich, wohl aus Respekt vor dem Leben meiner Großeltern.

Sie aus Respekt vor dem Leben überhaupt, und wenn es das eines Baumes ist, und sie meine Geschichte inzwischen kennen.

 

           PeKa

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Hörbuch

Über den Autor

pekaberlin
Einst brach ich auf, eine Welt zu erobern! Heut sitz ich in einem Käfig voller Narren! So kam ich zum Entschluss, "Will Hofnarr sein!" Und daran arbeite ich nun, in Berlin, das durch seine einmalige Nähe von Ost und West vielleicht schon einen Gedanken voraus ist. Mag sein, dass dieser Gedanke auch Nord und Süd einander etwas näher bringen kann.

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Schildkroete Auch wir haben schon lange keine Weihnachtsbäume mehr. Sehr nahegehend geschrieben.
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Wer braucht schon Bäume, wenn man solch beeindruckende Erinnerungen sein Eigen nennen kann!
Frohes Fest!
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Beeindruckende und nachdenklich stimmende Zeilen.
Deine Gedanken und die deiner Söhne sind sehr nachvollziehbar.
Liebe Grüße
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Ich hatte vor vielleicht drei Jahren bei Obi noch ein kleines verhutzeltes Bäumchen mit Erdballen für den halben Preis gekauft. Er stand zuerst auf dem Balkon und danach habe ich ihn im Garten ausgepflanzt. Das war mein erster Weihachtsbaum seit Jahren. Habe aber noch einen "Kunstbaum". Der liegt jedoch auf dem Kleiderschrank in einem Karton und wurde schon seit Jahren nicht mehr hervorgeholt.
Habe Deine berührende Geschichte gerne nochmals gelesen.
Trotzdem wünsche ich Dir und Deinen Lieben ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest.
Viele Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Deine Geschichte hat mich auch heute wieder sehr nachdenklich gemacht, lieber Peter. Deine Sichtweise und auch die deiner Söhne kann ich sehr gut verstehen. Doch wenn ich mich an meine Kindheit in den 50er Jahren erinnere, da hatten wir immer einen Weihnachtsbaum. Mein Stiefvater, der rückgekehrte Emigrant und Spanienkämpfer, hat ihn selbst aufgestellt, vielleicht, um nach so vielen schlimmen Jahren des nackten Überlebens wieder ein Stück Normalität in einem leuchtenden Tannenbaum zu finden. Natürlich hat er das in erster Linie für uns, seine neue Familie, gemacht. Aber trotzdem. So unterschiedlich sind eben die Sichtweisen.
Liebe Grüße und ein frohes Weihnachtsfest
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
PenthesiLea "weil nicht sein kann, was nicht sein darf." - sehr gelungen! :)
Vor langer Zeit - Antworten
pekaberlin Danke, für das Urteil!
Seit gestern bin ich übrigens noch gefestigter in der Meinung, dass ein Bundespräsident nichts gehaltvolles sagen kann, weil es wohl nicht sein darf! Da wünscht man sich, dass ein Weizsäcker wieder jung würde.
Liebe Grüße Peter
Vor langer Zeit - Antworten
PenthesiLea War es viel mehr eine politische Gleichung, als mir bewusst war? :O
Ich denke, damit hast du Recht, allerdings bin ich keine besonders gute Ansprechpartnerin für sowas :/
Vor langer Zeit - Antworten
Tintoletto Du hast mich wirklich gefesselt mit Deinen Worten! Eine tolle Botschaft, die Du auf eine ganz besondere Weise 'rüberbringst! Trotz der Traurigkeit, die hinter Deiner Geschichte steckt, mußte ich allerdings doch Schmunzeln: Janüschtmehr;) dat Meer kannte ich noch nich ...
GlG. und ein schönes Weihnachtsfest ! Tinto
(ich habe übrigens seit über 10 Jahren einen künstlichen Baum, er sieht jedes Jahr toll aus, und kein Baum muss dafür sterben)
Vor langer Zeit - Antworten
avewien Deine Geschichte ist genau der richtige Abschluss für meinen heutigen Tag - das nehme ich einfach so mit und lasse es so stehen. Da steckt richtig Menschlichkeit drin, die ich immer mehr vermisse!
Danke für diese Erzählung!

Lieben Gruß
Andreas
Vor langer Zeit - Antworten
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