Kurzgeschichte
Der Gründe gibt es viele

Einleitung

Im Jahr 2013 haben die Jugendämter in Deutschland 42.100 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 1.900 Minderjährige (+ 5 %) mehr als 2012. 

Die Zahl der Inobhutnahmen hat in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2008 (32.300 Inobhutnahmen) stieg sie um 31 %. Der häufigste Anlass für die Inobhutnahme eines/einer Minderjährigen war mit einem Anteil von 40 % (16.900 Kinder und Jugendliche) die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils.

(Quelle: Statistisches Bundesamt) Titelbild und Text: Copyright by MerleSchreiber (November 2012)

Der Gründe gibt es viele

„Setz` deine Mütze auf“, höre ich sie sagen, „wenn wir uns nicht beeilen, erreichen wir den Zug nicht mehr“. Mama packt ein paar Sachen von mir in eine große Plastiktüte und schließt die Haustüre auf.

„Nein“, schreie ich und halte mich an einer Sprosse des Treppengeländers fest. Ich sitze auf der ersten Stufe der Holztreppe, die zum oberen Stockwerk führt. Dort oben steht mein Bett in der kleinen Kammer......

Es gibt viele Gründe, warum man Kinder in einer Kammer einsperrt.

Wenn sie ihr Bett nass gemacht haben oder wenn etwas kaputt gegangen ist. Oder einfach, weil sie böse sind.

Ich bin so ein böses Kind!

Manchmal war ich auch froh, dass ich dort oben eingesperrt war. Ich war in Sicherheit, wenn die fremden Männer gekommen sind. Durch die Wand habe ich gehört, wie sie lachten und dumme Wörter sagten. Meine Mama hat auch gelacht und später hat sie dann gekeucht und gestöhnt. Manchmal ist sie auch mit den Männern weg gegangen und ich war zwei oder drei Tage allein. Ich hatte Hunger und Durst. Und Angst. Aber

Mama ist jedes Mal wieder zurückgekommen. Und einmal hat sie mir sogar ein Überraschungsei mitgebracht. Weil sie mich liebt, hat sie gesagt. Obwohl man so ein böses Kind, wie ich es bin, eigentlich gar nicht lieb haben kann. Seit ein paar Wochen kommen keine Männer mehr zu uns.

Jetzt kommt nur noch einer, Alfred. Alfred hat mir letzte Nacht eine Flasche um den Bauch gebunden und meinen Penis hineingesteckt.

„So, jetzt kannst Du pullern, so viel du willst“, hat er gesagt.

Alfred mag mich nicht. Aber Mama

möchte mit ihm ein neues Leben anfangen. Und nun soll ich meine Mütze aufsetzen, weil sie mit mir nach Neustadt fahren will. Es gibt viele Gründe, warum man Kinder weg gibt! Ich hoffe, dass die Menschen, zu denen ich kommen werde, auch böse Kinder mögen.