Ein Weihnachtsgedicht von Storm von 1852
Theodor Storm: Der Weihnachtsabend
Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war’s, durch alle Gassen scholl
der Kinderjubel und des Markts Gebraus.
Und wie der Menschenstrom mich fort gespült,
drang mir ein heiser Stimmlein in das
Ohr:
"Kauft, lieber Herr!" Ein magres Händchen hielt
feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.
Ich schrak empor, und beim Laternenschein
sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
wes Alters und Geschlecht es mochte sein,
erkannt’ ich im Vorübertreiben nicht.
Nur vor dem Treppenstein, darauf es saß,
noch immer hört’ ich, mühsam, wie es schien:
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn’
Unterlass;
doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.
Und ich? War’s Ungeschick, war es die Scham,
am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh’ meine Hand zu meiner Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.
Doch als ich endlich war mit mir allein,
erfasste mich die Angst im Herzen so,
als säß’ mein eigen Kind auf jenem Stein
und schrie nach Brot, indessen ich
entfloh.
(1852)
Dieses Gedicht wurde in den 50er Jahren in meiner Familie am Heiligen Abend von mir oder meinen Geschwistern vorgetragen. Damals hat es mich sehr beeindruckt, und es hinterließ in meiner Familie das Gefühl, wie gut es uns doch ging. Ich frage mich heute, ob es noch aktuell ist.
Wir beklagen zu Recht die unmäßige Kommerzialisierung des Weihnachtsfests. Die muss auch 1852 schon vorhanden gewesen sein; denn in I,4 berichtet Storm von „des Markts Gebraus“ und in II,1
von dem „Menschenstrom“, der ihn „fort gespült“, immerhin „beim Laternenschein“ (III,1) am Heiligen Abend, an dem heute doch nachmittags die Geschäfte geschlossen werden.
Das Gedicht gibt auch Anlass über den heute allseits beklagten Weihnachtsstress nachzudenken. Er scheint auch nicht so neu zu sein; denn das lyrische Ich berichtet, dass es am Weihnachtsabend eine fremde Stadt sorgenvoll durchschritt.
Nachdenklich stimmt mich, dass die Bitte des Kindes um einen Kauf am Heiligen Abend nach der Vermutung des Dichters ungehört verhallte. (IV,4) Sollten schon damals die Herzen so
verhärtet gewesen sein?
Eigentümlich auch, dass in V,1,2 von der Scham die Rede ist, mit einem Bettelkind zu handeln.
Und weshalb überhaupt handeln? Um eine große Summe als Forderung des Kindes kann es sich doch wohl nicht gehandelt haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man die geschilderte Situation heute als peinlich ("Scham") empfinden würde. Schlägt da bürgerliche Verachtung gegenüber Bettlern durch, mit denen man nicht handelt (V,2), eine Verachtung, die heute vielleicht so extrem nicht mehr vorhanden ist?
Gleichgültig, ob es sich um Ungeschick oder Scham handelte, die letzte Strophe
lässt die Gewissensbisse (das ist wohl auch mit „Angst“ gemeint) des lyrischen Ich als einleuchtend erscheinen.
Ich halte das Gedicht insofern für aktuell, als es Fragen aufwirft, die das Verständnis von Weihnachten 1852 wie auch heute nachdenkenswert machen.