Kurzgeschichte
Hauptsache Worte - STORY-BATTLE NO.22

  „Was verdammt noch mal ist ein Fjord?“ V würde wirklich gern an dieser Battle teilnehmen, aber weder fiel ihr etwas dazu ein, noch wusste sie, was ein Fjord ist. Glücklicherweise verhilft das Internet zu einer schnellen Antwort. Beinahe melancholisch erinnert sie sich an die Zeiten zurück, als sie Stunden in der Bibliothek direkt neben ihrem Lieblingscafe verbrachte. An den immerwährenden Geruch von Bohnerwachs, die vielen abgegriffenen Büchern und der an der Eingangstür erworbene Zwang, alles besonders leise zu verrichten.

„Der stille Schrei“ in der Bibliothek.“ V lächelte, denn damit hatte sie bereits drei Begriffe der vorgegebenen 10 verarbeitet. Allerdings nur, wenn die Jury nicht päpstlicher als der Papst war und „melancholisch“ für „Melancholie“ durchgehen ließ. Aber sollte nicht auch ein Bezug zu dem Bild bestehen? Offensichtlich lag ja dem Wettstreit der Tagebucheintrag Munich`s zugrunde:

„Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinab. Die Sonne ging unter – der Himmel wurde blutrot, und ich empfand einen Hauch von Wehmut. Ich stand still, todmüde - über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter – ich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte den großen Schrei in der Natur ... Ich malte dieses Bild – malte die Wolken wie wirkliches Blut – die Farben schrien.“

„Spüre ich eigentlich auch den Schrei der Natur?“, überlegte V. Natürlich nicht tatsächlich, Gott sei Dank schreit die ja nicht, aber vielleicht beim Anblick des Bildes.

„Eher nicht“, horchte V in sich hinein. Das Gemälde machte ihr Angst und ließ sie erschaudern. Da ist eine Brücke am Meer, da ist Licht im Hintergrund und ein Dunkel, dass

den Schreienden verschlingen will. Ist dies der Gang des Irdischen, der Übergang vom Leben in den Tod? Mit den Lebensjahren wird die Brücke immer kürzer? Aber dann wäre ja das Leben hell und der Tod dunkel? Womit V wieder beim Papst wären, weil für den Christen das Dunkle hell sein muss. Todmüde hatte er ausgesehen, als er seinen Rücktritt verkündet hat. Wieso kann er eigentlich zurücktreten, er ist doch Nachfolger von Petrus?

„Gut“, dachte V, „die Nachfolge von Petrus hätte ich schon mal gar nicht angetreten.“ Der, der Jesus noch vor dem dritten Hahnenschrei verriet und dennoch seine Gnade empfing, der wollte sie nicht sein.

„Aber wenn der Papst zurücktreten kann, dann muss dies doch auch Gott können.“

.“ Dieser Gedanke fesselte V. Nein, es sollte jetzt kein Theodizee-Problem gewälzt werden. Wenn jedoch ein Apostel zurücktreten kann, dann muss es Gott wohl erst recht können. Und wenn er es tut?

Würde man dann den Schrei der Natur, den das Bild nach den Eintragungen des Künstlers  darstellt, vernehmen? Eine Chance würde bestehen; das Jenseits fiele ja weg und man müsste sich viel mehr damit beschäftigen, was man im Diesseits mit seiner Umgebung anrichtet. Und natürlich mit sich und seinem Leben. V. war sich nicht sicher, ob gerade die Reihenfolge stimmt. Erst die Umwelt und dann sie oder umgekehrt? War erst die Henne da oder das Ei? Es hat einen Hauch von Sicherheit, dem Jetzt zu vertrauen und nicht nur das Dann mit einen Ablassbrief zu erkaufen. Die Katze im Sack zu kaufen. Blöderweise war nur die Sicherheit endlich.

Wohin dann aber mit den ganzen Feuerzungen der

der industrialisierten Wegwerfgesellschaft 3.0, die den eigenen Untergang kräftig vorantreiben? Schaufele ich dein Grab, dann schaufele ich mein Grab.

„Ich will den Schrei nicht sehen“, dachte V und trat in die Sonne. Das Hören hatte sie bereits verlernt und so konnte sie sich weiter in Sicherheit wiegen. „Blutrot schreibe ich jetzt noch“, dachte sie „und dann habe ich meine Wörter zusammen.“ Aufgabe erfüllt. Kein Bild mehr, kein Schrei und keine Gedanken um den Papst. 10 Wörter waren Pflicht und nicht der Inhalt.

Sie schrieb ihren Text zu Ende und schlug die Bildzeitung auf. „Wir sind Mensch“ stand dort. V beschloss, sich daran an einem Karfreitag erinnern zu wollen.