Die freundliche Frau führte Hannelore in ein Büro. Eine große Kastanie vor dem Fenster tauchte den Raum in gedämpftes Licht. Vor dem Fenster stand ein riesiger Schreibtisch, hinter dem die Frau sich auf einen schwarzen Lederstuhl setzte. An der linken Wand stand ein großes Regal, das bis zur Decke reichte. Dieses Regal war angefüllt mit Ordnern. Hannelore konnte nicht lesen, also interessierte sie auch nicht, was in den Ordnern sein konnte. Vielmehr wurde sie von einer Pinwand angezogen, die sich auf der anderen Seite des Raumes befand und voller Babyfotos war. Da sah man junge Mädchen, die strahlend ein Baby im Arm hielten, ganz frisch geborene Babys, an denen man noch die Nabelschnur erkennen konnte, Babys, die gerade gebadet wurden, Babys, die gierig an einer Flasche saugten und auch friedlich schlafende Babys. Unter jedem Foto war ein Schriftzug angebracht, der Hannelore aber auch nicht interessierte, denn lesen konnte sie diese ja sowieso nicht.
Hannelore stand staunend vor dieser Pinwand. Ihre Arme hingen schlaff an ihrem Körper herunter, als sie hinter sich die freundliche Stimme vernahm: „Setz dich doch. Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Peters. Die Babys, die du da siehst, sind alle hier geboren worden. Sind sie nicht süß?“ Hannelore nickte, wandte sich um, ging die wenigen Schritte auf den Schreibtisch zu und ließ sich schwerfällig in den braunen Sessel vor dem Schreibtisch fallen. „Wie heißt du eigentlich?“ fragte Frau Peters. „Hannelore“, flüsterte Hannelore und sah auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Sie fühlte sich verloren in diesem großen Büro und irgendwie ausgeliefert. Vielleicht wäre sie doch besser weggelaufen, aber jetzt war es dafür zu spät. „Du bekommst also ein Baby? In welchem Monat bist du denn?“ Die Stimme von Frau Peters war gleich bleibend ruhig und freundlich. „Monat? Weiß nicht.“ Murmelte Hannelore. „Naja, macht nichts. Wir haben hier einen Arzt, der jederzeit für die Mädchen da ist, dann gehen wir gleich zu ihm und er wird dich untersuchen.“ „Arzt, nein!“ Hannelore dachte an den Arzt, bei dem sie erst heute war, dachte an diesen furchtbaren Stuhl, daran, wie er sie untersuchte, wie sie sich dabei gefühlt hatte. Das wollte sie nicht noch einmal erleben. Sie sprang auf und rannte Richtung Tür. Schnell war Frau Peters bei ihr. Sie legte ihr die Hände auf die Schultern und meinte in ihrem gleich bleibend ruhigen Ton: „Beruhige dich doch, Hannelore, das hat noch Zeit. Komm, setz dich wieder, wir unterhalten uns erst einmal. Hast du Durst, möchtest du etwas trinken? Oder hast du Hunger? Soll ich dir etwas bringen lassen?“ Ja, Durst hatte Hannelore, schrecklichen Durst sogar. Sie war aber so aufgeregt, dass sie das erst jetzt bemerkte. „Cola“, flüsterte sie. Frau Peters verließ den Raum und kam kurz darauf mit einer kleinen Flasche Cola und einem Glas zurück. Sie stellte beides vor Hannelore auf den Schreibtisch und erklärte ihr dann: „Du solltest jetzt eigentlich besser keine Cola trinken, das ist nicht gut für dein Kind, aber jetzt machen wir mal eine Ausnahme.“ Hannelore setzte die Flasche an, ohne auf das Glas zu sehen und trank die Flasche in einem Rutsch halbleer. Mit einem lauten Ah setzte sie die Flasche ab und gab einen leisen Rülpser von sich: „Das war gut.“ Frau Peters lächelte gütig: „So, nun erzähl mir mal ein bisschen von dir. Wo sind denn deine Sachen?“
Hannelore erzählte stockend von dem Besuch beim Arzt, von der Reaktion ihrer Mutter, von ihrer Angst und dass sie einfach nur gelaufen war, ohne zu wissen wohin und dass sie gar keine Sachen dabeihabe. Zurückgelehnt mit einem stetigen Lächeln auf dem Gesicht hörte Frau Peters ihr zu. Dabei spielte sie ab und zu mit einer Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. So viel hatte Hannelore schon lange nicht mehr geredet. Sie fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, einfach nur müde. Der Kopf wurde ihr schwer, sie blinzelte und gähnte herzhaft.
Frau Peters stand auf, ging um den Schreibtisch herum, legte Hannelore eine Hand auf die Schulter und sagte: „Du solltest erst einmal ein wenig schlafen, Hannelore. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“
Hannelore stützte beide Hände auf die Lehnen des Sessels, stand auf und folgte Frau Peters mit schlurfenden Schritten. Sie gingen einen langen Flur entlang. Dumpf hallten ihre Schritte auf den Fliesen. Ab und zu zeigte Frau Peters auf die Türen und erklärte Hannelore, was sich hinter diesen Türen befand. An den Wänden hingen bunte Bilder, die aussahen, als hätten Kinder sie gemalt. Am Ende des Flures befand sich eine große Treppe, die Hannelore an ihre frühere Schule erinnerte. Sie stiegen gemeinsam diese Treppe hinauf und erreichten einen lang gezogenen Flur, der in gedämpftes Licht getaucht war. Rechts und links befanden sich viele Türen. An jeder Tür waren mit bunten Buchstaben Namen angebracht. Ganz am Ende des Flures öffnete Frau Peters eine Tür, auf der sich nur ein Name befand. „Es sind hier immer zwei Mädchen pro Zimmer untergebracht“, sagte Frau Peters: „damit sie sich gegenseitig helfen können und uns Bescheid sagen können, falls irgendetwas ist. Du hast Nicole ja schon kennen gelernt. Du wirst das Zimmer mit ihr teilen. Ich hoffe, es gefällt dir.“
Hannelore war mittlerweile so müde, dass es ihr ziemlich egal war, wo sie schlafen würde. Sie wollte einfach nur ein Bett und ein Kissen.
Schwungvoll öffnete Frau Peters die Tür und Hannelore stand in einem lichtdurchfluteten Raum. Hell strahlte die Sonne in dieses Zimmer. In so einem großen Zimmer hatte Hannelore noch nie geschlafen. Zwei hohe Fenster ließen die Sonnenstrahlen hinein. Auf jeder Seite des Zimmers befand sich ein Bett, an deren Fußende ein kleines Kinderbettchen stand. Zu beiden Seiten der Tür befand sich ein hoher Kleiderschrank, neben dem jeweils eine kleine Wickelkommode stand. Zwischen den beiden Fenstern stand eine Kommode, auf der sich ein kleiner Fernseher befand. In der Mitte des Raumes befanden sich ein kleiner flacher Tisch sowie zwei niedrige Sessel. Die Möbel auf der einen Seite waren orange, die auf der anderen Seite hellgrün. Hellgrün war Hannelores Lieblingsfarbe. Grün ist die Hoffnung hatte ihre Oma immer gesagt. Ihre Oma, die der einzige Mensch war, außer Peter natürlich, der sie wirklich geliebt hatte. Ihre Oma, die viel zu früh gestorben war und Hannelore allein gelassen hatte, allein in dieser schrecklichen Welt. Grün ist die Hoffnung, ja, es gab sie, die Schutzengel, die auf alle Menschen aufpassen. Oma war Hannelores Schutzengel. Sie hatte Hannelore hierher geführt.
„Die grüne Seite ist deine“, erklärte Frau Peters lächelnd: „Leg dich erst einmal hin und schlaf ein bisschen, ich wecke dich dann zum Abendessen.“ Frau Peters trat ans Fenster und schloss die schweren Vorhänge, die jetzt das große Zimmer in angenehmes, wohliges Licht tauchten. Hannelore streifte nur die Schuhe von den Füßen, kroch ins Bett, zog sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch, drückte ihren Kopf tief in das Kissen und schlief schnell ein. Frau Peters betrachtete sie lächelnd, verließ auf Zehenspitzen den Raum und schloss leise die Tür.
Hannelore fiel schnell in einen tiefen Schlaf. Sie träumte von Peter und ihrem Baby. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es ging ihr so gut, wie schon lange nicht mehr.