Biografien & Erinnerungen
Erzähl doch mal - Multikulti

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"Erzähl doch mal - Multikulti"
Veröffentlicht am 24. Juli 2008, 8 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.
Erzähl doch mal - Multikulti

Erzähl doch mal - Multikulti

Vor mittlerweile sehr vielen Jahren hat meine Schwester sich entschlossen, nach Frankreich zu gehen. Sie hatte sich in den Ex-Mann einer Freundin verliebt, der Koch an der Mensa in Paris war. Sie war zwar damals noch verheiratet, konnte sich aber mit ihrem ersten Mann sehr gut arrangieren. So packte sie also ihre sieben Sachen und richtete sich auf ein neues Leben in Frankreich ein. Bevor sie sich auf die Reise machte, fragte ich sie, ob sie denn überhaupt Französisch sprechen könne. „Ach“, meinte sie: „Für den Hausgebrauch wird es schon reichen.“ Da auch meine Französischkenntnisse nicht sehr gut sind, fragte sich sie also: „Was heißt denn z. B. Guten Tag?“ Mit stolzgewölbter Brust antwortete sie: „Bonaparte.“ Ich lag vor Lachen fast unter dem Tisch. Sie ließ sich dadurch aber nicht von ihrem Entschluss abhalten und schlug in Paris ihre Zelte auf.

Schon wenige Wochen später besuchte sie uns mit ihrem neuen Freund Daniele, der allerdings genauso wenig Deutsch sprach, wie ich Französisch. Daniele erbot sich, für uns zu kochen, was wir auch sehr gerne annahmen, nicht nur, weil wir die französische Küche alle nicht kannten, sondern auch – naja, er war immerhin Koch und dazu noch in Frankreich, so ein Angebot kann doch wirklich niemand ausschlagen. Also kochte Daniele ein hervorragendes Abendessen. Immer wieder leckten wir uns die Lippen und gaben abwechselnd ein: „Mmm, lecker“, von uns.

Am nächsten Morgen stand meine Mutter in der Küche, um das Frühstück zuzubereiten, als Daniele schlaftrunken durch die Küche Richtung Badezimmer schlenderte. Höflich, wie wir in meiner Familie nun einmal sind, fragte meine Mutter ihn: „Und, wie hast du geschlafen?“ Daniele lächelte sie an und erwiderte: „Mmmm lecker.“

 

Sehr lange hielt diese Beziehung nicht, aber meine Schwester ist in Frankreich geblieben. Dort lernte sie auch ihren jetzigen Mann kennen und lieben. Mittlerweile sind sie seit vielen Jahren verheiratet. Manchmal beneide ich sie um ihr Glück, aber ich gönne es ihr von Herzen.

 

So kam es aber auch, dass uns die Tochter von Ghislains bestem Freund, Sandrine besuchte. Sie fühlte sich bei uns sehr wohl, weil unsere Babysitter in ihrem Alter waren und sie so sehr viel mit ihnen unternehmen konnte. Gleichzeitig hatte sie so auch die Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen, die sie später gerne studieren wollte. Als Sandrine zum ersten Mal bei uns war, verständigten wir uns in einer Mischung aus Englisch, Französisch und Deutsch. Für Außenstehende muss das sehr witzig geklungen haben. Es führte aber auch zu Situationen, an die ich mich noch heute sehr gerne erinnere. Beispielsweise haben wir einmal zum Zeitvertreib Kniffel gespielt. Sandrine würfelte, starrte auf ihre Würfel und rief aus: „Oh, fast eine große Scheiße.“

Ein anderes Mal bot sie mir an, das Dressing für den Salat zuzubereiten. Emsig hantierte sie mit Öl, Essig und verschiedenen Gewürzen, sah mich an und fragte: „Wie sagt man in Deutschland eigentlich zu to put?“ Ich antwortete: „Sandrine, dafür gibt es in Deutschland mehrere Begriffe.“  Prompt sagte sie: „Ich begriffe immer mehr Essig als Öl.“

Es machte einfach Spaß, Sandrine zu Besuch zu haben. Wir haben viel gelacht. Auch die Kinder freuten sich immer, wenn Sandrine uns besuchte. Mit ausgestreckten Armen liefen sie stets auf sie zu.

Irgendwann bat sie uns um einen Gegenbesuch in Rouen. Gern nahmen wir an. Meine Schwester wohnte damals mit ihrem Mann in Versaille. Sie wollte in der Zeit, immerhin zehn Tage, in der wir uns in der Normandie aufhielten, meine drei Kinder im Alter von 12, 8 und 4 Jahren zu sich nehmen. Mit Engelszungen sprach ich auf sie ein, dass es sicherlich besser wäre, sie würde immer nur ein Kind bei sich aufnehmen, wir könnten dann ja im Laufe unseres Urlaubs tauschen, aber sie blieb standhaft. „Stört es dich vielleicht, dass ich keine eigenen Kinder habe?“ fragte sie. „Nein“, meinte ich: „Ich denke nur, da du es nicht gewohnt bist, drei Kinder bei dir zu haben, könnte es etwas stressig für dich werden.“ Das war sogar noch untertrieben, denn ich kannte meine Kinder und wusste, wie aufregend jeder Tag mit ihnen verlief. Aber na gut, wenn sie unbedingt wollte, sollte sie doch ihre eigenen Erfahrungen machen. Also lieferten wir unsere drei Kinder in Versaille ab und machten uns auf den Weg in die Normandie. Fünf ganze Tage hielt meine Schwester es aus, dann brachte sie uns die Kinder nach Rouen und meinte erschöpft: „Ich glaube, es ist besser, wenn ich die Kinder in Zukunft nur einzeln zu mir nehme. Stell dir bloß mal vor, sie wollten mit dem Hund spazieren gehen, ein Kind stand mit Hund im Fahrstuhl, ein anderes mit dem anderen Ende der Leine vor dem Fahrstuhl, als die Fahrstuhltür zuging. Ich konnte gerade noch rechtzeitig eingreifen. Ich bin völlig fertig.“ So sah sie auch aus. Aber ich hatte sie ja gewarnt.

Diese wenigen Tage bei den außergewöhnlich gastfreundschaftlichen Menschen in der Normandie, die ich bisher noch nicht kannte, all die Menschen, die ich inzwischen in Frankreich kennen- und liebengelernt habe, diese Herzlichkeit, diese Ruhe und Geduld, ach, was soll ich sagen, ich liebe die französische Mentalität und bin froh, dort Verwandte zu haben.

Würde ich alle gewonnenen Eindrücke hier schildern, so würde das viele Seiten füllen. Die Sprache kann ich zwar immer noch nicht, aber ich bewundere meine Schwester für diesen Schritt, dafür, dass sie sich durchgekämpft hat, dass es ihr gelungen ist, in kurzer Zeit die Sprache zu lernen. Am Anfang fiel es ihr schwer, sie war verrückt nach deutschen Büchern und deutschen Zeitschriften, zwang sich aber, regelmäßig auch französische Lektüre zu lesen. Dann irgendwann erzählte sie mir, dass sie nun sogar auf Französisch träumen würde.

Heute kommt es immer öfter vor, dass sie mich fragend ansieht und sagt: „Wie sagt man bei euch dazu?“ Mittlerweile ist meine Schwester eine echte Französin.

Als ich vor Jahren einer Kollegin von meiner Schwester in Frankreich erzählte, meinte diese: „Das habe ich mir gleich gedacht, so wie Sie aussehen.“ Irrtum, ich bin urdeutsch, aber wenn sie meint.

Manchmal fühle ich mich wirklich multikulti: Verwandtschaft in England, in Polen, in Frankreich und durch meinen Schwager sogar in Spanien. Es ist ein erhebendes Gefühl und ich habe so gar nichts dazugetan. Vielleicht ist es aber dieses Gefühl, dass durch die Verwandtschaft Teile von mir über die ganze Welt verteilt sind, das mich offen macht für die Welt und für alle Menschen.

 

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Chrissy55
Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.

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Rehmann Re: Re: Erzähl doch mal -
Zitat: (Original von Chrissy55 am 25.07.2008 - 11:20 Uhr)
Zitat: (Original von Rehmann am 25.07.2008 - 11:06 Uhr) Eine interessante Familiengeschichte, wunderbar erzählt !
Hat Spaß gemacht sie zu lesen ! *****
LG
H. Rehmann


Vielen Dank Horst, meiner Schwester ist es damals gelungen, trotz ihrer mageren Französischkenntnisse nach einem halben Jahr in Frankreich in einem Büro zu arbeiten. Daran muss ich immer denken, wenn ich sehe, dass es vielen Einwanderern bei uns nach Jahren nicht gelingt, so gut Deutsch zu lernen, dass sie sich wenigstens verständigen können. Ich denke dann, wenn sie hier leben wollen, müssen sie sich doch auch verständigen können. Wie siehst du das?
LG Chrissy

Das sehe ich genau so !
LG
H. Rehmann
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Chrissy55 Re: Erzähl doch mal -
Zitat: (Original von Rehmann am 25.07.2008 - 11:06 Uhr) Eine interessante Familiengeschichte, wunderbar erzählt !
Hat Spaß gemacht sie zu lesen ! *****
LG
H. Rehmann


Vielen Dank Horst, meiner Schwester ist es damals gelungen, trotz ihrer mageren Französischkenntnisse nach einem halben Jahr in Frankreich in einem Büro zu arbeiten. Daran muss ich immer denken, wenn ich sehe, dass es vielen Einwanderern bei uns nach Jahren nicht gelingt, so gut Deutsch zu lernen, dass sie sich wenigstens verständigen können. Ich denke dann, wenn sie hier leben wollen, müssen sie sich doch auch verständigen können. Wie siehst du das?
LG Chrissy
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Rehmann Erzähl doch mal - Eine interessante Familiengeschichte, wunderbar erzählt !
Hat Spaß gemacht sie zu lesen ! *****
LG
H. Rehmann
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