Fantasy & Horror
Die Alte Religion

Calypsos Tempel

Die Knochen in der Schale am Altar sahen fragil und brüchig aus und ich wagte nur, sie anzuschauen. Calypsos Tempel lag vereinsamt im Wald, umwuchert von Wurzeln und Ranken, die seit Ewigkeiten das Gemäuer umschlungen. Lange hatte keiner diese heiligen Hallen mehr betreten, an einigen Stellen roch man jedoch noch das Parfum des Rosenöls, vermischt mit dem Gestank der Verwesung einstiger Opfer. Das ganze Gotteshaus zeugte von Terror und Schmerz, Spuren vertrockneten Bluts befleckten die Wände, Kratzer, Handabdrücke, Spritzer. Ich konnte aber eine gewisse Schönheit nicht leugnen,die sich in den kriegerischen Wandmalereien wieder spiegelte, sowie in den Statuen, die zum Teil aus Totenschädeln geformt waren.

Fasziniert von diesem morbiden Prunk der Alten Religion, konnte ich nicht umher, ein paar Skizzen anzufertigen. Alles, was ich bisher über die Vergessene Welt in Erfahrung gebracht hatte, verblasste beim Anblick des Tempels. Die Architektur, der Lebensstil, das Götterbild. Vieles war neu und unergründet.

Ich schien so sehr in meinen Überlegungen versunken zu sein, dass ich die sich mir nähernden Schritte erst bemerkte, als die Person selbst vor mir stand. Aus den Gedanken gerissen, starrte ich erschrocken in das Gesicht des Fremden, der sich zu mir hinunter gebückt hatte. Lächelnd blickte er auf mich herab und reichte mir die Hand, damit ich mich daran hochziehen konnte, doch, stur, richtete ich mich ohne seine Hilfe auf. Sein Arm war immer noch ausgestreckt, als ich mir den Staub von der Hose wischte und er musterte mich mit quasi tanzenden Augen. 

"Wie lange ist es her, dass du aus der Akademie ausgerissen bist?", fragte er belustigt.

Ich funkelte ihn böse an.

"Wer will das wissen?", fauchte ich ihn an. Das klang immer noch besser als "zwei Tage".

"Dein treuer Freund und Helfer.", antwortete er nüchtern und verbeugte sich so tief, dass es lächerlich wirkte.

"Freund und Helfer? Was soll das heißen? Hat die Akademie sie geschickt?"

Kühl blickte er zu mir hoch.

"In der Tat. Ich wurde engagiert, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten. Die Direktorin und die Professoren waren sich einig, dass Sie nicht ohne Begleitschutz auf solch riskante Abenteuer aufbrechen dürfen.", sprach er sichtlich gelangweilt. 

Ich rollte mit den Augen über sein exzessives Verhalten.

"Wieso immer ich!", schrie ich dramatisch und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

Ohne Warnung, ließ er sich vor mir auf die Knie fallen und griff nach meiner Hand.

"Kein Leben ist so wichtig, wie das Ihre, Hohe Priesterin."