"Coverfoto privat"
Thema: perfekte Ausrede
Vorgabewörter: Pferdeschwanz, launisch,
Erdanziehungskraft, staunen, Abenteuer,
Nacht, Zettelwirtschaft, Publikum
Als Erinnerung an meinem Vater
Einleitung:
„Dieser Text ist ein Auszug aus dem Leben meines Vaters und erzählt von Momenten, die ihn geprägt haben und die auch mich berührt und zum Nachdenken gebracht haben.“
Zu Beginn der Kur wog ich 118,3 Kilo. Vor allem nachts überfielen mich Essattacken, die mich selbst erschreckten – wie ein dunkles Abenteuer, aus dem ich nicht entkommen konnte. Meine Frau stellte mich vor die Wahl: Ich ändere mein Verhalten, oder sie geht mit den Kindern. Ich fühlte mich wie von der Erdanziehungskraft meiner eigenen Probleme festgehalten und unfähig, mich frei zu bewegen, obwohl ich es wollte.
Ich hatte immer eine perfekte Ausrede parat: Stress, Frust, Müdigkeit – oder
einfach die Schuld bei anderen zu suchen. Doch irgendwann merkte ich, dass ich mich damit nur selbst belog. Meine Ausreden waren wie ein schwerer Rucksack, der mich immer weiter nach unten zog, als ob ich mich selbst in die Enge trieb. Es fühlte sich an, als ob ich mich immer tiefer in diesem Netz aus Ausreden und Entschuldigungen verstrickte.
In den sechs Wochen der Kur nahm ich 13 Kilo ab und kehrte voller Tatendrang nach Hause zurück. Anfangs war alles gut, ich nahm weiter ab, wir gingen wieder öfter aus. Doch dann merkte ich, dass meine Frau mit meiner Veränderung nicht klar kam. Alles, was ich tat, wurde
kritisch betrachtet, ihr Verhalten wirkte oft launisch, und ich fühlte mich wie ein Darsteller vor einem unsichtbaren Publikum, das nur darauf wartete, Fehler zu sehen.
1998 wurden wir nochmals Eltern, und der Alltag wurde immer chaotischer. Streit, Anschreie, Gezerre – besonders meine Tochter Andrea ließ ihrem Frust freien Lauf. Es fühlte sich an wie eine endlose Zettelwirtschaft aus Konflikten, Aufgaben und Pflichten, die ich kaum überblicken konnte. Selbst die Betreuung meiner Mutter, die immer stärker an Demenz litt, war ein ständiger Balanceakt. Egal, was ich tat, es war nie genug, und oft war ich derjenige, über
den sich alles entlud.
In all dem Chaos gab es aber Momente, die mich staunen ließen – kleine Augenblicke, in denen ich merkte, dass ich doch etwas richtig machte. Ein Lachen meiner Kinder, ein ruhiger Moment mit meiner Frau, ein Erfolg bei mir selbst – sie waren wie Lichtblitze in einer sonst dunklen Nacht.
Schließlich fühlte ich mich oft wie in einem endlosen Strudel aus Verpflichtungen, Sorgen und ungelösten Konflikten – alles miteinander verknotet. Trotz allem kam es schließlich dazu, dass meine Frau mit der jüngsten Tochter auszog. Ich erinnere mich noch genau an ihren Pferdeschwanz, der immer so
ordentlich saß, selbst in den hektischsten Momenten.
Und meine Mutter starb im Seniorenheim. Ich versuchte Therapieformen wie Gesprächstherapie, Karmaauflösung und Familienaufstellung, doch sie halfen nur wenig. Ich fühlte mich erschöpft, überfordert, manchmal am Ende meiner Kräfte.
Heute weiß ich: Es gibt keine perfekte Ausrede für das eigene Leben. Man kann wegrennen, schweigen oder anderen die Schuld geben – aber irgendwann steht man sich selbst gegenüber. Und seit dem 1. April 2019 lerne ich genau das: wieder frei zu atmen, Entscheidungen für mich
zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
„Manchmal empfinde ich großes Staunen, wenn ich selbst sehe, wie weit ich gekommen bin…“