Die Zecke
Sara sitzt neben ihrer Tante im Wartezimmer von Doktor Rothe. Sie hat eine Zecke am
Oberschenkel und eine Heidenangst, dass es weh tut, wenn der Doktor sie weg macht.
Im Kindergarten haben die Erzieherinnen gesagt, es tut überhaupt nicht weh. Die Zecke mit einer
Zange gepackt und rausgezogen.
Aber einige Kinder haben das Gegenteil behauptet. Eins hat erzählt, dass bei ihrer Schwester
der Kopf von der Zecke stecken geblieben ist und der Doktor ihn mit dem
Skalpell raus
schneiden musste. Alle Versuche der Erzieherinnen, Sara zu beruhigen, haben nicht viel
gebracht und jetzt, hier im Wartezimmer der Praxis wird die Angst zusehends größer.
„Tante Sera, sind wir jetzt dran?“ fragt sie ängstlich.
„Noch nicht mein Schatz. Wenn die beiden Damen neben der Tür fertig sind, holt uns Frau Fischer
ins Sprechzimmer. Dann wird der Doktor die Zecke rausholen.“
„Die Berenike hat gesagt,“ erzählt Sara stockend, „ bei ihrer Schwester …ist der Kopf
stecken
geblieben und ….der Doktor musste ihn raus schneiden….Tante Sera, ich hab Angst…“
„Aber du kennst doch Dr. Rothe,“ versucht Sera ihre kleine Nichte zu beruhigen.
„Er ist ein ganz Lieber und ich kann dir versprechen, dass es nicht weh tut.
Es zwickt höchstens ein bisschen.“
„Ich hab Angst..“
„Deine Mama hat recht, Kleine,“ meldet sich eine der beiden Damen, die neben der Tür
sitzen, zu Wort, „Dr. Rothe macht das super, er hat mir auch schon Eine raus
gemacht.
Hat überhaupt nicht wehgetan, nur ein bisschen gezwickt.“
Sara fürchtet sich trotzdem.
„Ich hab Angst..“
„Sie dürfen ruhig vor mir rein,“ bietet sie Frau Sera an, „ dann muss die Kleine nicht länger
warten.“
„Vielen Dank, aber die Dame neben ihnen war auch vorher da,“ entgegnet Sera.
„Das ist meine Freundin,“ lacht die Frau, „sie hat mich hergefahren, ich hab keinen
Führerschein.“
„Prima,“ strahlt Sera ihre Nichte an, „ dann sind wir als nächstes dran und du
bist die Zecke
los.“
Das macht Sara noch mehr Angst. Sie schmiegt sich an Sera, will gar nicht mehr zum Doktor
rein.
„ Ich hab so Angst… können wir nicht wieder nach Hause…. die Gabi hat gesagt, Zecken
fallen von allein wieder weg..“
„Ja, das tun sie, wenn sie sich voll gesaugt haben,“ bestätigt Sera, „aber bis dahin können sie
dich krank machen.“
Sera küsst ihre Nichte auf die Stirn, drückt sie an sich.
„Ich komm mit rein und dann brauchst du
keine Angst zu haben.“
Aber Sara kann sich nicht beruhigen. Mit dicken Tränen in den Augen sieht sie Sera an.
„Bitte, Tante Sera, ich hab so Angst.“
„Weißt du was?“ versucht die andere Frau Sara zu helfen, „ ich kenn den Doktor gut.
Wenn ich ihm sage, dass du solche Angst hast, kommt er zu dir her, sieht sich die Zecke an.“
Mit einem Lächeln geht sie zur Sprechstundenhilfe, bittet sie, Dr. Rothe zu Sara zu schicken.
Kurz darauf ist im Arztzimmer ein schallendes Lachen zu hören.
Dr. Rothe wollte Frau Zimmermann als
Nächste dran nehmen. Als er hört, dass eine kleine
Patientin mit einer Zecke sich nicht zu ihm ins Sprechzimmer traut, steckt er seine
Zeckenzange, einen Tupfer und ein Pflaster in die Tasche und kommt ins Wartezimmer.
„Ahaaaa,“ lacht er Sara an, „ du bist die Sara und hast Angst, dass es weh tut, wenn ich die
Zecke raus hol..“
Sara sieht ihn mit großen Augen an. Sein schallendes Lachen hat sie schon ein bisschen
beruhigt, als sie es aus seinem Zimmer gehört hat. Wie er jetzt so vor ihr steht,
sich grinsend
die Ärmel hoch krempelt, weiß sie nicht recht, was sie sagen soll, nickt nur etwas schüchtern.
„Ha,“ lacht der Doktor wieder, „ das ist überhaupt nicht notwendig. Ich hab schon eine
Million Zecken raus geholt und es hat noch nie jemand weh getan.“
Grinsend macht er ein paar gymnastische Bewegungen, lässt die Finger spielen, als wollte er
sie locker machen.
„ Höchstens ein bisschen gezwickt,“ setzt er noch hinzu.
„Aber die Berenike hat gesagt, bei ihrer Schwester ist der Kopf stecken geblieben
und der
Doktor musste ihn mit dem Skalpell raus schneiden,“ antwortet Sara nun etwas mutiger.
„Jaja,“ antwortet Dr. Rothe, „ dann kann der das nicht so gut wie ich. Ich kenne alle Zecken
die es gibt und weiß genau, wie ich sie raus hole. Weißt du, ich binde mir meinen
Mundschutz um und dann sieht die Zecke mich nicht….“
„Aber du bist doch so groß,“ fällt Sara ihm ins Wort „ und dann sieht sie dich doch..“
„Oh nein,“ entgegnet Dr. Rothe, „ weißt du, Zecken sind dumm. Wenn ich
meinen
Mundschutz umbinde, kann die Zecke mein Gesicht nicht sehen und zack, hab ich sie.“
Doch Sara ist mit der Erklärung nicht zufrieden. Dr. Rothe spürt, dass seine kleine Patientin
einfach Angst hat. Er steckt den Mundschutz wieder weg, holt die Zeckenkarte aus der
Tasche, die ein Vertreter vor ein paar Tagen da gelassen hat. Sie sieht aus wie eine EC Karte,
hat an zwei Seiten verschieden große Aussparungen.
Mit ihr sollen Zecken besser zu entfernen sein, als mit der
Zange.
„Hahaha,“ lacht Dr. Rothe, zeigt Sara die Karte, „dann nehme ich die Karte hier.
Die ist ganz neu. Die kennen die Zecken noch nicht…na, der werden wir´s zeigen.“
Sara sieht den Arzt immer noch skeptisch an, schmiegt sich an ihre Tante.
„Weißt du,“ versucht Dr. Rothe Sara abzulenken, „ jetzt blickt´s die Zecke nicht mehr.
Sie denkt, ich geh weg, hol mir am Automat Geld, passt nicht mehr auf und schwupp, ist sie
raus.“
Lachend streckt Dr. Rothe Sara die Hand
hin.
„Ist das ok?“
Sara gibt ihm ihre Hand, lässt damit ihren Schenkel los und Dr. Rothe kann die Zecke sehen.
„Das ist eine stink normale Wanderzecke,“ klärt er seine kleine Patientin auf, „ der geben wir
´s jetzt aber....“
Vorsichtig, um Sara nicht zu erschrecken, setzt er die Karte an.
„Heeee, lass mich in Ruhe,“ piepst es plötzlich und niemand hat mitbekommen, wer das
gesagt hat.
Dr. Rothe tut, als würde er mit der Zecke
reden.
„Kommt nicht in Frage,“ wettert er mit tief verstellter Stimme, „ ich lass dich nicht Ruhe.
Du bist ein Mistvieh, hast meine kleine Freundin gebissen.“
„Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, beiße ich dich,“ meldet sich die Stimme wieder.
Schnell und geschickt schiebt Dr. Rothe den Ausschnitt an die Zecke und schwupp, ist sie
draußen. Er ist selber erstaunt, wie gut es mit der Karte geht. Mit der Zange kann es immer
mal passieren, dass der Kopf stecken bleibt und raus gepuhlt werden
muss.
Sara sieht sich die Zecke mit großen Augen an, wie sie auf der kleinen Karte liegt und
zappelt.
„Du Mistkerl,“ zetert und piepst es wieder, „ ich beiße dich.“
„Das wirst du nicht,“ lacht Dr. Rothe,“ ich zaubere dich einfach weg.“
Wie die Zauberer im Fernsehen Tücher und Münzen in der Hand verschwinden lassen,
dreht der Doktor zweimal seine Hände, zaubert die Karte mit der Zecke drauf weg.
„So, jetzt wird sie niemand mehr beißen,“ lächelt er Sara an. „Hat´s weh
getan?“
Sara schüttelt strahlend den Kopf. „Überhaupt nicht..“
„Na siehst du. Ich mach dir noch ein kleines Pflaster drauf und du musst deinen Freunden
erzählen, dass ich jetzt eine Million und eine Zecken raus gemacht hab und es hat überhaupt
nicht weh getan…..nur ein bisschen gezwickt.“