Journalismus & Glosse
Religion ein passender Schuh?

"Es kann doch nicht jeder das glauben, was ihm grade paßt!"

Dieser Satz schmerzt mich im Ohr. Die meisten Menschen würden ihm wohl vorbehaltlos zustimmen, aber "Warum eigentlich nicht?"

Ich möchte eine leicht abgewandelte Fassung dieser Bemerkung zur Diskussion stellen: "Es kann doch nicht jeder die Schuhe anziehen, die ihm grade passen!" Irgendjemand, der hier zustimmen würde? Aber wo liegt der Unterschied? Ist es denn selbstverständlich, Schuhe anzuziehen, die einem passen und selbstverständlich, etwas zu glauben, was einem nicht passt?

Schuhwerk sollte Schutz und Stütze, aber auch Schmuck für die Füße sein. Und der Glaube? So was wie Schutz, Stütze und Schmuck für die Seele?

Eins steht fest: Menschen haben verschiedene Füße. Einem paßt Größe 36, ein anderer braucht Schuhgröße 46. Wer wacklig auf den Beinen ist, braucht entsprechend enge Schnürschuhe, ein sportlicher Jugendlicher kann sich seine Flip-Flops mal einfach zwichen die Zehen klemmen; ja man kann sogar barfuß gehen. Es macht einen Unterschied, ob man sich im Schnee, im heißen Wüstensand oder in einer gemütlichen Wohnung mit dicken Teppichen fortbewegt.

Und wo bliebe die Freude, der Spaß am Schöpferischen, wenn alle die gleichen, auf ihre Funktionstüchtigkeit reduzierten Schuhe tragen müssten?

Wenn schon unsere Füße so verschiedene Anforderungen stellen, wie sollte das bei unseren Seelen anders sein? Ein introvertierter und ängstlichen Mensch braucht andere Richlinien als ein rücksichtsloser Draufgänger. Kann es da verwundern, dass Gott verschiedenen Völkern verschiedene Heilsangebote macht?

"Es kann doch nicht jeder glauben, was ihm grade passt!"

Warum denn eigentlich nicht? Weil es dann für die Mächtigen schwieriger wird, ihre Untertanen zu beherrschen? Religion wurde und wird immer noch dazu mißbraucht, die Schwächeren klein zu halten. Wenn jemand ein Volk zu seinem eigenen Vorteil ausbeuten möchte, dann muss er Mittel und Wege finden, es den Leuten schmackhaft zu machen, auf selbstquälerische Weise Schuhe zu tragen, die ihnen nicht passen. Da muss er den Gepeinigten schon einen wunderschönen Himmel versprechen, je größer die Unterdrückung, um so schöner der Himmel.

"Es kann doch nicht jeder glauben, was ihm passt!"

Die Angelegenheit  wird noch komplizierter, denn oft wissen wir selbst nicht so recht, was uns passt und was nicht. Das beste Aussehen eines Schuhs schützt uns nicht vor Blasen und die reizendsten und verführerischten Highheels machen Füße auf die Dauer kaputt. Das gilt leider auch für Einstellungen, die im Moment als wünschenswert erscheinen, aber auf Dauer eigentlich nur schaden. Jeder muss selbst entscheiden, ob er bereit ist, für einen kurzfristigen Lustgewinn entsprechend zu bezahlen.

Es muß auch jeder selbst entscheiden, ob er auf seine Schuhe achtet und sie pflegt oder ob er mit zerfetzen Schuhen nasse Füse riskieren möchte, ob er auf langfristige Stabilität setzt, oder bereit ist, sich in kurzen Abständen immer wieder neu zu orientieren.

Entscheidungen, Entscheidungen. Oft ist es ein Segen, Freunde und Lehrer um sich zu haben, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen, die sich Zeit nehmen, auf Bedürfnisse und individuelle Eigenheiten einzugehen und die nicht alle über einen einzigen Leisten scheren möchten.

Wäre es nicht schön, wenn jeder das glauben könnte, was ihm wirklich paßt?

© Gerlinde File