Fantasy & Horror
Bloody Mary

Kathy Sherryl

BLOODY MARY

PROLOG

Crossfield Church, Maryland31. Oktober 1821

Sie war unrein, alles, was sie berührte, war beschmutzt.
Sie blickte auf ihre kleinen Hände hinab. Sie wirkten sauber, doch dies täuschte. Sie waren schmutzig, voll Dreck, den sie niemals würde abwaschen können.
Und nun haftete an ihnen auch der Tod.
Sie sah auf. Ihr Bruder lag zu ihren Füßen auf dem Rasen hinter ihrem Haus. Sein Kopf war geneigt in einem grotesk aussehenden Winkel, seine Augen, leer und offen, starrten in den Himmel, ohne, dass sie etwas sahen. Blut hatte sich unter seinem Kopf zu einer dunklen Lache im Gras ausgebreitet.
Er war tot.
Sie hatte ihn umgebracht.
Es war ein Versehen gewesen, sie hatte ihn nicht töten wollen. Und dennoch war es geschehen.
Sie hatten nur gespielt, ihr jüngerer Bruder und sie. Sie spielten jeden Tag zusammen. Nie war etwas geschehen, denn man hatte sie beide gelernt, Vorsicht zu walten. Sie wussten, was passierte, wenn sie nicht aufpassten. Ihr Vater würde kommen und sie bestrafen.
Aber sie stritten sich oft. Ihr Vater hatte nichts dagegen, wenn sie stritten, sie sollten nur niemanden dabei stören. Und sie durften sich natürlich nicht schlagen, kämpfen war verboten. Es könnte etwas kaputt gehen. Darum mussten sie immer, wenn sie sich stritten, nach draußen in den Garten.
Heute hatten sie sich nicht gestritten. Sie hatten nur gespielt. Und nun war das Undenkliche geschehen.
Ihr Bruder war tot.
Weil sie ihn geschubst hatte. Warum, wusste sie nicht. Als sie ihn mit dem Rücken zu sich dort stehen sah, hatte sie ihn unbedingt schubsen wollen. Einfach so. Also hatte sie es getan. Und er war gefallen.
Dass er aber mit dem Kopf auf einen spitzen Stein fallen würde, das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte auch nicht gedacht, dass er sterben würde, nur weil sie ihn schubste.
Nun war es zu spät und ihr Vater würde bald nach Hause kommen.
Was sollte sie nur tun?
Sie starrte noch immer ihren Bruder an. Eine tiefe Leere hatte sich in ihr ausgebreitet, als sie erkannt hatte, dass sie ihn getötet hatte. Jetzt füllte sich diese Leere mit einem seltsamen neuen, fremden Gefühl.
Sie wusste, sie sollte trauern. Ihr Bruder war gestorben und das durch ihre Hand. Sie sollte weinen, Schmerzen fühlen durch diesen Verlust. Sie sollte sich schuldig fühlen, für das was sie getan hatte.
Sie sollte Angst haben. Angst vor dem, was ihr Vater mit ihr machen würde. Die Strafen, die sie hatte unter seiner Hand in ihrem jungen Leben erdulden müssen, traten ihr vor Augen. Sie alle waren schrecklich gewesen, hatten ihr wehgetan und sie gedemütigt.
Doch diesmal war es anders. Diesmal hatte sie etwas wirklich Schlimmes getan.
Dafür würde ihr Vater sie noch mehr hassen. Und er würde sie furchtbar bestrafen.
Ja. Sie sollte Angst haben, sehr große Angst.
Dieses seltsame Gefühl in ihr wurde stärker und sie spürte, wie sich langsam, ganz langsam ihr Mund verzog.
Noch immer starrte sie ihren Bruder an. Ihren Bruder, der niemals wieder mit ihr spielen würde. Der niemals wieder mit ihr streiten würde.
Der niemals wieder lachen würde.
Sie starrte ihn an.
Und lächelte.