Gauloises - oder der Kampf mit der Kassiererin
Wir schreiben das Jahr 1990. Ein Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl beim Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow brachte uns die Zustimmung der UdSSR zur Einheit und Deutschland würde aus Dank in diesem Sommer zum dritten Mal Fußballweltmeister werden. In Südafrika wurde Nelson Mandela nach 27 Jahren politischer Haft aus dem Gefängnis entlassen, in Russland ein Alkoholiker namens Boris Jelzin Präsident und die irakische Armee von Saddam Hussein würde in diesem Jahr Kuweit überfallen.
Es war schon schwer was los in der Welt.
Ich hatte allerdings zu der Zeit mit der Weltgeschichte wenig am Hut, denn mein kleiner Kosmos war auch in Bewegung geraten. War bislang alles automatisch gelaufen mit Schule, Abi und anschließendem Wehrdienst, musste ich erstmals eine eigene Entscheidung über meine berufliche Zukunft treffen. Ich entschied mich (aus bis heute völlig unerklärlichen Gründen) für eine Banklehre. Die größte Fehlentscheidung meines jungen Lebens, wie sich schnell herausstellen sollte. Ich hatte die Schnauze bereits nach wenigen Monaten so voll, dass ich ernsthaft über einen Abbruch nachdachte. Aber dann hätte ich mir ja etwas Neues suchen müssen und ich wusste zu der Zeit ums Verrecken nicht was. So lief ich halt weiter Woche für Woche in den Hemden und Krawatten meines Vaters in die Volksbank Meerbusch. Auch wenn mir der Job von Anfang an nie wirklich Spaß gemacht hatte, so war jetzt wirklich die Seuche ausgebrochen: 3 Wochen Buchhaltung standen auf dem Lehrplan. Sämtliche Mitlehrlinge erzählten zwar untereinander, dass der Job in der Buchhaltung total super sei, sehr nette Damen würden da arbeiten, aber die Damen waren nicht nett – zumindest nicht zu mir.
Seit dem verhängnisvollen Tag, an dem ich die blöden Anlagen zu den Kontoauszügen im Sitzen einsortiert hatte und nicht, wie es sich gehörte, im Stehen, war ich unten durch. Das hatte vor mir noch keiner gewagt. Auf meine Rückfrage, was denn daran so verwerflich sei, gab es zwar keine plausible Begründung, aber die Konsequenzen blieben die gleichen: Ich war unten durch. Die Tage waren super öde, denn kaum jemand sprach mehr als nötig mit mir und ich verbrachte die endlos lange Zeit mit so interessanten Aufgaben wie dem Scheck-Clearing. Dabei galt es in stundenlanger Kleinarbeit die Beträge aller eingereichten Schecks aufzuaddieren. Das Ergebnis musste dem Betrag der tatsächlich gebuchten Schecks entsprechen, logisch. Das tat es in der Realität aber nie, denn bei 1000 schlecht zu lesenden Scheckbeträgen schlichen sich natürlich Tippfehler ein. Aber das war kein Problem, denn in der obligatorischen Fehlersuche ging man halt stundenlang noch mal alle 1000 Zahlen durch und versuchte herauszufinden, wo man sich vertippt hatte. Ich habe nie verstanden, wie man so was freiwillig länger als eine Woche machen konnte, ohne wahnsinnig zu werden, aber es gab scheinbar Menschen, denen das sogar Spaß machte: Den bösen Damen aus der Buchhaltung.
Dennoch gab es einen Lichtblick in meinem Lehrlingsleben: Es war Freitag und eine große Fahrt mit der Jugendklettergruppe Düsseldorf stand an, einem Haufen wild zusammen gewürfelter Jungs, die wie ich, alle für ihr Leben gern kletterten und feierten. Ziel waren diesmal die Kalkfelsen des Ith im Weser-Leine-Bergland, dort fand in der Nähe von Holzminden das jährliche Ithfestival statt, angeblich ein großes Happening mit viel Bier, lauter Musik und vielleicht sogar ein paar Hippybräuten, die noch freie Liebe praktizierten, wie ich insgeheim hoffte.
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Es war endlich 16.00 Uhr geworden und damit begann der Feierabend in der Buchhaltung. Ich musste mich auf dem Weg von der Bankfiliale nach Hause schon ein wenig sputen, denn ich hatte für die 2 ½ Tage noch keine Verpflegung eingekauft und auch noch nichts gepackt. Bernhard wollte sich den Wagen seiner Mutter leihen und wir hatten verabredet, dass er mich um 17.00 Uhr am Supermarkt einsammeln wollte.
Bernhard war schon seit längerem mit Georg und mir befreundet und wohnte nur einige hundert Meter von uns entfernt auf einem Bauernhof. Wir hatten ihn eine lange Zeit beneidet, da er schon mit 16 Trecker fahren und den Wagen seiner Schwester auf dem Hof einparken durfte. Mein Neid verschwand allerdings an dem Tag, an dem ich ihn aus Langeweile zum Rübenaufladen auf eines der Felder seines Vaters begleitet hatte. 8 Kubikmeter Rüben mit der Mistgabel auf einen Hänger aufzuladen war sogar schlimmer als in der verhassten Bank Anlagen im Stehen einzusortieren.
Bernhard und mich verband eine Große Leidenschaft neben der Klettererei. Wir waren beide begeisterte Computerspieler und hatten die ein oder andere Nacht vor dem Amiga verbracht. Auch sein Spitzname, der sich bis heute durchgesetzt hat, resultiert aus dieser Zeit: Bernz!
Eigentlich hatten ihn alle liebevoll Berny genannt, aber da auf der amerikanischen Computertastatur das y und das x vertausch sind, hatten wir beim Eintippen des Spielernamens so oft versehentlich Bernz statt Berny geschrieben, dass ich beschloss, Bernhard von da an Bernz zu nennen. Das gefiel ihm scheinbar auch besser als Berny, denn nur kurze Zeit später stellte er sich sogar mit „ich bin der Bernz“ vor, was anfänglich natürlich zu Verwunderung bei den Leuten führte, die die Geschichte nicht kannten.
Bernz wollte mich also am Supermarkt abholen und ich hatte für das Einkaufen gut eine halbe Stunde Zeit, das war mehr als genug, denn verpflegungstechnisch war ich eher puristisch eingestellt. Das hieß, als warme Abendmahlzeiten mussten eine Dose Feuerzauber Texas, und zwei Dosen Ravioli für das Wochenende ausreichen. Hinzu kam natürlich noch eine Palette Karlskrone EDEL-Pils, das Bier mit den drei unschlagbaren Vorteilen: Schnell gekühlt, gut haltbar und damit ideal für Haus und Reise, und das stand tatsächlich Wort für Wort auf jeder Dose.
Zum Einkauf hinzu kamen dann noch ein Toastbrot, ein Glas Nutella und ein Block hauteng eingeschweißter Gouda sowie Zigaretten. Die roten Gauloises waren meine favorisierte Marke und die gab es besonders günstig in unserem frisch eröffneten Kaisersmarkt in Osterath. Schnell war ich also noch zum Kaisers geeilt und schob nach wenigen Minuten den Einkaufswagen mit meinen bevorzugten Dosenmahlzeiten durch den Supermarkt. Die günstigen Zigaretten gab es an einem Aktionsständer vor der Kasse, der für die Kassiererin sehr schlecht einzusehen war. Ich trug eine Lederjacke, die unten ein Bündchen hatte, das so eng auf den Hüften anlag, dass ich die Kippen einfach blitzschnell in die Jacke fallen lassen konnte – ein todsicheres System. Danach ging ich zur Kasse meine Verpflegung bezahlen und anschließend zum Parkplatz, wo Bernhard im Passat seiner Mutter mit laufendem Motor wartete. Allerdings nicht um rasch mit mir die Flucht zu ergreifen, sondern weil sonst das Autoradio nicht funktioniert hätte. Als ich an der großen Fensterfront des Supermarktes vorbei zum Auto schlenderte, bemerkte ich aus dem Augewinkel, dass drinnen eine Verkäuferin aufgeregt auf mich zeigte und einen Mann im weißen Kittel wohl darauf aufmerksam machte, dass ich meine Gauloises für ihren Geschmack etwas zu günstig erstanden hatte.
Mein Herz rutschte mir rasend in die Hose, denn sich beim Zigarettenklauen erwischen zu lassen, war gleich aus zwei Gründen ein absolutes No-Go: Erstens hätte mich das wohl meine Lehrstelle gekostet, denn Banklehrlinge sollten sich tunlichst nicht beim Klauen erwischen lassen. Zweitens wussten meine Eltern nicht, dass ich rauchte und in Kombination mit der ersten Konsequenz wäre das kein guter Weg gewesen, mal damit raus zu kommen und es ihnen zu sagen.
Also eilte ich mit größer werdenden Schritten dem Passat von Bernhard entgegen, riss die Beifahrertür auf, ließ mich grußlos auf den Sitz fallen und packte hektisch die Zigaretten aus meiner Jacke unter den Beifahrersitz. Ich raunzte den verwunderten Bernhard an loszufahren, doch bevor ich ihm den Ernst der Lage klarmachen konnte, war der Filialleiter und die wachsame Frau von der Fleischtheke schon am Auto und klopften energisch ans Beifahrerfenster. Anstatt Vollgas zu geben und loszufahren öffnete Bernhard seelenruhig das elektrische Fenster auf meiner Seite, um den wild gestikulierenden Personen neben seinem Wagen Gehör zu verschaffen. Mir wurde glühendheiß aber ich war heilfroh die Corpus Delicti unter dem Beifahrersitz entsorgt zu haben. Kein Grund also zur Panik.
„Der hat Zigaretten geklaut, gleich mehrere Schachteln, ich hab es deutlich gesehen“ schrie die Fleischfachfrau und der Filialleiter forderte mich auf auszusteigen und mal in meine Taschen sehen zu dürfen. Ich lächelte in mich hinein, denn schließlich hatte ich ja vorgesorgt, stieg lässig aus dem Wagen, behauptete überzeugter Nichtraucher zu sein und unterstellte, dass die Mitarbeiterin-des-Monats sich wohl verguckt haben müsse. Die Fleischersfrau wurde jetzt richtig sauer und betonte mit hochrotem Kopf, dass ich ein skrupelloser Zigarettendieb sei. Prüfend musterte mich der Filialleiter und bat mich nachdrücklich meine Jacke zu öffnen, um den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, anderweitig müsse er die Polizei rufen. Um das „Missverständnis“ wie ich erneut betonte auszuräumen, tat ich wie mir geheißen, denn meine Gauloises lagen ja bereits todsicher unter Bernhards Beifahrersitz.
Ich öffnete also den Reißverschluss meine Lederjacke und beschuldigte die Metzgerin noch der Denunziation, als mit einem leisen „platsch“ eine Schachtel Gauloises auf den Boden des Parkplatzes fiel. Ich musste wohl in der Hektik eine Packung im Bund meiner Jacke vergessen haben und wurde schlagartig so rot, wie die am Boden liegende Gauloises-Schachtel. Die Schlächterin triumphierte und ich hörte den Filialleiter sagen: „Hast du einen Ausweis dabei? Sonst muss ich jetzt die Polizei rufen.“
Scheiße, jetzt war die Kacke aber richtig am Dampfen. Ich sah mich gedanklich schon achtkantig aus der Bank fliegen und meinen Eltern beichten, dass ich nicht nur ein Raucher sondern auch noch ein gemeiner Dieb war. Ich zückte schuldbewusst mein Portemonnaie um meinen Ausweis herauszuholen, da fiel mir plötzlich Rainers Ferienausweis für die Rheinbahn ein, den er mir in der Zeit seines Urlaubs geliehen hatte. Nach kurzem, vorgetäuschtem Kramen in meiner Geldbörse, zückte ich statt des Personalausweises den Fahrausweis, der mich als Rainer Kopatschek aus Meerbusch Lank auswies und behauptete, keinen anderen Ausweis dabeizuhaben. Zu meinem Erstaunen und meiner noch größeren Erleichterung akzeptierte der Filialleiter das Dokument und schreib Rainers Namen in ein kleines schwarzes Notizbüchlein. Die Metzgerin schien auch zufrieden, denn nun stand meiner gerechten Strafe aus ihrer Sicht nichts mehr im Wege. Der Filialleiter gab mir Rainers Fahrausweis zurück, erteilte mir formlos Hausverbot und verließ mich mit den Worten: „Du bekommst dann eine Anzeige von der Polizei, das soll dir eine Lehre sein.“ Anschließend ging er mit seiner Angestellten zurück in die Filiale. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn Rainer hatte ja für die Zeit der Tat ein Alibi, er war mit seinen Eltern in Holland, ich musste ihn also nur informieren und war aus der Schusslinie. Ich hatte ein Riesenglück gehabt und versprach mir hoch und heilig, nie wieder etwas ohne zu bezahlen mitgehen zu lassen.
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Bernhard war die ganze Zeit teilnahmslos im Auto sitzen geblieben, hatte sich sogar eine Schachtel der Gauloises aufgemacht und eine Zigarette angezündet. Mit gespielter Lässigkeit schaute er mich an und sagte „Was ist? Du bist doch Nichtraucher, Rainer…“