Hannelore hatte eine sehr unruhige Nacht hinter sich. Immer wieder war sie wach geworden, ohne richtig zu wissen, warum. Mühsam erhob sie sich aus dem Bett und spürte plötzlich ein starkes Ziehen in ihrem Rücken. Sie lehnte sich an den Tisch und schnaufte. „Nicole blinzelte sie fragend an: „Is was? Geht es los? Soll ich jemandem Bescheid sagen?“ Hannelore schüttelte nur den Kopf. Sie wusste doch selbst nicht, was mit ihr los war. Irgendeines der anderen Mädchen hatte ihr vor ein paar Tagen erzählt, dass es wohl so etwas wie Senkwehen geben würde. Dann würde es im Rücken ziehen, das würde aber bald wieder aufhören. Das Baby bahnt sich so seinen Weg in den Geburtskanal, hatte der Arzt erklärt, was immer das auch heißen mochte. Wieder war da dieses Ziehen, diesmal heftiger als zuvor. Hannelore atmete schwer. Nicole sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Gleich nachdem sie die Tür aufgerissen hatte, rief sie laut auf den Flur: „Bei Hannelore geht es los.“ Hannelore hörte, wie nach und nach verschiedene Türen auf dem Flur geöffnet wurden. Sie hörte trappelnde Schritte und sah mehrere Köpfe neugieriger junger Mädchen in der Tür erscheinen. „Lasst mich in Ruhe“, seufzte sie.
Es dauerte nicht lange, da erschien auch Frau Peters im Zimmer. Bei jeder bevorstehenden Geburt versuchte sie, Ruhe zu bewahren, aber bei jeder bevorstehenden Geburt war sie so aufgeregt, als wenn sie selbst die werdende Mutter sei. „Lasst uns allein.“ Mit wedelnden Bewegungen scheuchte sie alle Mädchen aus dem Zimmer und ging auf Hannelore zu: „Es wird schon gut gehen, du wirst sehen“, tröstete sie: „Wann soll das Baby kommen?“ „Erst in drei Tagen“, schnaufte Hannelore: „Es tut schon wieder weh.“ Kein Zweifel, das waren Wehen, die Geburt von Hannelores Baby hatte begonnen.
Wieder einmal erfasste Hannelore ein heftiger Schmerz, der sich vom Rücken ausgehend in den Bauch zog. Ohne Hannelore anzusehen sagte Frau Peters: „Ich pack dir jetzt ein paar Sachen ein und dann fahren wir ins Krankenhaus.“ „Krankenhaus, nein, “ schrie Hannelore. Sie hatte große Angst vor einem Krankenhaus, denn als ihre Oma vor Jahren ins Krankenhaus gekommen war, war sie da gestorben. Hannelore hatte sie nie wieder gesehen, dabei war sie der einzige Mensch gewesen, der sie wirklich geliebt hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen aus Angst und bei der Erinnerung an ihre Oma. Zärtlich streichelte Frau Peters ihre Schulter: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja bei dir, es wird schon alles gut gehen, du wirst sehen und dann kommen wir beide mit einem hübschen gesunden kleinen Jungen wieder hierher.“ Sie lächelte, aber Hannelore war überhaupt nicht zu Lächeln zumute. Frau Peters ergriff die kleine, inzwischen fertig gepackte Reisetasche, hakte Hannelore unter und verließ mit ihr zusammen den Raum. Hannelore blickte auf den Boden, während sie an den leise tuschelnden Mädchen vorbei den langen Flur entlanggingen. Hin und wieder hörte Hannelore Wortfetzen wie: „Die Ärmste, wenn die wüsste, was jetzt auf sie zukommt.“ Oder: „Weißt du noch, ohweih.“ Hannelore spürte, wie ihre Angst größer und stärker wurde. Abrupt blieb sie stehen, weil wieder einmal ein heftiger Schmerz sie durchfuhr.
Bis zum Krankenhaus war es nicht weit. Frau Peters hatte ihr unterwegs erklärt, dass alle Mädchen aus dieser Mutter-Kind-Einrichtung ihre Babys im Krankenhaus bekommen würden, weil es dort einfach sicherer wäre. „Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, ist immer sofort ein Arzt in der Nähe“, erklärte Frau Peters. Hannelore schlug das Herz bis zum Halse. Sie hatte das Gefühl, einen dicken Kloß im Hals zu haben, der trotz heftigen Schluckens nicht verschwand. Langsam trottete sie hinter Frau Peters durch die Eingangshalle des Krankenhauses. Vom Empfang her ertönte eine freundliche Frauenstimme: „Hallo Frau Peters, ist es mal wieder soweit? Sie kennen den Weg ja, alles Gute.“ Hohe Flure, hellgrün gestrichen und ein undefinierbarer unangenehmer Geruch schienen Hannelore zu erdrücken. Sie fühlte sich, als würde sie zur Schlachtbank geführt. Selbst das freundlichste Lächeln und all die aufmunternden Worte konnten sie nicht aufheitern. Sie fühlte sich ausgeliefert.
Dumpf drangen die Worte: „Hier können Sie sich ausziehen, dann schlüpfen Sie in dieses Hemd hier und kommen in den Raum nebenan, dort werden Sie dann erst einmal untersucht.“ An ihr Ohr. Wie durch Watte nahm sie das alles wahr. Willenlos schlüpfte sie aus ihrer Kleidung und streifte das Hemd, das im Nacken mit einer Schleife geschlossen wurde, über. Zaghaft betrat sie den Nachbarraum. Hohe, hell gestrichene Wände, grelles Licht und ein Fenster mit einer Milchglasscheibe, durch die niemand hinein- oder aber hinaussehen konnte, flößten ihr nur noch mehr Angst ein. Viele medizinische Geräte befanden sich in diesem Raum, deren Bedeutung Hannelore nur zum Teil kannte. Ach, wenn doch Peter jetzt bei ihr sein konnte. Der war schließlich Arzt und würde schon aufpassen, dass ihr hier nichts passierte.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein Krankenhausbett, an deren Seite Schalen für die Beine angebracht waren, wie Hannelore es vom Frauenarzt her kannte. Frau Peters, die inzwischen einen hellgrünen Kittel übergezogen hatte, unterhielt sich angeregt mit einer fülligen jungen Frau. Auch diese Frau trug einen hellgrünen Kittel. Weshalb trugen hier alle Leute hellgrüne Kittel, fragte sich Hannelore noch, als ein ganz in weiß gekleideter Arzt den Raum betrat. „Ach, da ist ja unsere werdende Mama“, meinte er lachend und ging mit ausgestreckter Hand auf Hannelore zu: „Dann wollen wir mal sehen. Leg dich mal hier auf das Bett, ich werde dich dann erst einmal untersuchen.“ Nur zögernd kam Hannelore dieser Aufforderung nach. Sie lag auf dem Bett und ließ die Untersuchung willenlos über sich ergehen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als wieder ein heftiger Schmerz durch ihren Körper ging.
„Der Muttermund ist schon leicht geöffnet, es wird aber noch dauern. Gut, dass sie mir ihr jetzt schon hierher gekommen sind.“ Erklärte der Arzt an Frau Peters gewandt. „Dann schauen wir mal, was das CTG so aufzeichnet.“ Das kannte Hannelore schon von den Untersuchungen während der Schwangerschaft. Das tat nicht weh, war aber aufregend. Sie hörte den schnellen Herzschlag ihres Babys. Hannelore schloss die Augen. Wie gern würde sie jetzt schlafen, einfach nur auf eine Traumreise gehen und die Welt weit hinter sich lassen. Aber sie lag da, von Schmerzen gepeinigt, um sie herum fremde Menschen, von denen ihr niemand half. Warum musste sie das durchmachen? Wenn sie das geahnt hätte, hätte sie nie ein Baby gewollt. Immer öfter, immer heftiger durchzog sie dieser Schmerz. Ihr war, als würde ihr ganzer Körper wehtun. Sie konnte nicht einmal mehr sagen, wo der Schmerz saß, sie schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen. Oh, wie hasste sie in diesem Moment das Kind in ihrem Bauch, das ihr all das antat. Hinzu kam noch das laute Ticken der Uhr, die groß und bedrohlich an der Wand hing. Irgendwann sagte jemand: „Sie ist eine schnelle Mutti, ich schätze mal so ca. drei Stunden noch, dann ist das Baby da.“ Hannelores Blick fiel auf die Uhr: 9.15 – noch drei Stunden, dann wäre es 12.00 Uhr – so lange noch diese Schmerzen, das würde sie nicht überleben. „Ich will nicht sterben“ flüsterte sie. Frau Peters strich ihr über die schweißnasse Stirn: „Das wirst du auch nicht, ganz im Gegenteil, du schenkst deinem Baby jetzt das Leben.“ Hannelore verzog die Lippen zu einem verzerrten Lächeln: „Aua, das tut so weh, ich kann nicht mehr.“
Ab und zu trat die Hebamme an sie heran und sagte: „Ich muss dich jetzt noch einmal untersuchen.“ „Nein“, wollte Hannelore dann am liebsten sagen: „Nicht anfassen, nicht angucken, nicht mit mir sprechen, gar nichts, ich will jetzt nur mein Baby, ich will, dass das hier endlich vorbei ist. Ich kann nicht mehr.“
Dann setzten die Presswehen ein. Hannelore schloss die Augen, Frau Peters stützte sie im Rücken und Hannelore drückte mit all ihrer Kraft nach unten, um sich kurz darauf wieder auf das Bett fallen zu lassen und tief durchzuatmen. Immer öfter und immer heftiger kamen jetzt die Wehen. Die Abstände waren so kurz, dass Hannelore meinte, gar keine Zeit mehr zum Luftholen zu haben. Ihr kam es vor, all wäre sie unter Wasser, würde nur ab und zu für kurze Atemzüge an die Wasseroberfläche kommen. Wie in Trance sah sie, dass der Arzt jetzt Gummihandschuhe überzog und sich neben die Hebamme stellte.
„Ich kann das Köpfchen schon sehen, ganz viele dunkle Haare, noch ein kleines bisschen drücken, gleich ist das Baby da“, ermunterte die Hebamme Hannelore. „Ich kann nicht mehr,“ schnaufte Hannelore, nahm dann aber alle ihr noch verbliebene Kraft zusammen, richtete sich mit Hilfe von Frau Peters ein wenig auf und drückte ein letztes Mal so fest sie konnte.
Ob und was sie jetzt fühlte, konnte sie gar nicht beschreiben. Schmerzen, ja, Erleichterung aber auch und eine unbändige Kraft, die sie zu zerreißen schien, denn jetzt hörte sie den ersten Schrei ihres Babys. Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr das schreiende blutige Baby auf die Brust gelegt wurde. Zärtlich streichelte sie das kleine Gesichtchen: „Mark“, flüsterte sie: "Ich hab dich so lieb." Stolz blickte sie in die Runde. Sahen alle, dass dies das schönste Baby der Welt war? Erkannten alle, wie stark sie jetzt war? Es kam ein Gefühl in ihr auf, das nicht zu beschreiben war. Sie war in diesem Moment der stärkste Mensch der Welt. Sie war so toll, so klasse, so großartig. Sie war jetzt eine Mutter. Kommt ja nicht auf die Idee, meinem Sohn etwas zu tun, dachte sie, dann müsst ihr erst an mir vorbei. Zärtlich küsste sie ihren Sohn auf die Stirn. „11.47 Uhr“, hörte sie jemanden sagen und: „Herzlichen Glückwunsch.“ Vorsichtig löste die Hebamme das Baby aus Hannelores Armen: „Wir müssen ihn jetzt untersuchen, baden, wiegen und messen, wie groß er ist, du bekommst ihn gleich wieder.“ Nur ungern ließ Hannelore sich ihr Baby wieder wegnehmen. Zärtlich drückte Frau Peters Hannelores Hand und nickte ihr aufmunternd zu. Alles in Ordnung schien ihr Blick zu sagen.
Erschöpft und glücklich ließ Hannelore sich auf das Kissen zurücksinken. Sie war jetzt eine Mutter.
Chrissy55 Re: ohh wie süß - Zitat: (Original von aerztefan1412 am 07.08.2008 - 23:38 Uhr) eine sehr schöne geschichte Im Moment ist es noch eine schöne Geschichte, das wird sich aber leider ändern. Mir schwirrt dieses Thema schon seit Jahren im Kopf herum. Geburten finde ich aber immer wieder ergreifend schön. Es gab eine Zeit, da wäre ich auch gerne Hebamme geworden. Hat wohl nicht sollen sein. LG Chrissy |
aerztefan1412 ohh wie süß - eine sehr schöne geschichte |