Kurzgeschichte
Die Busfahrt

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"Die Busfahrt"
Veröffentlicht am 20. Juli 2013, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her. Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch. Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.
Die Busfahrt

Die Busfahrt

Einleitung

Es spielt sich in einem ländlichen Gebiet Costa Ricas in den 50er Jahren ab. Die amtlichen Dienstleistungen konzentrieren sich in der Hauptstadt. Einfache Leute auf dem Land müssen sich dorthin begeben, wenn sie etwas amtliches zu erledigen haben, die öffentliche Verkehrsmittel sind nicht gut ausgebaut. Es wird zu einem Abenteuer, wenn man etwas amtliches erledigen muss.

Der Grundbesitzer

Seinen Gaul bringt Felix zum Scheunenhof hinter dem Laden und sattelt ihn ab. Dort stehen bereits mehrere Pferde, welche zu anderen mitreisenden Gästen gehören. Felix schließt die Pforte hinter sich. Er geht schweren Schrittes zur Bushaltestelle, während er sein schweißgebadetes Gesicht mit einem großen, dunklen Taschentuch abtrocknet. Als er an dem Laden vorbeigeht, hört er wie der Ladenbesitzer ihm laut zuruft: „Hallo Felix, wie lange wirst du denn weg sein?” „Du, das hängt leider nicht von mir ab”,

antwortet Felix und geht seinen Weg weiter. Der Bus fährt einmal wöchentlich beim Dorf vorbei. Frühmorgens ist Felix aufgestanden, um es rechtzeitig zu schaffen. Kaum an der Haltestelle biegt der Bus um die Ecke. Dort warten bereits mehrere Kleinbauern und Landarbeiter, einige mit Bananenstauden, andere mit Säcken voller getrockneter Kakaobohnen, Maniok oder tropischer Früchte wie Mangos, Papayas, Guanabanas, Nisperos, Tamarinde, Pejibayes. Andere haben wiederum mit an den Beinen zusammengebundenen Hühnern und Ferkeln. Sie wollen ihre Produkte auf dem Wochenmarkt in der Provinzstadt

verkaufen. Der Busfahrer steigt aufs Dach, um den Passagieren zu helfen, ihre Last dort zu verstauen. Der voll beladene Bus, der seine Dienstfähigkeit im Herkunftsland bereits hinter sich hatte, fährt los. Felix döst etwas ein. Trotz Erschöpfung kann er aber nicht einschlafen, die Landstraße ist holprig und der Bus schwingt hin und her. Die Straße wurde offensichtlich mit Geröllsteinen vom nahe fließenden Strom gebaut. Es stört niemanden, dass ein leicht ranzig-öliger Geruch, der von den Kakaobohnen stammt, in der Luft hängt. Felix will zur Provinzstadt, um einen Behördengang zu erledigen. Er will nämlich sein Äckerchen ins Grundbuch

eintragen lassen. Lange Jahre hat er darauf warten müssen, um diesen Traum zu verwirklichen. Die gesetzliche Mindestzahl an Jahren, bevor er das besetzte Land als eigen in Anspruch nehmen darf. Fast alle Passagiere kennen sich bei Namen, es ist nicht das erste Mal, dass sie zusammen im gleichen Bus fahren. Felix wird von einem seiner beiden Sitznachbarn angesprochen und beide geraten ins Gespräch. „Das Alltägliche nimmt man als selbstverständlich hin, dann kommen Stück für Stück kleine Änderungen und dann eines guten Tages ist alles ganz anders. Man guckt zurück und fragt,

wann ist das geschehen?” behauptet Felix. „Das ist ganz meine Meinung, ich kann mir aber nicht vorstellen, dass wir eines Tages auf die Pferde und Esel als Lasttiere verzichten können. Unsereiner könnte sich niemals ein Auto leisten”, gibt sein Gesprächspartner zu bedenken. Nach stundenlangen schnurgeraden Landstraßen im Flachland fängt der Bus an, die Serpentinen der Bergstraße hochzukriechen. Dunkle Rauchwolken kommen aus dem Auspuffrohr. Die Unterhaltungen werden abrupt unterbrochen, der Fahrer hält das Fahrzeug plötzlich an und macht eine Durchsage.

„Hört mal, Leute, wir können nicht weiter fahren”, verkündet er. „Da vorne liegt eine unpassierbare Wand aus Schlamm. Es ist ein Erdrutsch. Schaut mal links da oben, man sieht, wie die Bergwand mehrere hundert Meter heruntergefallen ist. Nur die Räumungsfahrzeuge aus der Provinzstadt können es wegräumen und bis sie hierher sind, werden sie mindestens einen halben Tag benötigen.” Die Gesichter der Fahrgäste sind auf einmal grimmig. Daraufhin schaltet der Fahrer das Autoradio an, um die muffige Stimmung aufzuheitern. Mexikanische Ranchero Musik klingt aus den

Lautsprechern. Das Prasseln der Regentropfen gegen die Fensterscheiben ist jedoch lauter als das Radio. Die Fahrgäste sind an derartige Naturereignisse gewöhnt und nehmen sie gottergeben hin. Felix physiologische Bedürfnisse sind stärker als der Regen. Er steigt aus. Kurz darauf steigt er wieder ein, klatschnass, mit Schuhen und beiden Hosenbeinen voller Schlamm. Andere Fahrgäste folgen seinem Beispiel, bevor die dunkle Nacht aufkommt. Jedem ist bewusst, dass bei weiteren Bergrutschen der Bus keinen sicheren Schutz bietet. Die Erschöpfung im Allgemeinen ist so groß, dass sie sehr

bald in tiefsten Schlaf fallen. Die Meisten mit dem Kopf gegen den Arm des Nachbarn gestützt. Gegen fünf Uhr morgens sind die ersten Fahrgäste wach, alle verkrampft, kalt und gähnend vor Hunger. Ausgeschlafen ist keiner. Über Nacht hat der Regen aufgehört. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die das Innere des Busses hell erleuchten, sind nicht genug, um die Leute fröhlich zu stimmen. Während des Vormittags laufen die Passagiere in der Gegend herum. Einige Bauern können vor Ort ihre Früchte verkaufen. Sie überlegen, ob sie nicht besser umkehren sollen, da sie ihre Geschäfte bereits gemacht

haben. Gegen Mittag hören die Fahrgäste in weiter Ferne, wie die Räumungsfahrzeuge anfangen zu arbeiten. Auf einer langen Straßentrasse liegen riesige Schlammmassen, die früher die darüber liegende Bergwand darstellten. Große Baumstämme und Felsbrocken dazwischen erschweren die Räumung. Die Räumungsarbeit dauert weit in die Abendstunden hinein. Bis die Straße wieder frei gegeben wird, ist der dunkle Mantel der Nacht über die Landschaft gezogen. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen springt der Motor des Busses wieder an. Die Weiterfahrt bis zum Ziel dauert

nochmal fünf Stunden. Frühmorgens treffen sie in Provinzstadt ein. Wann genau weiß keiner, denn niemand im Bus trägt eine Uhr mit sich. Der Fahrer hält an der Endstation am Marktplatz an und alle steigen aus. Der Wochenmarkt war aber am Vortag vorüber. Die Bauern sind ratlos, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer halbverdorbenen Ernte. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Früchte auf dem leeren Marktplatz an Passanten zu verhökern. Felix kann erst nachmittags halb verschlafen zum Grundamt gehen. Nach der Fahrt hat er sich eine Bleibe suchen müssen, um sich aufzufrischen. Am

Auskunftsschalter erfährt er, dass seine Urkunden vom Notar beglaubigt werden müssen. Mit verwundertem Ausdruck im Gesicht, fragt der Notar, „Wo bleiben Ihre zwei Zeugen.” „Warten Sie bitte einen Moment, Herr Notar, ich bin gleich wieder da”, murmelt Felix. Er rast aus dem Büro und nimmt ein Taxi zum Marktplatz, wo er hofft, seine beiden Nachbarn noch anzutreffen. Der Marktplatz ist verlassen. Es fällt ihm aber ein, die anliegenden Kneipen zu durchsuchen. Zum Glück sieht er seine Nachbarn am Tresen. Jeder mit einem Glas Bier in einer Hand und einer Frau in

der Anderen. „Jungs, lasst das Saufen sein, ich brauche euch unbedingt als Zeugen, bitte, bitte. Komm mit, mein Hof und meine Frau stehen auf dem Spiel.” Zurück beim Notar wird der betrunkene Zustand der beiden Zeugen beanstandet. „Eine Beglaubigung unter solchen Umständen geht auf gar keinen Fall”, gibt der Herr Notar zu verstehen. Felix erzählt die durchgemachten Strapazen seit Verlassen seines Hauses vor einigen Tagen. „Ich kann ein Auge zudrücken aber nicht beide”, erklärt der Notar. “Kommen Sie morgen wieder.” Erst am vierten Tag nach seiner Abreise

steht Felix endlich am richtigen Schalter. Dort wird er wieder zurückgewiesen. „Ihre Urkunden müssen vom Vermessungsamt abgestempelt werden“, erfährt er am Schalter. „Wo liegt dieses Amt überhaupt?” „Im gleichen Stadtviertel, aber zehn Blöcke westwärts.” „Kann man einen Bus dorthin nehmen?” „Ja, aber über Umwege, am besten nehmen Sie ein Taxi.” „Himmel, Arsch und Zwirn, bei diesem verdammten Stadtbesuch gebe ich fast den ganzen Inhalt meines Portemonnaies für Taxis aus.” Im Vermessungsamt steht er wieder stundenlang in der Schlange, um den

fehlenden Stempel zu erhalten. Am frühen Nachmittag ist er wieder vor dem Schalter im Grundbuchamt mit seinen Urkunden richtig abgestempelt und beglaubigt. „Ihre Papiere sind jetzt in Ordnung, Herr Felix”, sagt ihm die junge Dame am Auskunftsschalter. „Am Schalter Vierundzwanzig bitte einen Termin holen.” Spätabends am Freitag der zweiten Woche fährt der frischgebackene Grundeigentümer zu einem Außenbezirk der Stadt. Er will seinen Cousin einen Besuch abstatten und ihm die gute Nachricht geben. „Er ist vor zwei Jahren ausgezogen”,

erfährt er von einem Nachbarn. „Leider hat er keine Adresse hinterlassen.” Felix kann seine Enttäuschung nicht verbergen. Traurigkeit überzieht sein Gesicht auf einmal, für seine Rückfahrt hat er gehofft, er könne sich Geld von seinem Cousin leihen. „Na ja, muss ich zusehen, wie ich nach Hause gelangen kann” sagt Felix zu sich und macht sich auf den langen Gang zurück in die Stadt.

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Hörbuch

Über den Autor

merrillius
Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her.
Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch.
Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.

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NORIS Eine wunderbare Geschichte ist das, lieber Merillius. Zum Glück liegt sie schon lange zurück ... ob es heute in dieser Gegend wesentlich besser ist, wage ich doch sehr zu bezweifeln ... und ja, ich bin im Bus mitgefahren, habe mit Felix gefühlt ...
Liebe Grüße
Heidemarie
PS Du bist herzlich eingeladen, in meinem Bücherregal zu stöbern!
Vor langer Zeit - Antworten
Summerfun Schön ins Detail geschrieben. Ich bin förmlich im Bus mitgefahren.
Viele Grüße.
Vor langer Zeit - Antworten
Andyhank Hihi, schönes Wirrwarr an ineinander verzwickten Geschichten, die schon jede für sich eine wert wäre. :)
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW Eine herrliche Geschichte lieber Merrillius, habe sie gerne gelesen. Ich bin auch durch Deine Bildergalerie "gewandelt" - wunderschön.
Darf ich Dich einladen - wenn Du Zeit und Lust hast - auch einmal in meiner Bildergalerie und meiner "Bibliothek" vorbei zu schauen?
Liebe Grüße
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Liebe Gertraud, vielen Dank für deinen Besuch, gerne gucke ich bei dir vorbei.
Vor langer Zeit - Antworten
Heidrun Andere Länder, andere Sitten. Sehr interessant und aufschlussreich.

Deine Heidrun
Vor langer Zeit - Antworten
mukk Lieber Merrill, gratuliere dir herzlich zu dieser eindrucksvollen Geschichte, die mich in eine andere Welt entführt hat. Sehr anschaulich und interessant geschrieben. Auch beachtlich, wie gut du schreibst, obwohl deutsch nicht deine Muttersprache ist. Bravo!!!
Sei lieb gegrüßt!
Ingrid
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Dankeschön liebe Ingrid.
Vor langer Zeit - Antworten
JJ1968w Eine schöne Geschichte. In den 50er Jahren war es hier auch nicht viel besser mit den Ämtern. Mein Großvater hatte den Hof von seinem Vater geerbt und wollte ihn auf seinen Namen eintragen lassen. Aber da im Krieg sehr viele Papiere verloren gegangen waren, dauerte es auch zwei Wochen.
LG JJ
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Ähnliche Verhältnisse, unterschiedliche Ursachen. Opfer sind immer die unschuldigen Bürger.
LG ML
Vor langer Zeit - Antworten
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