Kurzgeschichte
Die Frau, die sie niemals kannte

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"Die Frau, die sie niemals kannte"
Veröffentlicht am 01. November 2012, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Die Frau, die sie niemals kannte

Die Frau, die sie niemals kannte

Beschreibung

Ich hab diesen Text für eine Anthologie geschrieben. Bin gespannt, was ihr davon haltet. (Kurzgeschichten sind eigentlich eher nicht so mein Fall^^)

Das
kühle Wasser fühlte sich auf ihrer Haut herrlich an. Reinigend. Als würde es
sie von dem Schmutz befreien, der sie befleckte.

Doch diesen Dreck würde sie niemals
loswerden können. Niemals.

Sie hob den Kopf und starrte in den Spiegel, in ein Paar
dunkler, seelenloser Augen, die sie ansahen. Sie waren so leer, wie sie sich
fühlte.

Dunkles Haar umrahmte ein emotionsloses
Gesicht. Dichte Wellen fielen über ihre nackten Schultern, kitzelten ihre
entblößte Haut.

Ihr war heiß, ihre Wangen gerötet. Hatte
sie vielleicht Fieber?

Gut möglich. Sie hatte seit zwei Tagen
nichts mehr gegessen. Oder waren es drei gewesen? Es war egal. Heute würde sie
sich wieder etwas leisten können. Sie würde ihren Hunger stillen, ihren Durst
löschen.

Und dann?

Würde ihr Leben so weitergehen, wie
zuvor.

Hunger.

Durst.

Schmerz.

Leben? Ha! Bei diesem Gedanken hätte sie
beinahe geschnaubt. Was für ein Leben denn? Um ein Leben zu haben, musste man
doch überhaupt erst lebendig sein.

Und das war sie nicht. Schon lange nicht
mehr.

Sie schlang sich ein Badetuch um den
nackten Körper und ging aus dem Bad ins angrenzende Schlafzimmer. Auch wenn sie
gelegentlich in dieser Wohnung übernachtete, hier duschte, manchmal auch
einfach nur mal auf dem Bett saß, die Augen schloss und alles zu vergessen
versuchte, war das hier nicht ihr Heim. Sie bezahlte dieses Apartment noch
nicht einmal. Weder die Möbel, noch sonst irgendetwas in diesen Räumen gehörte
ihr.

Nicht einmal sie selbst gehörte sich.

Sie setzte sich an den Rand des Bettes,
die weiche Matratze gab unter ihrem Gewicht kaum nach. Sie war wieder dünner
geworden, dachte sie. Bald würde sie ihre Rippen zählen können.

Damals war ihr Körper in einem
furchtbaren Zustand gewesen. Völlig abgemagert und mit hervorstechenden
Knochen. Sie hatte gedacht, sie müsse sterben. So verzweifelt hatte sie an
ihrem Leben festgehalten. Und nun…

Sie lebte.

Aber sie war dennoch tot.

Sie fragte sich, ob sie dieselbe
Entscheidung noch einmal treffen würde, das Leben, das sie nun führte wählen
würde. Oder ob sie den Tod hinnehmen würde.

Sie musste nicht lange überlegen.

Sie würde lieber sterben. Besser ganz
tot, als nur halb am Leben. Für ein solches Schattendasein würde sie sich
niemals wieder freiwillig entscheiden.

Sie seufzte. Öffnete die Augen.

Ihr Blick blieb an einem Foto hängen,
von dem sie nicht wusste, warum sie es überhaupt noch hatte. Sie hätte es
längst wegwerfen können.

Aber sie konnte sich von den Leuten
darauf einfach nicht verabschieden.

Auf dem Bild waren drei Menschen zu sehen
– eine junge, wunderschöne Frau, mit langem, dunklem Haar, das ihr fast bis zur
Hüfte reichen. Ihre warmen braunen Augen strahlten vor Glück und Liebe. Der
großgewachsene Mann neben ihr war etwas älter, kleine Fältchen prägten die
sommergebräunte Haut neben seinen Augen.

Sie erinnerte sich, dass diese Furchen
immer dann aufgetaucht waren, wenn er gelächelt hatte. Und er hatte oft
gelächelt. Wahrscheinlich war er wirklich glücklich gewesen.

Ihr Blick glitt zu dem strahlenden
Gesicht der dritten Person auf dem Foto.

Es war ein kleines Mädchen. Sie grinste
über das ganze Gesichtchen, dass Grübchen sich auf ihren Wangen gebildet
hatten. Man sah sogar die Lücke oben, wo die Schneidezähne sein sollten. Das
Mädchen war nicht älter als sechs Jahre alt.

Unwillkürlich, fast wie von unsichtbaren
Fäden gezogen, stand sie von dem Bett auf und ging auf das eingerahmte Glück
zu, dass in einem Schnappschuss vor so vielen Jahren eingefangen worden war.
Ihre Hand hob sich. Fast teilnahmslos sah sie dabei zu, wie ihr Finger über das
kindliche Gesicht strich, sanft, zärtlich. Fast… ehrfurchtsvoll.

Was für ein Leben dieses Mädchen wohl
erwartet hätte, wenn ihre Eltern nicht bei einem Autounfall gestorben wären?
Wenn man sie nicht in ein Waisenhaus gesteckt hätte. Wenn sie nicht ständig in
ihrer Pflegefamilie geschlagen und angefasst worden wäre.

Und sie nicht weggelaufen wäre, um
allein auf der Straße ums Überleben zu kämpfen.

Was für eine Frau wäre dann aus ihr
geworden?

Sie wusste es nicht. Und sie würde es
auch nie erfahren.

Sie schloss die Lider. In der Dunkelheit
sah sie noch immer das naive Lächeln. So dämlich. Diese verwöhnte Göre hatte
keine Ahnung von der Realität.

Die Wirklichkeit gab keinen Grund, um zu
Lächeln.

Plötzlich mischte sich Wut in ihre
bittere Verzweiflung.

Sie riss die Augen auf und fegte in
einer harschen Geste das Foto von dem Regal. Plärrend landete der Rahmen auf
dem billigen Laminatfußboden und das Glas zersprang in zig Scherben, wie ihr
früheres Ich es einst getan hatte. Das Licht brach sich auf den glatten,
spiegelnden Flächen.

Etwas tropfte auf den Boden. Es dauerte
einen Moment, bis sie bemerkte, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. Erstaunt
berührte sie ihre feuchte Wange. Sie hatte solange schon nicht mehr geweint,
dass sie nicht gewusst hatte, dass sie es immer noch konnte.

Wie es schien, tat sie es.

Ihr verschwommener Blick schweifte
zurück zu dem Auszug. Nun brach der Damm, Tränen rannen ihr aus den Augen und
ihre zitterten Knie gaben unter ihr nach. Schluchzend sank sie auf den Boden.

Sie wusste nicht, wie lange sie bereits
dort zusammengekauert saß. Sekunden? Minuten? Stunden vielleicht? Sie hatte
keine Ahnung.

Aber es war auch egal.

Wie betäubt starrte sie auf das Bild.

So viel konnte sie darin sehen. So viel
mehr, als drei lächelnde Gesichter.

Sie sah so viel mehr, als andere
Menschen je in diesem Bild sehen würden.

Und alles war verloren.

Schließlich, als sie wieder die Kraft
gefunden hatte, um sich zu bewegen, streckte sie die Hand aus, um die Scherben
aufzusammeln.

Ein leises Brennen durchzuckte ihre
Fingerkuppe. Es war nichts, was man mit dem Schmerz vergleichen konnte, denn
sie in ihrem ganzen Dasein bereits erlitten hatte.

Aber sie sah dennoch, wie Blut nun
scharlachrot über ihre Haut floss.

Sie sah es an, wie hypnotisiert.

Auf einmal war alles anders.

Sie sah, wie der dunkle Lebenssaft auf
die glücklichen Gesichter tropfte. Plötzlich war das Strahlen dieser
glücklichen Familie vom Grauen des Todes befleckt.

Familie,
dachte sie. Zuhause.

Sie vermisste ihre Eltern so sehr.

Sie vermisste ihr Leben, wie es war, als
es wirklich noch ein Leben gegeben hatte.

Ich
will wieder nach Hause.

Warum sollte sie weiter so vor sich
hinvegetieren? Sie existierte doch bloß. Es gab für sie keinen Sinn mehr um zu
sein.

In einem plötzlichen Impuls griff sie
nach einer der Scherben und hielt sie über ihr Handgelenk.

Bevor sie sich um entscheiden konnte zog
sie die scharfe Glaskante durch die Haut, schnitt durch ihre Pulsader. Noch
immer war der Schmerz nicht der schlimmste, denn sie je hatte erleiden müssen.

Doch jetzt würde ihr Albtraum endlich
bald vorbei sein.

Sie beobachtete, wie das rote Rinnsal
aus ihren Körper floss. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in der sie gespannt
wartete, bis sich langsam eine seltsame Schwerfälligkeit wie ein dicker Schleier
über sie legte und sie langsam in ein dunkles, traumloses Reich hinunterzog.

Ihre letzten Gedanken galten dem Mädchen
auf dem Foto.

So wie das Leben langsam aus ihr
herausfloss, schwand immer mehr die schöne Fassade, die sie sich in ihren
Gedanken aufgebaut hatte. Die trügerisch schöne, heimtückisch verlockende
Illusion einer perfekten Frau.

Der Frau, zu der das Mädchen vielleicht
herangewachsen wäre, hätte ihr Leben eine andere Richtung eingeschlagen.

Der Frau, die sie niemals gekannt hatte.

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Moonoo Re: Re: Re: Re: - [quote)

Der Meinung bin ich auch. Wenn mich eine geschichte berührt, ´bedeutet das, sie kann nicht besser geschrieben werden. Egal, ob technisch gesehen richtig, beim Lesen leiten einen ja doch die Gefühle.

Es ist sehr schwer genau die Athmosphäre herauf zu beschwören die man haben will. Oft ist es ja so das man das als Autor doch noch anders empfindet als der Leser. Wenn man ein Gefühl transportieren mit Worten (nicht mit einem Kuss oder einem Schlag) dann ist das hohe Kunst.
Vor langer Zeit - Antworten
KathySherryl Re: Re: Re: -
Zitat: (Original von Moonoo am 01.11.2012 - 18:12 Uhr)
Zitat: (Original von KathySherryl am 01.11.2012 - 18:07 Uhr)
Zitat: (Original von Moonoo am 01.11.2012 - 18:04 Uhr) Dramatische Szene wie sie sich die Pulsadern aufschneidet. Aber gut geschrieben...

Liebe Grüße


Dankeschön^^. Ja, hier hab ich auf die Traurigkeit und Dramatik hingearbeitet, auch wenn mir HappyEnds lieber sind^^.

lg
KT


Ich finde intensive Passagen in Texten immer gut. Egal ob sie traurig oder voller Glückseeligkeit sind. Letzteres ist natürlich immer besser für die Figuren, die sich nicht von ihren Autor / Schöpfer mit Problemen beladen lassen wollen. :)


Der Meinung bin ich auch. Wenn mich eine geschichte berührt, ´bedeutet das, sie kann nicht besser geschrieben werden. Egal, ob technisch gesehen richtig, beim Lesen leiten einen ja doch die Gefühle.
Vor langer Zeit - Antworten
Moonoo Re: Re: -
Zitat: (Original von KathySherryl am 01.11.2012 - 18:07 Uhr)
Zitat: (Original von Moonoo am 01.11.2012 - 18:04 Uhr) Dramatische Szene wie sie sich die Pulsadern aufschneidet. Aber gut geschrieben...

Liebe Grüße


Dankeschön^^. Ja, hier hab ich auf die Traurigkeit und Dramatik hingearbeitet, auch wenn mir HappyEnds lieber sind^^.

lg
KT


Ich finde intensive Passagen in Texten immer gut. Egal ob sie traurig oder voller Glückseeligkeit sind. Letzteres ist natürlich immer besser für die Figuren, die sich nicht von ihren Autor / Schöpfer mit Problemen beladen lassen wollen. :)
Vor langer Zeit - Antworten
KathySherryl Re: Re: Re: -
Zitat: (Original von EwSchrecklich am 01.11.2012 - 18:07 Uhr)
Zitat: (Original von KathySherryl am 01.11.2012 - 18:04 Uhr)
Zitat: (Original von EwSchrecklich am 01.11.2012 - 18:01 Uhr) Großartig, aber sehr traurig geschrieben.
Und du behauptest Kurzgeschichten wären nicht dein Fall...?
Du solltest aber nochmal die Absätze ändern, ich glaub die sind verrutscht.

lg


Danke^^. Ich bin es nicht gewohnt in kurzen Texten zu schreiben und denke immer in ganzen Romanen. Darum fällt es mir schwer schon nach drei Seiten zu enden.
Ja, ich hatte den Text auf dem PC und immer wenn ich eine Geschichte hier hinein kopiere kommt es irgendwie seltsam raus. Darum hab ich es mir angewöhnt direkt im Account zu schreiben.^^

lg
KT


Das Problem hab ich auch oft.
Aber inzwischen geht's wenn ich, wenn ich den Text reinkopiere oben links neben dem Aktualisieren-Zeichen auf Kompatibilitätsansicht gehe (falls du Internet Explorer verwendest könntest du das Mal versuchen.. ^^)

lg


Werd ich machen. DAnke für den Tipp!^^

lg
KT
Vor langer Zeit - Antworten
EwSchrecklich Re: Re: -
Zitat: (Original von KathySherryl am 01.11.2012 - 18:04 Uhr)
Zitat: (Original von EwSchrecklich am 01.11.2012 - 18:01 Uhr) Großartig, aber sehr traurig geschrieben.
Und du behauptest Kurzgeschichten wären nicht dein Fall...?
Du solltest aber nochmal die Absätze ändern, ich glaub die sind verrutscht.

lg


Danke^^. Ich bin es nicht gewohnt in kurzen Texten zu schreiben und denke immer in ganzen Romanen. Darum fällt es mir schwer schon nach drei Seiten zu enden.
Ja, ich hatte den Text auf dem PC und immer wenn ich eine Geschichte hier hinein kopiere kommt es irgendwie seltsam raus. Darum hab ich es mir angewöhnt direkt im Account zu schreiben.^^

lg
KT


Das Problem hab ich auch oft.
Aber inzwischen geht's wenn ich, wenn ich den Text reinkopiere oben links neben dem Aktualisieren-Zeichen auf Kompatibilitätsansicht gehe (falls du Internet Explorer verwendest könntest du das Mal versuchen.. ^^)

lg
Vor langer Zeit - Antworten
KathySherryl Re: -
Zitat: (Original von Moonoo am 01.11.2012 - 18:04 Uhr) Dramatische Szene wie sie sich die Pulsadern aufschneidet. Aber gut geschrieben...

Liebe Grüße


Dankeschön^^. Ja, hier hab ich auf die Traurigkeit und Dramatik hingearbeitet, auch wenn mir HappyEnds lieber sind^^.

lg
KT
Vor langer Zeit - Antworten
Moonoo Dramatische Szene wie sie sich die Pulsadern aufschneidet. Aber gut geschrieben...

Liebe Grüße
Vor langer Zeit - Antworten
KathySherryl Re: -
Zitat: (Original von EwSchrecklich am 01.11.2012 - 18:01 Uhr) Großartig, aber sehr traurig geschrieben.
Und du behauptest Kurzgeschichten wären nicht dein Fall...?
Du solltest aber nochmal die Absätze ändern, ich glaub die sind verrutscht.

lg


Danke^^. Ich bin es nicht gewohnt in kurzen Texten zu schreiben und denke immer in ganzen Romanen. Darum fällt es mir schwer schon nach drei Seiten zu enden.
Ja, ich hatte den Text auf dem PC und immer wenn ich eine Geschichte hier hinein kopiere kommt es irgendwie seltsam raus. Darum hab ich es mir angewöhnt direkt im Account zu schreiben.^^

lg
KT
Vor langer Zeit - Antworten
EwSchrecklich Großartig, aber sehr traurig geschrieben.
Und du behauptest Kurzgeschichten wären nicht dein Fall...?
Du solltest aber nochmal die Absätze ändern, ich glaub die sind verrutscht.

lg
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