Romane & Erzählungen
Verständnis - Brief Nummer 1

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"Verständnis - Brief Nummer 1"
12 S.
12 S.

Verständnis - Brief Nummer 1

Mein Liebster!

Zu Weihnachten hast du mir eine Schachtel geschenkt, in der sich 64 Sterne fanden. Dazu hast du eine Karte geschrieben, auf der stand: „Ich werde mit 90 Jahren sterben – jetzt bin ich 26 Jahre jung, ich habe also noch 64 Jahre vor mir. So viele Sterne findest du in der Schachtel. Für jedes Jahr, das ich noch lebe – für jedes Jahr, das ich mit dir zusammen lebe, einen Stern.“

Ich weiss noch, wie ich lächelte und meinte, deinen Optimismus hätte ich gerne. Ich wollte von dir wissen, warum du so sicher bist, dass du 90 Jahre alt werden würdest. Du sagtest, du wüsstest es einfach. Kein Mensch weiss das. Und wie wir heute beide wissen, war es einfach dein Optimismus. Du wurdest nicht 90. Wir hatten nicht 64 Jahre zusammen. Nicht einmal die Hälfte davon. Aber ich will nicht beim Ende verharren, ich will zurück zum Anfang gehen. Deine Sterne waren der Anfang.

An jenem Weihnachtsabend waren wir beide alleine. Draussen lag seit Jahren zum ersten Mal Schnee in der Weihnachtsnacht. Ich hatte mindestens 100 Kerzen angezündet und überall im Wohnzimmer aufgestellt. Den Baum hast du geschmückt mit den alten Kugeln meiner Grossmutter und den Glasengeln von deiner Grossmutter. Er sah so wunderschön aus. Wir sassen auf dem Teppich und bestaunten ihn. Ihn, der inmitten meines Wohnzimmers stand und nur von Kerzenlicht beleuchtet wurde. Du hast mich in die Arme genommen, mich festgehalten und mir wundervolle Dinge ins Ohr geflüstert. Nein, keine Anzüglichkeiten. Oh nein. Du hast mir erzählt, was wir noch alles erleben zusammen. Wo wir noch hingehen, zusammen. Und dann hast du mir dein Geschenk überreicht.

Ich lüge nicht, wenn ich sage, das war das Schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Nur schon, dass du alle Sterne selbst ausgeschnitten hast und auf jeden Stern ein Wort geschrieben hast. Wie du die Schachtel verpackt hast, die Karte die du dazu geschrieben hast. Ich konnte deine Liebe darin spüren. Du bist ein bisschen erschrocken, weil mir Tränen aus den Augen schossen und über mein Gesicht liefen. Erst dachtest du, dass ich so enttäuscht wäre. Was dann bedeutet hätte, dass du mich vollkommen falsch verstanden hast. Nein. Hast du nicht. Ich konnte dich beruhigen und dich davon überzeugen, dass es Tränen der Rührung waren. Ja. Ich war gerührt. Berührt ganz tief innen. Mir war klar, dass diese Sterne nicht einfach in der Schachtel bleiben können. Ich wollte diese Sterne jeden Tag sehen können. Und zwar alle 64.

Noch am selben Abend haben wir gemeinsam einen alten Vorhang an meine Zimmerdecke über das Bett gespannt und haben die Sterne hineingelegt. Fortan hatten wir unser „Sternen-Orakel“. Dafür bewegte man den Vorhang und liess die Sterne durcheinander fliegen. Dann legte man sich auf das Bett, sah nach oben und las die Wörter die man sehen konnte. Im Laufe der Zeit lachten wir oft, weil das Orakel immer irgendwie recht hatte.

Oh, wie oft hat es mich getröstet? Wie oft hat es mir Kraft gegeben? Unzählige Male. Nicht nur mir. Es wurde in unserem Freundeskreis zum Orakel, das aus den unterschiedlichsten Anlässen befragt wurde. Ich lag so oft mit meiner Freundin darunter. Oder mit deinem Bruder. Weisst du noch? Als er sich verliebt hatte und es einfach nicht klappen wollte. Wir lagen so lange und so oft darunter, bis er sie vergessen konnte. Oder als du nicht wusstest, wohin dein Weg gehen sollte. Als du orientierungslos durchs Leben getrudelt bist. Dank dem Stern-Orakel hast du einen völlig anderen Weg eingeschlagen, als du am Anfang glaubtest einschlagen zu müssen. Es war der richtige Weg. Das wissen wir beide. Es war dein Weg – der dich erfüllt und glücklich gemacht hat. Auch ich fand oft Trost und Glück darunter.

Heute Morgen bin ich das 64. Mal ohne dich aufgewacht. Ich weiss das so genau, weil ich Striche an die Wand male. Jeden Tag einen Strich. Und heute, der 64. Strich, liess mich innehalten. 64 – diese Zahl erinnerte mich an etwas. Erinnerte mich daran, wie sehr diese Zahl in unserem Leben war. Ich erinnerte mich, wie du sagtest: „Eine 6 und eine 4 ergeben in der Quersumme 10 – Du bist meine 10!“ – ich erwiderte: „Stimmt. Nur in der Nummerologie gibt es die 10 nicht. Die 0 wird weg gestrichten und so ist es eine 1. Das, was wir beide zusammen sind. Eins. Eine Einheit.“, wir haben uns angelächelt und sind dann eingeschlafen.

Daran erinnerte ich mich, als ich den 64. Strich an die Wand malte und schon im nächsten Augenblick wusste ich, was ich tun muss.

Ich löste den Himmel von der Decke, sammelte die Sterne ein und legte sie in die Schachtel zurück, die ich die ganzen Jahre behalten habe. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem schönen Heft, holte meine alte Füllfeder hervor, zündete Kerzen an, machte mir eine grosse Tasse Kaffee und setzte mich an meinen Pult, den du vor vielen Jahren gebaut hast. Ich nahm die Schachtel und zog einen Stern heraus. Auf ihm stand: „Verständnis“.

Es müssen Stunden vergangen sein, ich weiss es nicht, Stunden in denen ich den Stern angestarrt habe, dieses Wort. Stunden in denen ich darüber nachdachte, was ich nun damit mache. Mein Zeitgefühl ist – es ist weg. Wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich dunkel. Das letzte Mal als ich raus gesehen habe war es hell. Es ist sogar schon so dunkel, dass ich den Stern gar nicht mehr sehen kann. Ich weiss einfach, dass er da ist. Wie er aussieht. Ich sehe deine Handschrift. Deine Handschrift. Sie ist mir so vertraut. Ich kenne jeden Buchstaben, weiss wie du ihn geschrieben hast. Die Bogen und Striche, die Führung der Feder – oder Kugelschreiber. Bleistifte hast du anders gehalten. Du hast damit anders gezogen und Bogen gemacht. Was habe ich es geliebt, dir zu zusehen, wenn du etwas geschrieben hast. Etwas auf den Einkaufszettel gekritzelt hast. Manchmal konnte ich es echt nicht entziffern. Manchmal hat mich das genervt. Vor allem dann, wenn ich es hätte müssen lesen können und ich dich nicht fragen konnte.

Was mache ich jetzt mit diesen Sternen? Was mache ich mit diesem Wort: Verständnis?

Ehrlich. Das ist das einzige, was mir jetzt fehlt. Verständnis. Nein. Ich habe keines. Warum bist du von mir weg gegangen? Warum jetzt? Wir hatten viel zu wenig Zeit. Es gibt noch so viel, was ich dir sagen wollte. Noch so viel, was wir tun wollten. Mir fehlt das Verständnis, dass du nicht mehr da bist. Warum? Warum du? Warum?

Es war, als hätte mich ein leichter Sommerwind berührt – was nicht sein kann, es ist Winter. Es ist dunkel und es ist kalt. Aber da war ein Hauch. Irgendetwas hat mich berührt. Ich sass ganz still und wartete, dass es noch einmal geschieht. Lange. Sehr, sehr lange sass ich still und wartete. Meine Gedanken kreisten um die Frage, warum müssen die Guten so früh gehen? Liegt es daran, dass die Guten egal, wann sie sterben, immer zu früh sterben? Oder dass die Guten im Grunde nicht besser sind als die anderen, man sie aber viel mehr liebt und viel mehr vermisst.

„Mein Engel! Du selbst hast mich gelehrt, dass wir endlich werden in dem Moment, in dem wir gezeugt werden. Und dass der Zeitpunkt der Endlichkeit schon da bestimmt ist. Alles hat ein Ende und wir gehen dann, wenn es Zeit ist zu gehen. Der Tod ist nicht böse oder rachsüchtig, er ist nur die Tür durch die wir gehen um wieder Unendlich zu sein.“ – das würdest du mir sagen. Vielleicht nicht genau in diesem Wortlaut. Aber in diesem Sinne. Das würdest du sagen. Und mich dann in die Arme nehmen und meine Stirn küssen. Ich habe dich einmal gefragt, warum du meine Stirn küsst, weil du das sehr oft getan hast. Du hast gesagt: „Weil ich liebe, was da hinter Haut und Knochen abgeht.“

Jetzt weiss ich es. Ich weiss, was ich damit tun werde. Jeden Tag werde ich einen Stern ziehen und das Wort darauf lesen. Mich an etwas erinnern, was mit dir und dem Wort zu tun hat. Es erzählen indem ich es aufschreibe. Indem ich dir einen Brief schreibe. Und dann werde ich raus gehen und etwas tun, das mit diesem Wort zu tun hat. So verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart und ich habe eine Zukunft. Ja. Das werde ich haben. Aus dem einfachen Grund: Ich bin immer noch da. Ich sterbe nicht. Mein Herz hört nicht auf zu schlagen nur weil ich das will. Das hat seinen Grund. Ich weiss. Auch wenn ich ihn alles andere als verstehe. Wenn ich alles andere als Verständnis habe.

Doch ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Sondern ich will darüber nachdenken, wann du für mich Verständnis hattest. Du hattest meistens Verständnis für mich. Vor allem dann, wenn ich dir die Fragen beantworten konnte, warum ich etwas getan oder gesagt habe. Warum ich etwas eben nicht ausgesprochen oder gemacht habe. Du mochtest es nicht, wenn du mich nicht verstehen konntest. Du sagtest dann: „Ich verstehe dich nicht! Und ich mag das nicht! Weil ich das Gefühl habe, mich von dir zu entfernen mit jedem Mal, in dem ich nicht verstehe!“ – ich hatte immer die Chance es dir zu erklären, mich zu erklären. Du hast nicht über mich gerichtet, das musste ich zuerst lernen. Du hast nicht entschieden ob es gut oder schlecht war. Du hast nicht gesagt, es ist richtig oder falsch. Du wolltest es einfach nur verstehen. Mich verstehen, das war dein Ziel. Um Verständnis für mich zu haben.

Meine Stärke war das nicht. Ich wollte verstehen, um eine Meinung haben zu können. Nicht Verständnis, sondern eine Meinung. Ich habe von dir gelernt, dass Verständnis nicht der Freipass für eine Meinung ist. Also, doch schon für eine Meinung. Aber eine Meinung, die man für sich behält. Hat man dich gefragt, nach deiner Meinung, waren deine Antworten klar und direkt. Du hattest immer eine Meinung und hast trotzdem niemals gerichtet oder gewertet.

Das habe ich von dir gelernt in der Zeit, die wir zusammen hatten. Das hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Ich habe mich nie dafür bedankt. Ich hatte die Zeit nicht, das zu begreifen und mich bei dir zu bedanken. Du würdest jetzt lächeln. Dieses Lächeln… es gibt ein Foto. Ein einziges Foto mit diesem Lächeln, diesem speziellen Lächeln das es nur für mich gab. Ich habe das Foto geschossen, damals, als wir in Venedig waren. Weisst du noch? Es ging um die Handtasche, die ich so unbedingt haben wollte – du hattest Verständnis dafür, so dass wir den Weg nochmal zurückgingen. Den ganzen Weg, für eine Tasche. Als du sie bezahlt hast, hast du dich zu mir umgedreht und gelächelt und ich habe abgedrückt. Heute noch bin ich dankbar für dieses Foto. Weil es mich immer daran erinnern wird: Du hast mich verstanden. Du hattest Verständnis für mich.

Es ist mitten in der Nacht jetzt. Ich kann nicht mehr raus gehen und für jemanden Verständnis haben. Ich kann diese Aufgabe heute nicht mehr lösen.

Oder vielleicht doch?

Mein Liebster! Du hattest unendlich grosse Schmerzen, dein Weg war hart und steinig. Schmal und dein Leben hing lange am seidenen Faden. Du wolltest gehen. Ja, du hast dich gesehnt danach, endlich gehen zu dürfen. Dafür habe ich Verständnis. Wirklich. Du hast länger durchgehalten, als ich es hätte können. Und es ist weder mein Recht noch sonst irgendetwas, so zu tun als ob…

Liebster, ich habe Verständnis dafür, ich verstehe, warum du los gelassen hast. Warum du mich verlassen hast. Es geht dabei nicht um mich, sondern darum dass dein Leben nicht mehr lebenswert war. Es ging nur um dich. Es geht nur um dich. Ich verstehe, dass es so kommen musste. Dass es so gekommen ist. Ich habe Verständnis dafür, dass die Ärzte irgendwann aufgehört haben… ich habe Verständnis dafür, dass du erleichtert warst und dass dein Gesichtsausdruck deshalb so friedlich war. Als du erlöst wurdest, als wir dich los gelassen haben, hast du dir keine Sorgen mehr gemacht und bist eingeschlafen. Ich habe Verständnis dafür, dass du nicht mehr aufwachen wolltest.

Du fehlst mir nur so furchtbar.

 

Mit all meiner Liebe

 

 

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bloodredmoon

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bloodredmoon Re: -
Zitat: (Original von shirley am 27.07.2013 - 07:40 Uhr) Ich bin gefesselt und tief berührt.
Mehr mag ich nicht schreiben.....

LG Shirley



ich verstehe es auch so :)

Danke!

lg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
shirley Ich bin gefesselt und tief berührt.
Mehr mag ich nicht schreiben.....

LG Shirley
Vor langer Zeit - Antworten
bloodredmoon Re: -
Zitat: (Original von roxanneworks am 26.07.2013 - 10:07 Uhr) Nichts, was ich jetzt schreiben würde, wäre Deinen Text annähernd gerecht...
deshalb nur mundvolles Schweigen von mir...

Ganz liebe Grüße
roxanne




Danke!!! Vielen, vielen Dank!

glg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
roxanneworks Nichts, was ich jetzt schreiben würde, wäre Deinen Text annähernd gerecht...
deshalb nur mundvolles Schweigen von mir...

Ganz liebe Grüße
roxanne
Vor langer Zeit - Antworten
bloodredmoon Re: Eine wunderbare Geschichte -
Zitat: (Original von FLEURdelaCOEUR am 25.07.2013 - 22:18 Uhr) in deiner ganz besonderen Art geschrieben, mit ganz alltäglichen Worten und doch zutiefst berührend ...
Und man kann daraus lernen, jedenfalls ich ... eine Meinung zu haben, ohne zu werten oder gar zu richten .... Verständnis eben ...

GlG fleur



Meine liebe Fleur!
DANKE! Dein Kommentar tut mir so gut! Bald kommt der zweite Brief :)

Ja... Verständnis haben ohne zu werten oder zu richten... das habe ich von ihm gelernt, wie so vieles anderes auch...

und du hast mir gerade Mut gemacht, mit "in deiner ganz besonderen Art" :)) Hab Dank!

glg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Eine wunderbare Geschichte - in deiner ganz besonderen Art geschrieben, mit ganz alltäglichen Worten und doch zutiefst berührend ...
Und man kann daraus lernen, jedenfalls ich ... eine Meinung zu haben, ohne zu werten oder gar zu richten .... Verständnis eben ...

GlG fleur
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