Die Katze und die Flamme
Es war einmal eine Katze, schwarz wie Mitternacht und klug wie ein Rätsel.
Sie lebte in einer Bibliothek voller Bücher,
die niemand mehr las.
Eines Nachts fiel ihr Blick auf eine kleine, flackernde Flamme,
die auf einem Kerzenstummel tanzte.
Ihr Licht spiegelte sich in den Glasaugen der Katze,
und in ihrem Herzen erwachte ein
brennender Gedanke:
„Wenn ich nur wüsste, was dieses Licht ist,
dann wüsste ich vielleicht alles.“
Sie schlich näher, schnupperte, blinzelte,
doch das Licht blieb ein Geheimnis.
Also streckte sie die Pfote aus.
Die Flamme biss.
Die Katze fauchte, leckte sich die Brandwunde,
und doch – ihr Verlangen wuchs.
„Vielleicht ist das Wissen nur für Mutige,“
murrte sie,
und hob erneut die Pfote.
Wieder brannte sie sich, diesmal tiefer,
und der Schmerz sang ihr ins Ohr:
„Du begreifst nicht, du willst besitzen.“
Aber die Katze hörte nicht zu.
Sie war ja ein Mensch im Pelz –
neugierig, stolz, überzeugt,
dass Schmerz nur ein Beweis für Nähe zur Wahrheit sei.
So sprang sie schließlich mitten in die Flamme,
um das Geheimnis zu verschlingen.
Und siehe da – das Licht erlosch.
Am nächsten Morgen fanden der Bibliothekar
einen Kreis aus Asche,
in dessen Mitte
eine einzelne Schnurrhaare glomm.
Der Schwan und die Goldenen Fesseln
Am Ufer eines stillen Sees lebte ein Schwan,
weiß wie das Vergessen und stolz auf seine Anmut.
Er glitt über das Wasser, sang für den Wind
und dachte, Freiheit sei selbstverständlich.
Eines Morgens kamen die Enten aus dem Dorf herbei.
Sie trugen glänzende Ringe um die Hälse,
kleine goldene Zeichen, die sie „Anstand“ nannten.
Sie sagten zum Schwan:
„So wie du kannst man doch nicht leben –
ungebunden, ungezähmt, zu schön für den Rest von uns.“
Der Schwan lächelte,
doch in seinem Herzen wuchs ein Zweifel:
Vielleicht hatten sie recht.
Vielleicht war Schönheit ohne Regel nur Hochmut.
So ließ er sich einen goldenen Reif umlegen,
zuerst zart, dann enger, dann schwer.
Die Enten klatschten Beifall.
Er gehörte nun dazu.
Er sprach leiser, bewegte sich bedachter,
lernte, den Kopf zu senken,
wenn das Ufer tuschelte.
Doch mit jedem Sonnenaufgang
schimmerte das Gold matter,
und der Schwan spürte,
dass das Wasser ihn nicht mehr trug.
Eines Abends versank er still im See,
die Federn glänzten wie Münzen auf dem Grund.
Als die Enten ihn suchten,
fanden sie nur den Reif –
und wunderten ich,
warum er so kalt geworden war.
vom Wolf, der das Ja lernte
In einem Tal, wo der Nebel lehrte, still zu sein,
lebte ein junger Wolf.
Sein Fell war dunkel wie der erste Gedanke nach dem Erwachen,
und sein Herz pochte laut – zu laut für das Rudel.
Die Alten sagten:
„Ein guter Wolf bellt nicht, er folgt.
Ein guter Wolf fragt nicht, er gehorcht.
Ein Rudel braucht Zähne, keine Stimmen.“
Also schwieg der Wolf.
Er lief, wenn sie liefen.
Er fraß, wenn sie fraßen.
Er lachte nicht, wenn die Sterne riefen.
Sein Ja wurde zur Rüstung,
seine Stille zum Käfig.
Eines Winters kam Hunger.
Die Beute blieb fern, die Kälte fraß die Knochen.
Der Wolf roch den Wind, wusste, wo Wild war –
doch der Leithund knurrte: „Bleib in der Spur.“
Und so gehorchte er.
Als das Rudel verhungerte,
lag der Wolf im Schnee,
die Lefzen gefroren zu einem ewigen Ja.
Ein Rabe sah ihn, neigte den Kopf
und sprach:
„Gehorsam ist bequem,
bis er dich frieren lässt.
Der Mut, allein zu heulen,
ist manchmal das Einzige,
was Leben rettet
Fabel vom Marionettenmädchen
Es war einmal ein Mädchen, das hing an unsichtbaren Fäden. Jeder, den sie traf, zog an ihr – die Eltern, die Lehrer, die Freunde. Und weil sie allen gefallen wollte, ließ sie sich führen, nicken und tanzen.
Eines Tages blickte sie in einen Spiegel. Doch statt ihres Selbst sah sie nur die Fäden, die an ihr zerrten. Da wurde sie traurig, denn sie spürte: So gehöre ich nie mir
selbst.
In der Stille hörte sie ein leises Flüstern in ihrem Herzen: „Schneide die Fäden.“ Zögernd nahm sie eine unsichtbare Schere und kappte einen Strang nach dem anderen. Mit jedem Schnitt fiel eine Last von ihr ab.
Zuerst wankte sie unsicher, ohne Halt. Doch bald lernte sie, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie entdeckte ihre Stimme, ihre Wünsche, ihre Kraft.
Und aus dem Marionettenmädchen
wurde eine Frau – frei, aufrecht und stolz.
Sie lächelte und sprach:
„Ich tanze nicht mehr, weil andere es wollen. Ich tanze weil es mein Leben ist.