Ich habe mich trotz Höhenangst in die Luft gewagt
Bevor ich jetzt davon erzähle, wie ich zum ersten Mal geflogen bin, muss ich darauf hinweisen, dass ich Höhenangst habe. Ich kann noch nicht einmal eine Leiter erklimmen, die gerade mal zwei Meter misst. „Sieh nicht nach unten, sieh nicht nach unten“, waren in diesen Augenblicken, wenn es unbedingt erforderlich war, die warnenden Worte. Und was tat ich daraufhin? Ich sah nach unten, mir wurde schwindelig und ich musste den Aufstieg beenden.
Allerdings wollte ich unbedingt einmal allein meine Schwester in Frankreich besuchen. Deshalb bekam ich als Weihnachtsgeschenk von meiner Familie ein Flugticket, Hin- und Rückflug nach Paris. Einerseits freute ich mich wirklich riesig darauf, nicht nur, weil ich endlich meine Schwester wieder sehen und ein paar Tage mit ihr ganz allein verbringen konnte, sondern auch weil das für mich seit Jahren der erste Urlaub, genau genommen sogar die erste familienfreie Zeit seit vielen Jahren für mich war. Wenn da nur nicht meine Höhenangst wäre.
Schon als ich das Ticket holte hatte ich schweißnasse Hände, so aufgeregt war ich. Was nützt es da schon, dass im Reisebüro ein Spruchband lief mit dem Hinweis, dass alle Augenblicke irgendwo auf der Welt ein Lufthansajet startet oder landet? Ich hatte schlicht und ergreifend Angst, dass meine Höhenangst mir den ganzen Flug und all die Freude vermiesen würde.
„Dann setz dich doch in die Mitte, “ riet mir eine Kollegin, dann bekommst du doch so gut wie gar nichts mit.“ „Nein“, antwortete ich: „Wenn schon, denn schon, entweder ganz oder gar nicht.“ Tja, so bin ich eben, ich mache keine halben Sachen. Wenn ich mich schon dazu überwinde, in ein Flugzeug zu steigen, dann muss ich auch am Fenster sitzen.
Der Tag des Fluges kam näher und meine Angst stieg. Ich sollte mindestens eine Stunde vor dem Abflug am Flughafen sein. Also setzte ich meine Familie so unter Druck, dass wir tatsächlich zwei Stunden vor Abflug am Flughafen waren. Umgehend machte ich mich auf den Weg zum Schalter und bekam so tatsächlich einen Fensterplatz zugeteilt – toll.
Was sollten wir nun aber mit der Wartezeit anfangen? Meine Familie überredete mich, auf die Plattform zu gehen, um Flugzeuge zu beobachten. Ob das wirklich eine so gute Idee war? Ich war mir da nicht so sicher, willigte aber ein, schließlich wollte ich nicht als Angsthase vor meinen Kindern dastehen, obwohl ich ganz weiche Knie hatte. „Sind die aber klein“, entfuhr es mir: „Die sind ja nicht viel größer als ein Bus und damit soll ich fliegen?“ Meine Skepsis stieg von Minute zu Minute.
Schließlich wurde es Zeit für mich, den Weg zum Flugzeug anzutreten. Ich nahm all meine Lieben noch einmal kräftig in den Arm, wer weiß, ob ich das ganze Spektakel überleben und sie jemals wieder sehen würde? Außerdem, ich erwähnte es ja schon, war es meine erste Abwesenheit für längere Zeit von der Familie. Was für ein Chaos würde ich bei meiner Heimkehr anfinden? Aber darüber wollte ich jetzt ganz bestimmt nicht nachdenken, ich hatte völlig andere Sorgen, nämlich meine Höhenangst.
Mutig stieg ich in den Flieger, setzte mich auf meinen Fensterplatz und harrte der Dinge, die da auf mich zukommen würden. Erst einmal kam aber nichts weiter auf mich zu als die Durchsage: „Der Abflug wird sich um ca. eine halbe Stunde verspäten.“ Jetzt kam zu meiner Höhenangst noch die Angst, ob mit dem Flugzeug auch wirklich alles in Ordnung sei. Was für einen Grund konnte diese Verzögerung haben? Ich kannte doch den Witz, in dem auch so eine Durchsage gemacht wurde und es dann nach einer Stunde hieß: Jetzt können wir endlich fliegen, jetzt haben wir einen Piloten gefunden, der bereit ist, diese Schrottkiste zu fliegen.
Später erzählten mir meine Familienmitglieder, dass sie pünktlich zur Abflugzeit auf der Plattform gestanden und einem Flugzeug hinterher gewunken haben. Dabei haben sie mir alles Gute gewünscht, während ich auf der Landebahn war. War das ein gutes Omen?
Endlich sollte es losgehen. Langsam rollte das Flugzeug zum Start. Ich dachte noch einmal an die guten Ratschläge von Leuten, die schon einmal geflogen sind: „Das Schlimmste am Fliegen ist der Start. Du wirst mit Urgewalt in den Sitz gedrückt. Und dann der Druck auf den Ohren. Du musst Kaugummi kauen, Du musst dir die Ohren zuhalten, Du musst den Mund auf und zu machen bis es im Kiefergelenk knackt. Ich muss schon ziemlich dämlich ausgesehen haben, wie ich kaugummikauend den Mund immer wieder weit aufriss und mir dabei die Ohren zuhielt. Aber was soll es, mich kannte hier ja keiner und wenn es doch hilft. Es half aber nicht. Irgendetwas habe ich wahrscheinlich falsch gemacht.
Ich sah aus dem Fenster. Wo war meine Höhenangst? Sie war weg. Lag das daran, dass ich nicht mehr in irgendeiner Form mit der Erde verbunden war? Keine Angst, nur große Freude. Langsam wurden die Menschen, die Häuser, die Straßen und auch die Autos darauf kleiner. Dann sah ich plötzlich nichts mehr außer einer dicken Nebelschicht. Wir flogen durch die Wolken. Es war traumhaft schön. Über den Wolken sah ich ein Meer von weißen Bergen, die durch die Sonne in einen himmlischen rosaroten Schein getaucht wurden. Hin und wieder riss die Wolkendecke auf. Dann blickte ich auf die Erde hinunter. So hatte ich sie vorher noch nie gesehen. Schnurgerade Linien begrenzten die Felder. Städte, Dörfer, Seen, Wälder und Felder waren irgendwie zum Greifen nah aber unendlich klein. Die meiste Zeit des Fluges zogen wir allerdings über diese wunderschönen Wolkenberge dahin, die für mich ein rosa Traumland darstellten. Ich war begeistert.
Der Flug von Hamburg nach Paris dauert nicht wirklich lange. Schon bald brachen wir wieder durch die Wolkendecke und senkten uns der Erde entgegen. Schade, dachte ich, dass dieser Traum schon wieder vorbei ist. Den guten Ratschlägen folgend kaute ich wieder mit offenem Mund Kaugummi und hielt mir dabei die Ohren zu. Trotzdem hatte ich für ca. eine Stunde nach dem Flug einen Druck auf den Ohren und verstand meine Mitmenschen so, als wäre ich unter Wasser.
Meine Schwester und mein Schwager erwarteten mich schon sehnsüchtig. Auf dem Weg zu ihrem Haus erklärte sie mir, dass, wenn das Flugpersonal gewusst hätte, dass dies mein erster Flug war, vielleicht sogar die Möglichkeit für mich bestanden hätte, ins Cockpit zu gehen. „Ach lass mal, “ sagte ich: „Ich glaube, die haben das auch ganz gut ohne mich hinbekommen. Es war schon in Ordnung so.“ Ich habe das auch so gemeint, denn ich bin schon beim Autofahren eine schlechte Beifahrerin, die sich liebend gern am Haltegriff festklammert und ständig Kommentare von sich gibt wie: der da vorne bremst, die Ampel ist rot, Vorsicht, ein Radfahrer. Was soll also so eine wie ich es bin im Cockpit eines Flugzeuges? Ich glaube, ich hätte die Piloten schon in kürzester Zeit wahnsinnig gemacht und vielleicht sogar Flugverbot bekommen.
Meine Schwester und mein Schwager wohnen übrigens in der Einflugschneise des Flughafens Orly. Immer dann, wenn ich Zeit dazu fand, saß ich auf der Terrasse, beobachtete die Flugzeuge und dachte nur: Ich will auch wieder fliegen.
Schnell verging die Zeit in Frankreich und ich trat die Rückreise an. Bevor ich mich auf den Weg Richtung Flugzeug machen konnte, ermahnte meine Schwester mich: „Wenn ihr in Hamburg seid, musst du die Stewardess oder den Steward fragen, wo du dein Gepäck bekommt. Versprich mir, dass du das machst.“ Ich versprach es ihr.
Auf dem Rückflug, ich hatte wieder einmal einen Fensterplatz ergattert, sah ich bedeutend weniger von dieser wunderschönen rosaroten hellen Welt der Wolken, dafür aber vielmehr von der Erde. Ich versuchte festzustellen, über welcher Stadt wir uns befinden könnten, habe dabei aber leider versagt. Egal, ob ich über den Wolken schwebte oder ob ich viel Landschaft, Städte, Wälder und Felder sehen konnte, ich genoss es einfach nur. Es war wirklich traumhaft schön.
Abends um ca. 23.00 Uhr begann der Landeanflug auf Hamburg. Hell war die Stadt erleuchtet. Langsam senkte sich das Flugzeug der Erde entgegen. Getreu den guten Ratschlägen kaute ich auch jetzt mit offenem Mund und zugehaltenen Ohren Kaugummi, hatte aber schon kurz nach der Landung einen so immensen Druck auf den Ohren, dass ich all die Stimmen nur gedämpft wahrnahm. Trotzdem erinnerte ich mich an die Bitte meiner Schwester und sprach den Steward an: „Wo bekomme ich denn mein Gepäck?“ fragte ich. Er sah mich freundlich lächelnd an und sagte: „Ich versteh Sie nicht.“ Ich erwiderte: „Ich Sie auch nicht.“ Schnell verließ ich das Flugzeug. Ich war froh, dass ich diesem Menschen wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben begegnen würde. War das peinlich. Auch dieses Mal hielt der Druck auf den Ohren eine Weile an. Deshalb bat ich meine Familie, mich so lange in Ruhe zu lassen, bis ich wieder normal hören können würde. Für kleine Kinder ist das ein hartes Stück Arbeit, aber mir zuliebe haben sie es tatsächlich geschafft, mir etwa eine Stunde lang Zeit zu geben, zu meinem Gehör zurückzufinden. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und träumte vom Fliegen.
Ob man es glaubt oder nicht, geneigter Leser, seitdem bin ich ein absoluter Fan vom Fliegen. Ich habe zwar mittlerweile auch meine Höhenangst relativ gut im Griff, aber Höhenangst und Fliegen sind sowieso zwei völlig unterschiedliche Welten.
Dieses Ereignis ist nun schon einige Jahre her. Mittlerweile bin ich selbstverständlich schon öfter geflogen, aber diese erste Reise hat in mir eine Sehnsucht geweckt, die wahrscheinlich nur der nachvollziehen kann, der das Fliegen so genießt, wie ich es tue. Immer, wenn ich mich in der Nähe eines Flughafens aufhalte, schaue ich sehnsuchtsvoll zu den startenden und landenden Maschinen und denke dann: Ich will auch.