Journalismus & Glosse
Hauptstadtkorrespondenz, 28. Lieferung - Der Halbmarathon in Berlin

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"Hauptstadtkorrespondenz, 28. Lieferung - Der Halbmarathon in Berlin"
Veröffentlicht am 03. November 2013, 16 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
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Über den Autor:

Cupator ist ein Autor, der vielleicht keiner sein sollte - nicht, weil er sich das Schreiben nicht zutraut, sondern weil er im echten Leben etwas macht, was kaum auf ein Autorendasein hindeutet.
Hauptstadtkorrespondenz, 28. Lieferung - Der Halbmarathon in Berlin

Hauptstadtkorrespondenz, 28. Lieferung - Der Halbmarathon in Berlin

Vorbemerkung

Ja, es gibt sie noch, die Korrespondenten aus der Hauptstadt. Leider, leider, leider - gehöre ich nicht mehr dazu. Seit einer ziemlichen Ewigkeit bin ich zurück im Rheinland, meine Erinnerungen an meine Berliner Zeit habe ich aufgeschrieben, neue kommen so schnell nicht dazu. Aber drei Lieferungen habe ich noch, hier ist eine davon. Viel Spaß damit!

Sage noch mal ein Kritiker der Hauptstadt, in Berlin sei überhaupt nichts sinnvoll geplant: Der Laufkalender Berlins ist geradezu mustergültig aufgebaut. Immerhin der. Nun fragt sich der Nichtläufer sicherlich, und zwar zu Recht, was denn an einem Laufkalender falsch oder richtig sein kann – und was zum Teufel ein Laufkalender überhaupt ist? Nun, als Laufkalender kann man die Abfolge von Laufveranstaltungen über das Jahr bezeichnen. Das Gefährliche daran ist, dass sich der charakterlich schwache Läufer, also so gut wie jeder aus dieser speziell begabten Gruppe, kaum enthalten kann, wenn in seiner Stadt ein Lauf veranstaltet wird, auch wenn die eigene Form nicht zur Veranstaltung und die Veranstaltung nicht zur Jahreszeit passt. Wehe den Läufern im Süden Hannovers, die am sogenannten Rübenlauf teilnehmen, einem Halbmarathon, der mitten im Juli stattfindet und schon so manchen tapferen Recken in die Knie gezwungen hat.

Fatal übrigens auch die Marathon-Läufe, die zu früh im Jahr stattfinden. Wiederum eine kurze Erläuterung an die Nicht-Läufer unter der Leserschaft: Ja, es gibt sie wirklich, die jahreszeitlichen Dellen in der Leistungsfähigkeit des Langstreckenläufers. Dass der Marathon im Winter gewonnen werde, das ist einer dieser nervtötenden Sinnsprüche aus dem Schatzkästchen des aufschneiderischen Läufers. Solche Sätze sind für den Läufer, der, wie der Hauptstadtkorrespondent, gerne aber nicht um jeden Preis auf die Strecke geht und im Übrigen noch etwas anderes im Leben zu tun hat, ein Ärgernis. Denn sie sind, erstens, immer mit dem Vorwurf verbunden, der Gelegenheitsläufer tue nicht genug für das hehre Ziel des Laufens. Und zweitens sind solche Sätze nur zu wahr. Wer erst einmal eine ganze Saison lang immer wieder losgetrabt ist und seinen gesamten Stoffwechsel entsprechend auf Umsatz und Verbrauch

getrimmt hat, ist für die Kalorienschwemme am Jahresende ein besonders gefährdetes Opfer. Der Magen ist vielleicht das ehrlichste Organ des Menschen, aber auch eines der dümmsten. Geflissentlich ignoriert er den Leistungsabfall, der dem Schmuddelwetter und dem Vorweihnachts-Stress geschuldet ist, und verlangt stattdessen weiterhin kräftige Zufuhr. Speckröllchen und überraschende Kurzatmigkeit beim ersten Lauf im neuen Jahr sind die logische Folge. Die Frühjahrs-Herausforderung liegt für den Läufer also darin, zügig, aber nicht zu schnell wieder in Form zu kommen. Dafür setzt der Berliner Halbmarathon genau den richtigen Anreiz. Immer am ersten Sonntag im April stattfindend kommt dieser Lauf gerade zur rechten Zeit, um das Training bloß nicht zu spät nach den Feiertagen wieder aufzunehmen. Immerhin will sich kein Teilnehmer blamieren in einem Starterfeld, das mit 30.000 Läufern kaum kleiner ist als das des Marathons im Herbst, und

zu dem zu gehören schon eine gewisse Leistung ist, denn der Berliner Halbmarathon ist der wohl einzige Lauf über die halbe Marathondistanz, der tatsächlich vollständig ausverkauft ist. Ein Ansporn mehr, sich richtig vorzubereiten, denn zum einfach liegenlassen ist die Startnummer viel zu schade. Das Wetter spielt beim Berliner Halbmarathon meistens mit und ist jedenfalls mindestens genau so verlässlich wie beim Marathon. Auch das dürfte erläuterungsbedürftig sein, warum Läufer so ein Aufheben um das Wetter machen. Schließlich müssten Menschen, die freiwillig zu Fuß einundzwanzig Kilometer am Stück durch die Stadt laufen, doch so hart sein, dass sich das Wetter nicht bekümmert – diese Überlegung ist nur scheinbar plausibel. In Wahrheit sind Läufer für die Wechselfälle des Wetters geradezu hysterisch empfindlich. Selbst Radrennfahrer, die mit ihren dünnen Reifen Wasserfilme auf der Straße nicht gut meistern können, haben eine

größere Wetter-Toleranz. Woran das liegt? Nun, vermutlich daran, dass Laufen sozusagen von Kopf bis Fuß anstrengend ist, und der Läufer sich danach sehnt, in den Genuss wenigstens einiger kleiner Annehmlichkeiten zu kommen wie zum Beispiel einer kühlenden Brise und hellen Sonnenlichts. Außerdem ist der Durchschnittsläufer einfach nicht schnell genug unterwegs, um sich einen angenehmen Fahrtwind zu verschaffen, der die ärgsten Temperaturschwankungen nivellieren könnte. So verrückt das klingt, es ist doch die harte Realität des Freizeitläufers: Könnte er doppelt so schnell laufen, er wäre nur halb so sehr auf die idealen Laufbedingungen angewiesen. Ideale Laufbedingungen bei einer Strecke durch die Stadt, das sind: Temperatur zwischen vierzehn und neunzehn Grad Celsius, Wind der Stärke eins oder zwei ohne Böen, leichte Bewölkung, die für viel Sonnenschein und ein wenig Schatten sorgt, und schließlich und

endlich ein Untergrund mit nur wenig Unebenheiten und so gut wie gar keinen Betonsteinen – ist das denn alles zu viel verlangt? Keineswegs, denn beim Berliner Halbmarathon stehen die Chancen des Läufers gut, den gesamten Forderungskatalog erfüllt zu bekommen. Größter Unsicherheitsfaktor ist die Temperatur, und zwar wegen der Schwankungen nach oben. Absurder Weise ist es Anfang April in Berlin nämlich schon deutlich sommerlicher als Anfang Mai. Deshalb kann es passieren, dass ausgerechnet am Tag des Laufs satte zweiundzwanzig Grad brezeln, nachdem es in den Wochen vorher kaum zweistellig geworden war. Die Folge sind dann natürlich massenhafte Ausfälle so ab Kilometer zwölf. Und das ist, Läuferkollegen werden mir das bestätigen, für einen Halbmarathon wirklich ungewöhnlich. Genauso wie das Publikumsinteresse beim Berliner Halbmarathon. Reine Halbmarathonwettbewerbe finden typischer

Weise in Städten statt, die so klein sind, dass sie eine Marathonstrecke einfach nicht unterbringen würden. Ganz anders in Berlin, wo die Stadttopographie so großzügig ist, dass die Strecke sozusagen einmal hin und zurück von Ost nach West und dann wieder von West nach Ost führt. Weil aber der Halbmarathon-Lauf auf eine ganz andere historische Wurzel zurückgeht als der Marathon, nämlich auf den Ost-Berliner Friedenslauf, und weil die Nachfrage nach Marathonstartplätzen in Berlin viel zu groß ist, um vom Angebot gedeckt zu werden, lohnt sich der gewissermaßen isolierte Marathonlauf. Das nach Events aller Art hungernde Berliner Publikum lohnt es den Helden der Turnschuhe mit zahlreicher und überaus enthusiastischer Teilnahme. Ein schönes Erlebnis für jeden Läufer, bei einem Halbmarathon so angefeuert zu werden, als kämpfte man sich über die ganze Strecke. Denn ein weiterer Besserwisser-Satz der Läuferszene lautet: Einen ganzen Marathon

kannst du schaffen, einen halben wirst du schaffen. Stimmt – leider – auch. Deshalb sei es dem Hauptstadtkorrespondenten verziehen, dass er, als er einmal mit dem Ruf „Du schaffst es!“ angefeuert wurde, verständnislos zurückrief: „Ja, ich weiß!“ Überhaupt, die Strecke. Sie ist nicht nur angenehm eben – abgesehen von einer ganz fiesen, langgestreckten Steigung kurz vor dem Ziel, nämlich auf der Brücke des Mühlendamms –, sondern so berlinerisch, wie es sich der Zugezogene und erst recht der Besucher nur wünschen kann. Die Startaufstellung findet auf der Karl-Marx-Allee statt, jenem unwirklichen Straßenzug, in dem der stalinistisch motivierte Zuckerbäckerstil beunruhigend großartig wirkt. Außerdem ist diese Verkehrsachse zumindest am Wochenende für den Berliner Stadtverkehr ziemlich gut verzichtbar. Die Veranstalter nutzen das, um auf der Karl-Marx-Allee nicht nur die Starterboxen unterzubringen, sondern

auch gleich die Garderoben, die Umkleiden und die unvermeidlichen Dixie-Klos. Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Es geht da um 30.000 Läufer und zusätzlich einige Tausend Inline-Skater, zuzüglich zwei bis drei Zuschauern für jeden Teilnehmer. Es sind also Heerscharen von Menschen, die sich auf der Karl-Marx-Allee drängeln, umziehen und im eigenen Gestank bewegen. Nicht sehr erhebend für die Anwohner, aber praktisch, weil gut mit S- und U-Bahn erreichbar für die Sportfreunde. Überhaupt siegt die Praktikabilität gründlich über den Komfort. Die Garderoben etwa, also die Verwahrung der Kleiderbeutel, wird durch eine Kolonne von in Sechserreihen aufgestellten Lastwagen eines der Hauptsponsoren gebildet. Der Läufer muss einfache seinen Laster finden und seinen Beutel auf die Laderampe werfen. Wie gesagt, nicht komfortabel aber praktisch, auch für den Veranstalter, der nach dem Lauf einfach nur die Laster wegfahren lassen muss.

Für die Anwohner ein größeres Problem als der Anblick halbnackter, im frischen Morgenwind frierender Sportler ist natürlich die Last mit den vermeintlich nur ganz kleinen Geschäften. Wieder so ein Mysterium des Laufsports, das an dieser Stelle offenbart werden soll: Jeder Läufer weiß, dass es ja sooo wichtig ist, vor dem Lauf genügend zu trinken. Dabei weiß jedes Kind, so vom Ergebnis her, dass der menschliche Körper nun einmal nicht in der Lage ist, in begrenzter Zeit eine unbegrenzt große Menge Flüssigkeit in den Kreislauf zu übernehmen. Folge der Kombination beider Lehrsätze: Das dringende Bedürfnis tausender Läufer, nur mal eben… Es ist wirklich unglaublich, was sich erwachsene und im normalen Leben bestimmt vorzeigbar vernünftige Menschen erlauben, wenn sie sich erst einmal in ein Mikrofaser-Shirt gezwängt und darauf eine Startnummer angepinnt haben. Wiederum greifen die Veranstalter zu einer mehr

praktikablen als menschenfreundlichen Lösung: Sie sperren die Straße nach links und rechts mit übermannshohen Bauzäunen ab und lassen nur Anwohner näher an die in einigem Abstand vom Straßenrand stehenden Gebäude heran. Nachteil: Die Menschenmassen der Starter und Begleiter müssen sich durch enge Pfade drängen. Vorteil: Die Läufer kommen nicht einmal ansatzweise nahe genug an die Hauswände heran, um diese benetzen zu können. Und vor einem Durchschuss durch die Bauzäune hüten sie sich wohlweißlich, weil dahinter Ordner des Veranstalters patrouillieren. Aber genug von der Erdenschwere und den Nöten! Der Startschuss fällt und der Lauf geht los. Schon nach wenigen hundert Metern die erste Herausforderung in Gestalt eines scharfen Links-Schwenks, der auf die lange Achse bis hin zum Ernst-Reuter-Platz und weiter zum Charlottenburger Schloss führt. Zuerst aber kommt die Museumsinsel, die man noch bei

frischen Kräften und lebendigem Ehrgeiz überquert. Kurz danach bereits das Brandenburger Tor, das, ganz anders als beim Marathon, noch mit einiger Spannkraft durchlaufen wird. Dahinter wird es im Tiergarten etwas einsam mit den Zuschauern, dafür bietet sich dort die sehr gute Gelegenheit, das nachzuholen, wofür auf der Karl-Marx-Allee wegen der langen Schlangen vor den Dixies keine Gelegenheit bestanden hatte. Am Großen Stern dröhnt die erste Samba-Band, nichts wie weg, und – schwupps! – ist auch schon der Ernst-Reuter-Platz erreicht. Weil es von dort in die erstaunlich hässliche Otto-Suhr-Allee geht, ist das Abbiegen nicht so steil und sturzträchtig wie beim Marathon, und nun kann der Läufer endlich in sein Tempo finden. Dann ist auch schon das Charlottenburger Schloss erreicht, von dem der Läufer vor allem die Kuppel von ferne wahrnimmt. Am Schloss dann wieder eine scharfe Kurve, diesmal nach links, durch die

herrliche Schlossstraße und dann immer weiter nach Süden bis zum Ku’damm. Auf dem geht es dann nach links weg wieder zurück in Richtung Osten, auf dem Rückweg allerdings mit ein paar Schleifen über Tauentzien, Lützow-Ufer und Potsdamer Platz. Schon in der Leipziger Straße stellt sich das Ost-Berliner Architektur-Gefühl wieder ein, das einen bis zur letzten scharfen Kurve, nach rechts wieder in die Karl-Marx-Allee, nicht mehr verlässt. Erstaunt stellt der Läufer fest: Ach, das war’s ja schon. Und die Schlangen vor den Dixies sind auch schon wieder da. Egal, es war ein super Einstieg in ein neues Laufjahr. Jetzt aber fix in die U-Bahn und ab nach Hause. Der ganze restliche Sonntag bleibt für Weißbier und Pommes – guten Appetit und bis denne!

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Cupator ist ein Autor, der vielleicht keiner sein sollte - nicht, weil er sich das Schreiben nicht zutraut, sondern weil er im echten Leben etwas macht, was kaum auf ein Autorendasein hindeutet.

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PhanThomas Fiel mir auch gerade auf, dass ich die Passage nach der Streckenbeschreibung doch schon kannte. Da hast du wohl doppelt »gepastet«, um es mit fürchterlicher Unsprache zu formulieren.

In deinem Text habe ich mich sehr zu Hause gefühlt. Ich selbst laufe ja auch gern bei Halbmarathon in Berlin mit und musste das eine oder andere Mal nicken. Sehr schöne Beschreibung, besonders erfreulich auch, dass du auf das Temperaturthema eingegangen bist. In diesem Jahr fand der Lauf übrigens bei minus sieben Grad statt. Da konnte man vor dem Lauf gar nicht die Häuser anpieseln, weil die Getränkestände wegen gefrorener Leitungen geschlossen waren. Nun ja ...

Ein kleiner inhaltlicher Fehler ist mir, glaube ich, aufgefallen, wo mein Orientierungssinn mich nicht trügt: Nach den ersten paar hundert Metern auf der Karl-Marx-Allee geht es doch scharf links ab und nicht rechts, oder?

Viele Grüße
Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
Cupator Lieber Phanthomas und Mitläufer, vielen Dank für Deine erhellenden Anmerkungen. Die Doppelung habe ich also gestrichen, und den Rechtsknick gegen einen Linksknick ausgetauscht. Klar, links, go west, is halt so. Sieben Grad Minus? Boah. Aber ja, dieser April war wirklich noch nichts für Läufer. Ich habe mein Laufjahr gerade in Köln beschlossen bei ca. 12 Grad (plus!) und ständigem Wind, das reicht mir jetzt erstmal bis Weihnachten.
Bis bald!
C.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Obwohl ich unsportliche Person weder aktiv noch passiv an jeglicher Art von Marathonläufen teilnehmen würde, habe ich deinen Bericht mit großem Interesse gelesen, lieber Cupator. Du hast das ganze Flair drum herum wieder sehr informativ und vor allem vergnüglich beschrieben, dass das Lesen eine echte Freude war!
Erst nach geraumer Zeit habe ich bemerkt, dass dein Text doppelt eingestellt ist, es ist also nur die halbe Seitenzahl. ;-))

Ich freue mich schon auf deinen nächste Ausgabe!
Herzliche Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Cupator Liebe Fleur, danke fürs Lesen, die Anerkennung - und den Hinweis auf das doppelte Pasten - argh, ich bastele es gleich zurecht. Auf bald! C.
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