Ferne Welten
Begegnungen haben einen Anfang. Meine Begegnung mit dem fernen „Reich der Mitte“ liegt mehr als vierzig Jahre zurück. Es war ein Weihnachtsfest in Thüringen. Keiner hatte uns darauf vorbereitet. Und da saß er dann in der „guten Stube“ – Wang Tso Tsung aus China. Ein Student der Elektrotechnik, den meine Mutter als Angestellte der Hochschule mit nach Hause brachte. Er erzählte von der fernen Heimat und der weiten Reise, wenn er heimfuhr. In meiner Erinnerung sind es drei Monate mit der Eisenbahn gewesen, mit der Trasib, genauso ein einfacher Zug, so stellten wir uns vor, wie er uns zu den Großeltern nach dem Nachbarort Langewiesen brachte. Welch ein Vergleich zu den 20 Minuten – drei Monaten im Zug leben, wohnen – essen – schlafen. Mit fremden Leuten, durch fremde Länder, wie klein wird da die Einheit Stunde. Von fremden Genüssen, den Speisen daheim, hat er wenig oder gar nichts erzählt. Überhaupt hat er wenig geredet, die andere Sprache halt. Nett wir er, sehr still und bescheiden. Wie reich müssen wir ihm vorgekommen sein in unserer eher einfachen Art, das Fest zu begehen. Denn ein geschmückter Baum war da, ein Braten und Geschenke. Ja – Geschenke hatte er für uns mitgebracht. Jeder bekam ein Buch, ein schönes und seltenes Kinderbuch mit vielen Bildern. Das eine, das vom „Bären Ladislaus“ hat uns durchs ganze Leben begleitet. Wir behielten den Text und können heute noch Fragmente davon wiedergeben. Mutti bekam einen Fächer aus Sandelholz, den hat Sie immer zwischen die Wäschestücke in den Schrank gelegt. Auch er existiert noch heute und das fein geschnitzte Muster verwundert noch immer den Betrachter. Aus diesen Tagen ist die Existenz von Hand – und Taschentüchern aus China sicher vielen Menschen im Osten Deutschlands noch ein Begriff. Da waren Tiermotive darauf und die zarten Schnupftücher wollte man gar nicht entweihen. Ein Stoff – ein ganz besonderes Gewebe – BROKAT – sollte in den Sechzigern die Runde machen. Ausgerechnet Brokat, der Stoff für die Kleider der Reichen machte im frühen Arbeiter – und Bauernstaat Furore. Mutti musste auch so ein Kleid haben. Unklar, über welche Kanäle diese Seltenheit kam. Es war ein sehr fester, kompakter Stoff und er wurde zu einem engen Kleid, das alle Nuancen der Figur betonte. Vielleicht fanden die Eltern so etwas erotisch? Irgendwann schleppte Vater mal Schelllackplatten nach Hause, der „Rundfunk-KONSUM“ hatte ein neues Sortiment bekommen, die alten Platten gingen für wenig Geld an den Kunden. So hörten wir auf dem alten Grammophon die ungewohnte Musik, die Hymne aller Chinesen: „ Osten erglüht, China ist jung, rote Sonne grüßt Mao Tse Tung...“ – eben dieser gottgleiche Mao, neben Stalin und Chrustschow und dem Spitzbart mit der Fistelstimme, den man uns in der Schule als sportliches Vorbild mit Hosenträgern verkaufte. Wenn mein Bruder am Abend im Bett lagen, träumten wir uns in die fernen Länder, waren wie Marco Polo auf Handelsreise. Die Schule bot uns wenig Wissen, das parteipolitisch gesteuerte Programm stellte eherne Bildtafeln auf, das „Eiserne Büffelchen“ in Korea und die „Timurtrupps“ in der fernen UdSSR. Mit Wang auf große Reise gehen, das Land mit der „Großen Mauer“ sehen, die alten Kaiserpaläste bestaunen und dann wieder zu Muttern, wenn der kleine Hunger kommt. Dann waren da noch die seltsamen Buchstaben, wie man die nur lesen konnte? Die vielen offenen Fragen waren wie eine unerreichbare Geliebte, die dadurch, dass man sie niemals trifft, ewig attraktiv bleibt. Fast vierzig Jahre sollte vergehen, bis... Aber das gehört zu einer anderen Geschichte.
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