Kurzgeschichte
abWARTEN

abWarten

Es ist eine Bahnhofshalle, wie viele.

Irgendwann in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts erbaut und sie hat schon manchen Sturm erlebt.

Ungewöhnlich ist, dass die Fahrgäste aus dem Untergrund auftauchen, wie bei der U-Bahn sonst üblich.

Es ist aber ein Fernbahnhof. Hier fährt sogar der Autozug ab und dazu gibt es eine gesonderte Rampe.

Früher hat er immer geträumt, von hier aus in die Welt zu reisen.

Früher ist lange her.

Nun kommt er jeden zweiten Mittwoch hierher.

Am frühen Nachmittag steht er in der Schalterhalle und wartet.

Die steile Treppe fördert immer neue Gruppen und Einzelreisende ans Tageslicht.

Manchmal geht ein Ruck durch seinen Körper, manchmal lächelt er völlig grundlos.

An manchen Tagen hat er einen kleinen Strauß Wiesenblumen in der Hand und wartet.

Jede Reisende betrachtet er aufmerksam, doch nach einer Weile verändert sich seine Haltung und sein Blick geht auf den staubigen Betonboden der Bahnhofsvorhalle.

Keiner weiß, warum er den Blumenstrauß an der Ampelkreuzung am Geländer niederlegt.

Ab und an wundert sich ein Fremder über sein Tun, aber die Welt hastet an ihm vorbei.

Die Jahreszeiten gehen ins Land.

In der Unpersönlichkeit des Alltags verschwimmt dieses Einzelwesen, der alte Mann ist fast schon ein Bestandteil dieser Szenerie.

Und irgendwann ist sein Warteplatz leer.

2011-10-31 jfw