Kurz darauf spürte sie, wie leichte Wellen ihre Füße berührten und sich dann wieder von ihr entfernten. Das Meer war jetzt schon sehr nahe, näher, als es ihr lieb war. Der Wind drückte ihr leichtes Sommerkleid an ihren Körper. Handy, dachte sie, wenn sie jetzt ihr Handy hier bei sich hätte, könnte sie jemanden anrufen, dann könnte sie um Hilfe rufen, aber das Handy lag im Ferienhaus auf dem Küchentisch. In der Eile hatte sie nicht daran gedacht, es mitzunehmen. Du kannst um Hilfe rufen, dachte sie, doch wenn sie jetzt rufen würde, würden ihre Rufe sicherlich in der Weite des Meeres verhallen. Mittlerweile hatte sie sich schon umgedreht und den Rückweg zum Strand eingeschlagen. Doch schnell holten die Wellen sie ein. Sie spürte Angst in sich aufsteigen, Angst vor dem Meer, Angst davor, dass sie es nicht rechtzeitig zum Strand schaffen würde, aber auch Angst davor, dass niemand sie vermissen würde. Könnte es sein, dass er sich Sorgen um sie machen würde? So wie sie ihn kannte, hatte er in Ruhe zu Ende gefrühstückt, dann alles auf dem Tisch stehen lassen und sich an den Fernseher verzogen. Vermissen würde er sie wahrscheinlich erst dann, wenn er wieder Hunger bekam, aber dann konnte es zu spät sein.
Sie lief, lief um ihr Leben, lief vor dem immer schneller immer näher rückenden Meer davon. In ihr erwachte ein Überlebenswille, der sie die einsetzenden Seitenstiche vergessen ließ, der sie anspornte, immer schneller zu laufen. Dann blieb zu abrupt stehen. Vor ihr befand sich ein Fluss, zumindest kam es ihr so vor. Es war ein breiter Streifen Wasser, der sich Richtung Küste schlängelte. Konnte sie dort hindurchwaten? Wie tief würde er sein? Gab es darin vielleicht eine Strömung, die sie unter Wasser ziehen würde, der sie nicht entkommen könnte? Das in immer größeren Wellen herannahende Meer nahm ihr die Entscheidung ab. Sie leckte sich über die Lippen und schmeckte Salz. Sie hätte nie gedacht, dass sogar die Luft hier salzig sein würde. Mit ausholenden Bewegungen raffte sie ihr Kleid hoch bis zu ihrer Taille und trat wagemutig in das Wasser. Schon vorher hatte sie bemerkt, dass das Watt nicht mehr so fest und angenehm an den Füßen war sondern zunehmend glitschiger wurde. Auch jetzt rutschte sie fast aus. Sie ließ das Kleid los, ruderte mit den Armen und fand so das Gleichgewicht wieder. Ach Scheiß auf das Kleid, dachte sie, solange sie nur heil am Strand ankommen würde. Schon bald reichte ihr das Wasser bis über die Hüften. Die Strömung war stärker, als sie erwartet hatte. Sie kämpfte sich mit rudernden Armen durch das Wasser. Immer wieder drohte sie auszurutschen, aber sie ging beherzt weiter. Bei Einsetzen der Flut laufen die Priele immer als erstes voll. Das wusste sie natürlich nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, wie breit so ein Priel werden konnte und wie tief. Sie war noch nicht ganz in der Mitte des Priels angekommen, als ihr das Wasser schon bis auf Hüfthöhe reichte. Langsam machte sich Erschöpfung in ihr breit, denn der Kampf gegen die Strömung kostete sie all ihre Kraft. Schwimmen, dachte sie für einen kurzen Moment. Du kannst doch schwimmen, vielleicht wäre es vernünftiger zu schwimmen, aber eine innere Stimme sagte ihr, wenn sie jetzt den Boden unter den Füßen verlieren würde, würde die Strömung sie gnadenlos mit sich reißen, sie unter die Wasseroberfläche drücken und schwach, wie sie sich momentan fühlte, wäre sie dem Wasser hilflos ausgesetzt. Also stapfte sie entschlossen weiter. Hinter sich hörte sie das Rauschen des Meeres, das sich tatsächlich ähnlich anhörte, als wenn man eine dieser großen Muscheln ans Ohr hält. Vor sich vernahm sie die Stimmen der anderen Strandbewohner leise, immer noch viel zu weit entfernt. Sie vernahm Kinderlachen und die Stimmen besorgter Mütter: „Geht nicht zu weit hinaus, ihr wisst ja, die Flut kommt.“ Ach, wie wünschte sie sich jetzt, ihre Mutter hätte ihr vor diesem Abenteuer den gleichen Rat gegeben. Sie bezweifelte aber, dass sie dann auch auf ihre Mutter gehört hätte, denn auch ihre Mutter war von diesem Schwiegersohn nicht begeistert gewesen. Vielleicht lag es auch daran, das alle Welt gegen diese Beziehung war, dass sie diesen Mann unbedingt heiraten musste. Sie war schon immer ein kleiner Trotzkopf gewesen. „Autsch!“ schrie sie, weil sie auf eine Muschel getreten war, die sich tief in ihren Fuß geschnitten hatte. Instinktiv hatte sie das Bein angezogen und nach der Wunde getastet. Im selben Moment zog die Strömung sie unter Wasser. Wild schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen. Sie kam noch einmal kurz an die Wasseroberfläche, schnappte keuchend nach Luft und wurde dann von der starken Strömung mitgezogen. Noch ein weiteres Mal schaffte sie es, den Kopf aus dem Wasser hinauszuheben: „Hilfe!“ schrie sie und wurde kurz darauf bewusstlos.
„Sie lebt“, hörte sie wie durch Watte eine Frauenstimme nah an ihrem Kopf sagen: „Man, hätte de ein Dusel hat, wie kann man ok alleen bi düssen Nebel so wiet in das Watt lopen? Dor hangt man överall de Regeln för Verhalten im Watt op un de Touris meent, se haln de Klogheit mit Löpeln freeten un kümmert sick ein Schiet dorüm. Is doch wohr.“ Sie war sehr erbost.
„Lot man gut ween“, vernahm sie jetzt eine dumpfe Männerstimme schon etwas klarer: „Se is ant Leben, alleen dat tellt, ick kümmer mi nun um ehr.“ „Jaja“, jetzt klang die Frauenstimme schon fast zeternd: „Wenn du sone Blondine sühst, denn geit dat mit die dör. Mi bruks wohl nie mehr.“ Mit diesen Worten drehte die Frau sich um und stapfte an den Strand.
Langsam schlug sie die Augen auf so gut es ging, denn ihr ganzes Gesicht schien mit Schlamm bedeckt zu sein. Sie blinzelte und sah in die wärmsten braunen Männeraugen, die sie je gesehen hatte. „Na, mien Deern, wie geit die dat? Ik bün Dirk.“ Gab diese sanfte tiefe Männerstimme von sich. Sie verstand kein Wort. Hatte das Wasser sie jetzt sogar bis nach Dänemark gezogen? Was war das für eine Sprache, die hier gesprochen wurde? „Wo bin ich?“ flüsterte sie. „Gott sei Dank nicht mehr im Wasser“, gab die angenehme Männerstimme jetzt von sich: „Meine Cousine hat völlig Recht, wie kann man nur so dumm sein und allein so weit hinauslaufen? Das weiß doch jeden Kind, dass die Flut schneller kommen kann als man meint.“ Dirk hob sie mit starken Armen hoch und trug sie auf den Rasen am Deich. Dann wischte er ihr mit einem feuchten Handtuch über ihr Gesicht und entfernte Schlamm und Salz. Endlich konnte sie klar sehen. Was sie sah, gefiel ihr ausgesprochen gut. Neben ihr kniete ein kräftiger junger Mann, braungebrannt und von kräftiger Statur. Er erzählte ihr, dass er in den Prielen bei Ebbe Krabben fing, wie es viele Einheimische machen würden. Immer kurz vor Einsetzen der Flut würde er seine Kisten kontrollieren. Heute war er spät dran und das war gut so, denn nur so hatte er sie gefunden. Sie war ihm, wie er sagte, quasi vor die Füße gefallen. Er hatte sie auf seinen Handkarren geladen, dafür aber seinen kostbaren Fang im Watt stehen lassen müssen und war mit ihr an den Strand gekommen kurz bevor die Flut die Küste erreichte. Mühsam richtete sie sich auf und blinzelte zum Meer, das jetzt regelmäßig mit leichten Wellen an die Küste schwappte. Auf den Wellen waren kleine weiße Schaumkronen zu sehen. Die Sonne spiegelte sich im Meer wider. Das war ein Bild, das sie nicht so schnell wieder vergessen würde. Langsam spürte sie ihre Kräfte wieder erwachen. Er hatte doch etwas vom Krabbenfischen und von Kisten gesagt, die er abgestellt hatte, um sie retten zu können. „Wo sind die Kisten jetzt?“ fragte sie. Auch sein Blick war auf das Meer gerichtet: „Im Meer, aber das ist das kleinere Übel, morgen werde ich sicher wieder neue Krabben fangen. Das Meer hat sich von uns schon ganz andere Dinge geholt. Man sollte das Meer wirklich nicht unterschätzen.“
Sie befand sich in einem absoluten Gefühlschaos: Einerseits war sie noch erschöpft von diesem Abenteuer, andererseits fasziniert von dem Anblick, der sich ihr bot, nicht nur der Anblick des Meeres, das sich bis zum Horizont erstreckte, sondern auch der des jungen Mannes, der sie jetzt unterhakte und meinte: „Komm, du brauchst jetzt erst einmal eine schöne Tasse starken Tee. Geht es oder soll ich dich tragen?“ Dabei grinste er über das ganze Gesicht. „Nein“, sagte sie: Geht schon.“ Aber schon bei den ersten Schritten spürte sie den tiefen Schnitt von der Muschel, der enorm schmerzte. Sie sah auf ihre Füße hinab und sah eine ca. 1 cm tiefe Wunde, die sich an der Innenseite ihres Fußes befand. Allerdings blutete diese Wunde nicht, was sie eigentlich erwartet hätte, aber sie brannte wie Feuer. Er folgte ihrem Blick, betrachtete die Wunde und erklärte ihr, dass es immer wieder passierte, dass sich jemand an einer Muschel schnitt. „So wehrt sich die Natur“, meinte er: „Aber diese Muschel muss besonders groß und scharf gewesen sein. Ich werde dich gleich verarzten. Meine Cousine und ich wohnen gleich dort auf der anderen Seite des Deiches. Halt dich an mir fest, es sind nur ein paar Meter. Dann kannst du mir erzählen, welcher Teufel dich geritten hat, diese Dummheit zu begehen.“ Tadelnd und lächelnd schüttelte er den Kopf und machte sich mit ihr zusammen auf den Weg. Auf halber Strecke den Deich hinauf drehte sie sich um, blickte zum Meer zurück und sagte: „Meine Schuhe sind da irgendwo.“ Sie zeigte in die Richtung des Meeres, meinte aber natürlich den Strand. „Frauen und Schuhe, das werde ich wohl nie verstehen. Die hat jetzt wohl auch das Meer. Schuhe kann man kaufen, das Leben aber nicht.“ Ein Philosoph, dachte sie, ob der mir gut tun wird.
Wenn ihr es wissen wollt, schreibe ich weiter. Lasst es mich wissen.
Chrissy55 Re: Meer - Zitat: (Original von PaulG am 23.07.2008 - 20:32 Uhr) Hallo Chrissy Na klar wollen wir es wissen - schreib bitte weiter, ist eine ganz tolle Geschichte... ***** LG, Paul Danke Paul, ich werde mich so bald wie möglich daran machen, wollte aber auch Stefan Storch noch zuende schreiben in meinem Urlaub. Es freut mich, dass es dir gefällt. LG Chrissy |