Der Abend begann mit einem Geräusch, so klein wie eine Mücke: ein „tzk“ der Zunge, das Thomas machte, wenn er enttäuscht war. Dieses „tzk“ war älter als ihre Ehe, älter als seine rauen Handrücken und ihr stiller Versuch, die Falten seiner Gereiztheit mit Geduld zu plätten. Es wohnte in ihm wie ein Funke, der nur Wind braucht. „Zäh“, sagte er und legte das Messer neben den Teller, als hätte es ihn beleidigt. „Wieder zu lange in der Pfanne. Du kannst es einfach nicht. Fleisch braucht Respekt.“ Mara nickte. Sie kannte den Text, konnte
ihn mitsprechen: Fleisch braucht Respekt. Öl, Salz, Hitze. Und dass alles andere – ihr Tofu, ihr Gemüse, ihre Linsen – „Hühnerfutter“ seien. Er war ein Mantra mit Anzug: Wachstum, Gewinn, Verdopplung bis zur nächsten Fusionsmeldung. Die Küche war ihm nur Bühne; die Pfanne sein Gong. Sie hatte an diesem Vormittag ein Interview gelesen über ein Start-up, das „kultiviertes Fleisch“ in Bioreaktoren züchtete. „Zukunftsprotein“, nannte es der Gründer. Thomas lachte, als sie es erwähnte. „Labberschleim. Fleisch hat Muskelfaser, Fettmarmorierung, Memory im Gaumen. Nichts, was aus einem Tank kommt, hat Seele.“
„Vielleicht ist das gut“, sagte sie. „Seele zu essen ist ein schlechtes Hobby.“ Er hob die Brauen. Dann roch er an seinem Messer. „Zäh“, wiederholte er, und das „tzk“ war diesmal lang. Man kann eine Ehe an einem Adverb zerlegen, dachte Mara. Wieder – das war die Knochensäge. Es schabte an ihr, an all den Abenden, an denen sie weggelächelt hatte. Zäh. Zäh wie die Gewohnheit, wie die Luft im Dezember, wie der Faden, der sich nicht reißen lassen will. Sie stand auf, und die Küchenlampe warf ein helles, chirurgisches Licht auf den Herd. Die gusseiserne Pfanne lag dort, eine dunkle Scheibe, die Hitze noch
daran wie ein altes Geheimnis. Ihre Hand griff beinahe aus Gewohnheit nach dem Pfannenwender; der Griff lag vertraut in ihrer Faust, schwer, geerdet. Ein Gegenstand, der dazu gemacht worden war, Dinge zu wenden. „Lass“, sagte Thomas und schob den Teller weg. „Das ist Feierabend, kein Tierschutzverein.“ Sie drehte sich um, ganz langsam, als hätte jemand das Filmtempo gedrosselt. Der Pfannenwender zeigte mit seinem flachen Mund auf seinen Hinterkopf – dort, wo das Haar dünner wurde, wo die Haut glänzte wie lackiert. Später würde sie, immer wieder, die Sekunde abtasten, in der die Welt
umsprang: War es Wut? War es Müdigkeit? War es der Wunsch, dass das „tzk“ endlich ein Loch fände, in das es fallen konnte, tief und endgültig? Der Schlag war überraschend leise. Ein dumpfer Ton, als klopfe jemand gegen einen hohlen Kürbis. Thomas gurgelte, als trinke er Luft. Dann fiel er nach vorn, als wolle er das Fleisch doch noch beschützen. Mara ließ den Pfannenwender sinken. Ein dünner, schiefer Faden sprang ihr im Ohr. Irgendwo klingelte ein Telefon in einer anderen Wohnung. Die Gardine bewegte sich minimal: Luft, die aufhörte, angespannt zu sein. Die Pfanne rauchte weiter. Man soll die
Hitze herunterdrehen, wenn man den Raum verlässt, fuhr es ihr durch den Kopf, dieser absurden Gedanke einer Frau, die ihr ganzes Leben aus Regelverzeichnissen gebaut hatte. Sie drehte den Regler zurück. Das Gas summte, gehorsam, als sei nichts geschehen. Ein heiliges Rauschen, indifferent. Der Körper lag auf den Fliesen wie etwas, das jemand vergessen hat, zurückzugeben. Thomas’ Hand hatte noch Spannung, nur die Finger wirkten ratlos. Mara kniete sich hin. Sie tastete nach dem Puls, als wäre das ein Schulreflex. Der Hals war warm. Der Puls war – ein Wort, das sie nicht sagen wollte. Sie
sagte es trotzdem, in sich: fort. „Es ist passiert“, murmelte sie und legte die Handfläche auf die Stirn, als wolle sie einem Kind Fieber nehmen. „Es ist passiert.“ Sie stand auf, wusch den Pfannenwender mit heißem Wasser ab, dann mit kaltem, dann wieder heißem, als könne Temperatur moralisch sein. Schließlich trocknete sie ihn, als sei er ein nasser Hund, der Schutz brauchte. Draußen fuhr ein Bus vorbei. Er brummte wie ein sedierter Riese. Mara öffnete die backsteinrote Mappe mit den Rechnungen, fand die Karte des Metzgers, an die Thomas ein Herz gemalt hatte, halb spöttisch, halb ernst: Fleisch
ist Leben, stand darunter – ein Slogan der Lobby, den er mit Filzstift in der Küchenwand geritzt hatte, zwischen zwei Regalen. Sie hatte ihn nie übermalen dürfen. Jetzt war es eine Art Reliquie. Oder eine Drohung. Oder beides. Sie dachte an die Kühlschränke in Krimi-Serien, an Keller, an Sägen. Aber sie hatte keinen Keller und nur eine Handsäge für Bretter. Was sie hatte, waren Messer, deren Schärfe Thomas gepflegt hatte wie andere Männer Bonsai pflegen. Sie stellte die Messer nebeneinander. Die Klingen blinkten. Es war harsch und intim, wie eine Einladung mit schwerem
Parfüm. „Respekt“, flüsterte sie, und dann tat sie, was sie ihr Leben lang getan hatte: Sie arbeitete sorgfältig. Es war nicht so schwer, wie man es denkt. Der Körper war keine Festung; er war eine Reihe von Verbindungen, von Gelenken, die sich erklären ließen. Sie brauchte Handtücher, Müllbeutel, die großen von der Rolle, und das Wissen, dass man das Schulterblatt fühlen kann, wenn man mit der Klinge darunter fährt. Sie hatte nie Anatomie studiert, aber sie hatte dreihundert Hühner tranchiert und dreißig Hasen, und der Mensch war nur ein größeres Tier mit komplizierterem
Mythos. Die Nacht wurde lang und kurz zugleich. Wenn sie die Augen schloss, sah sie eine Landschaft aus Rot und Weiß, aus Sehnen, die wie Geigenfäden gespannt waren. Aber sie schloss die Augen nicht oft. Es gab zu viel zu tun. Nichts davon war eilig, und alles musste sofort sein. Dieses Paradox war seltsam beruhigend. Am Morgen lagen Vakuumbeutel in einer Reihe auf dem Tisch, beschriftet mit wasserfestem Stift. Sie hatte die Etiketten gesammelt: Rücken, Keule, Filet, Bäckchen – als seien das Worte, die die Sache neutralisieren könnten. Den Rest hatte sie in den Müll geschafft, in kleinere Beutel, die nicht verdächtig
schwer waren. Thomas war kein großer Mann. Er hatte kompakt gewirkt, aber der menschliche Körper hat viel, was Gewicht vortäuscht: Luft, Wasser, Gedanken. Sie duschte lange. Es war, als spülte sie nicht Blut ab, sondern einen zweiten, hartnäckigen Ton, der sie seit Jahren begleitet hatte: die Frequenz seiner Bemerkungen, seiner Urteile. Zäh. Es brauchte heißes Wasser und eine neue Haut. Der Kühlschrank summte. Hinter der milchigen Tür schliefen dicke, einzeln verpackte Gerüste aus Protein. Sie erinnerten an einen geordneten Krieg. Als die Polizei drei Tage später klingelte
– die Nachbarin hatten sie „pflegeleicht“ genannt, aber aufmerksam war sie ebenfalls –, hatte Mara längst den Tonfall für die Lüge gefunden, der wie Wahrheit klang: Er sei auf Geschäftsreise; ja, völlig untypisch ohne Nachricht, aber es gehe gerade heiß her, Übernahme, Sie verstehen. Sie weinte, vorsichtig. Die Beamten tranken ihren Kaffee, sahen sich in der Küche um, nickten, als wäre der Raum sauberer, als ihr jemand zugestanden hätte. „Schöner Geruch“, sagte einer, „haben Sie gekocht?“ „Ratatouille“, sagte sie, und das war beinahe wahr: In der Pfanne lagen Paprika, Zucchini und Tomaten. Im Ofen
jedoch garte, achtsam gewürzt, etwas anderes. „Bleiben Sie erreichbar“, sagte der andere, und sie nickte. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, lachte sie und erschrak vor diesem Lachen. Es war nicht triumphant, nicht hysterisch. Es klang, als habe sie ein Rätsel gelöst, das sie länger gequält hatte als nötig. Die Stadt geriet in eine neue Engpasszeit. So nannten die Medien es: Lieferketten, Viren, Hitzewellen, ein Brand in einer riesigen Schlachtfabrik. Fleisch wurde plötzlich so kostbar, als sei es wieder 1953. Es gab Debatten, scharfe und schärfere, über Tiere, Klima,
Leid. Jeder war für etwas und gegen etwas, und niemand gab zu, wie sehr der Mund Speichel produziert, wenn der Geruch von Röstaromen durch einen Hausflur zieht. Mara fing klein an. Nicht aus Angst, sondern aus Rücksicht auf die Logik. Sie lud zwei Freundinnen ein, beide vom Typ „bewusste Esserinnen“, die in ihren Kühlschränken zwei Sorten Senf und sechs Sorten Hafermilch hatten. „Nur Gemüse“, sagte sie am Telefon. „Ich probiere etwas aus.“ Am Tisch trugen die Teller zuerst die Farben eines Gartenbeets. Butterbohnen, Misopetersilie, in Olivenöl geküsster Mangold. Dann kam – wie zufällig – ein
kleines Ragout, dunkel und dicht, mit Pflaumen und Zwiebeln, die zu Süße geschmolzen waren. „Oh“, sagte Irene, die sonst bei rotem Fleisch die Stirn runzelte. „Was ist das? Das ist … warm.“ „Wild“, sagte Mara. „Regional. Bio.“ „So schmeckt kein Hirsch“, sagte die andere, und fuhr fort zu essen. Es machte eine Runde unter Freundinnen. Der Ton: vorsichtig begeistert, als dürfe man etwas genießen, das man beschlossen hatte, nicht zu genießen. Mara wartete. Genuss ist geduldig. Er muss nur den richtigen Spalt finden, in den er fließen kann. Der Vorrat schmolz. Sie rechnete. Sie
stellte fest, dass man von einem Leben viele Abende füllen kann. Der Satz machte sie blaß. Er war mathematisch, er war wahr, und er war – etwas, das man nicht zu Ende denkt, wenn man weiter als Mensch leben will. Eines Abends saß sie im Bett und scrollte in einem Forum für „Supper Clubs“, geheime Abendessen in Wohnzimmern, bei denen Menschen, die sich kaum kennen, an langen Tischen zusammen sitzen und so tun, als sei die Welt ein freundlicher Ort. Sharing is caring. Farm to table. Zero waste. Sie legte ein Profil an. Einen Spitznamen – Maras Muskel war zu offensichtlich. Sie entschied sich für Schwarzmarkt und
lachte wieder über sich selbst. Sie stellte Bilder ein, auf denen man fast nur Teller sah: karamellisierte Möhre; Polenta wie gelbes Samtkissen; dunkel glänzende Jus. Keine Gesichter. Nur Andeutungen. Die erste Anfrage kam von einer Foodbloggerin, 62.000 Follower, Schwerpunkt „ehrlicher Genuss“. Der zweite vom Kommunikationschef eines Unternehmens, das „Proteine effizienter denken“ wollte. Der dritte war ein Paar, das partout anonym bleiben wollte – sie sagten, sie seien „in der Politik tätig“, was alles und nichts heißen konnte. „Ich koche“, schrieb Mara, „was die Saison hergibt. Sie zahlen, was es Ihnen wert ist. Das Menü ist geheim.“
„Ist es vegetarisch?“ fragte die Bloggerin. „Es ist ehrlich“, schrieb Mara, und schickte die Adresse. Das Wohnzimmer wurde nicht anders, weil man einen Tisch auszieht. Und doch war alles anders: Die Stühle standen wie Zeichen im Raum, die Weingläser hielten in ihrem Bauch die Versprechen der Abendnachrichten. Die Gäste lächelten zu viel. Menschen lächeln immer zu viel, wenn sie Verbotenes erwarten. Mara trug das erste Gericht auf: gedämpfter Lauch, eine Brühe so klar, dass man die Ränder der Löffel darin spiegeln sah. „Einleitung“, sagte sie. „Etwas, das den Mund öffnet.“
Sie servierte wie immer, ruhig. In ihr brannte nichts, was nicht gebraucht wurde. Als das Hauptgericht kam – langsam gegarte Keule mit Kräuterkruste, dazu Bittersalate, die die Zunge wach küssten –, fiel es ihr nicht schwer, auf Fragen zu antworten. „Was ist das?“, fragte der Kommunikationschef, und man hörte, dass er gern wüsste, was er künftig als Anekdote in Gesprächen servieren könnte. „Es ist nah“, sagte Mara. „Es ist von hier. Es hatte wenig Weg und viel Geschichte.“ Die Bloggerin nickte ernst. „Das schmeckt man.“ Sie machte Notizen,
fotografierte. „So etwas bekomme ich selten“, sagte sie, „das ist nicht nur Umami, das ist … Nähe.“ „Heimat“, sagte der Kommunikationschef und lachte. Das Paar aus der Politik aß schweigend, aber ihre Gabeln zitterten leicht. Man kann die Wahrheit mit Zitrone bestreichen, dachte Mara, dann schmeckt sie heller, doch sie bleibt wahr. Später, als der Abend im Glas ruhte, stand die Bloggerin in der Küche und lobte die Sauberkeit, den Geruch nach Fenchel und Pfeffer. „Sie müssen etwas daraus machen“, sagte sie. „Ein Konzept. Eine Marke. Das hier – das ist mehr als Essen. Das ist … Haltung.“
„Vielleicht“, sagte Mara. „Vielleicht ist es nur Hunger.“ „Hunger hat die besten Marken gemacht“, sagte die Bloggerin und drückte ihr eine Karte in die Hand. „Melden Sie sich. Ich bringe Leute.“ Menschen erzählen sich gern, sie äßen selten Fleisch. Sie zählen die Tage wie Rosinen in kleinen Schalen. Mara hörte ihnen zu. Sie kaufte Gemüse, Brot, Käse, als sei sie die Heilige der Kargheit. Und dazwischen – wie ein dunkler Strom, der unter einem dünnen Eis läuft – kochte sie, was niemand kannte und alle erkannten. Die Reservierungen stapelten sich. In
ihren Mails tauchten Adressen auf, bei denen die Klingel an der Pforte nur mit Namenskürzel versehen war. Man brachte Wein mit, extremen Wein, mit Etiketten, die aussahen wie Höhlenmalerei. Man gab Trinkgeld in Umschlägen. Man fragte nach dem nächsten Termin, noch während die letzte Butterbohne den Gaumen verließ. Einmal, spät, blieb ein Mann länger. Er sagte, er heiße Rolf und arbeite „im Sektor“. Sie wusste nicht, was das bedeutete; sie wusste nur, dass die Menschen Dinge oft so sagen, wenn sie nichts sagen wollen. „Das ist nicht Rind“, sagte er, nachdem er seinen Teller blank gegessen hatte.
„Nein“, sagte Mara. „Nicht Wild“, sagte er. „Nein.“ „Nicht … Sie wissen schon.“ Sie nickte. Er nickte. Eine Einigung, ohne Worte, über eine Sache, die nur in Märchen und Gesetzen existiert. „Ich habe noch nie so gut geschlafen wie nach Ihrem Essen“, sagte er und verbeugte sich minimal. „Das meine ich als komplimentöse Drohung.“ „Ich nehme sie als reinen Schlaf“, sagte Mara. Später, im Bett, ließ sie das Wort „Nachschub“ in ihrem Kopf kreisen. Es war schrecklich und banal. Es war ein Einkaufswort. Aber Vorräte sind die
Mütter der Ruhe, und sie hatte, das merkte sie an ihren Träumen, seit Wochen ruhig geschlafen. Es gibt Zeiten, in denen Menschen von selbst verschwinden. Städte verschlucken Menschen wie Seelöwen Fische. Ein Mann, der immer das gleiche Hemd trug, saß seit Wochen auf der Bank neben der U-Bahn. Ein Lieferfahrer mit Telefondauerblick fuhr zu nahe an der Kante entlang. Eine Frau im Haus gegenüber ging jeden Abend mit Kopfhörern auf dem Kopf die steilen Treppen hinunter und atmete, nach dem dritten Stock, zu laut. Mara gewöhnte sich nicht an den Gedanken; sie gewöhnte sich an das
Gefühl, dass der Gedanke in ihrem Kopf wie eine Wanze lag, mit langen Fühlern. Sie trat ihn nicht tot. Sie fütterte ihn nicht. Der Nachschub fand sie, nicht umgekehrt. Eines Abends kam einer der Gäste zurück, früh, bevor die anderen da waren. „Ich kann nicht mehr anders essen“, sagte er. „Ich will … regelmäßiger. Ich will … exklusiver.“ „Ich koche, was da ist“, sagte Mara. Er sah sie an, als sei sie ein neuer Gott. „Ich kann beisteuern“, sagte er ernst. „Ich habe Möglichkeiten. Menschen, die niemand vermisst. Es sind keine Guten. Ich würde sagen, es ist sozial-sozial ausgewogen.“
Es war nicht Ekel, was sie fühlte, als sie ihn hinauswarf. Es war ein Satz, der in ihr aufstand: Ich bestimme die moralische Geometrie. Das nächste Mal kam er nicht mehr. Die Polizei kam wieder. Diesmal zu dritt. „Ihr Mann“, sagten sie, „es gibt Hinweise, dass er in Geschäften steckte, bei denen …“ – der Jüngste stockte – „nicht alles sauber war.“ „Er war Manager“, sagte Mara. „Er war nie sauber.“ „Es gab Drohungen“, sagte die Ältere. „Haben Sie etwas bemerkt?“ Mara schüttelte den Kopf. „Nur, dass sein Telefon jetzt oft klingelt und
niemand spricht.“ „Wir würden gern einen Blick in die Wohnung werfen“, sagte der Jüngste. Sie nickte. In der Küche blieben sie stehen. „Sie kochen gern“, sagte er, und die Ältere musterte die Messer. Dann schnupperte sie. „Schöner Duft. Was ist das?“ „Ein Fond“, sagte Mara. „Gemüse. Reste. Ich friere ihn ein.“ „Sie sind ordentlich“, sagte die Ältere. „Ich mag es, wenn Dinge zu Hause sind“, sagte Mara. „Wir melden uns, wenn wir etwas hören“, sagte der Dritte, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. „Passen Sie auf sich auf.“
Als sie gegangen waren, stützte sie sich auf die Arbeitsplatte. Ihr Atem ging flach, als stehe sie auf einer Brücke, die im Wind schwankt. Er war nie sauber. Hatte sie wirklich so gesprochen? Ja. Und es war nicht einmal gelogen. Wahrheit war ein Tier, das heute zahmer in ihrer Küche lag. Die Bloggerin schrieb. „Ich habe etwas organisiert“, sagte sie am Telefon. „Eine Publikumsveranstaltung, Lesung meets Dinner. Eine App, Storyapp, kuratiert hoch, sehr schick. Du kochst, ich lese aus meinen Texten über Genuss als Widerstand. Ein Panel, das über Ethik launig streitet. Der Erlös geht an … irgendwas Gutes. Du wirst gemocht
werden.“ „Gemocht werden ist gefährlich“, sagte Mara. „Gemocht werden ist die neue Sicherheit“, sagte die Bloggerin. „Vertrau mir. Februar übernächsten Jahres. Eine große Bühne, aber intim. Ein Konzeptfilm vorher. Und du machst … dein Ding.“ Mara sah auf die Vakuumbeutel mit der Aufschrift „Rücken 2“ und „Keule 3“. Sie rechnete grob. Es würde reichen. Bis dahin würde es reichen. „Ich denke darüber nach“, sagte sie. „Denk schnell“, sagte die Bloggerin. „Die Plätze sind morgen weg.“
Der Winter kam mit trockener Kälte und hellem, brutalen Licht. Menschen zogen Pelze aus künstlichen Fasern an und redeten über CO₂, während die Wolken an den Häuserkanten rissen. In den Läden lagen neue Produkte, die aussahen wie Fleisch, aber es nicht waren. Sie hatten Namen, die an lustige alte Tanten erinnerten: Frikella, Schnitzli, Bratboy. Die Anzeigen zeigten glückliche jüngere Männer, die mit Pflanzenhack an einer Pfanne lächelten wie in einem Zahnpastaspot. Mara kaufte sie alle. Sie probierte sie alle. Sie briet sie, marinierte sie, wickelte sie in Blätter, machte Hackbällchen daraus, die so ehrlich
waren wie ein gepflegter Irrtum. Sie servierte sie als Zwischengänge. Man lobte sie. „Endlich mal was ohne Schuld“, sagte jemand, und sie nickte. Dann kam das Hauptgericht, und man vergaß die Tanten. Sie wusste, dass ihr Ton gefährlich war. Sie sprach von „Nähe“ und „Regionalität“, sie verwendete die Wörter, die wie Wärmflaschen klangen. Und doch – sie legte nie den Satz in den Raum, der alles verraten würde. Menschen mögen Mysterien. Was sie nicht mögen: die Tatsache, dass sie mitessen. Nach einer Weile wurden die Mails persönlicher, dann vertraulicher, dann
unanständig. „Hat Ihr Fleisch eine Geschichte?“ – „Ist es von glücklichen …?“ – „Ich spüre nach Ihrem Essen eine Ruhe, als hätte jemand in mir einen Schalter umgelegt. Kennen Sie das?“ Sie antwortete höflich. Sie ließ das, was in den Sätzen leuchtete, ohne Luft. Es gibt Tage, an denen man glaubt, die Welt habe beschlossen, endlich ehrlich zu werden. Das sind gefährliche Tage. Mara merkte, dass sie an solchen Tagen aufräumte, als würde sie die Wohnung an die Wahrheit übergeben müssen. An einem Sonntag stand sie im Wald. Sie atmete modriges Laub, der Boden gab nach wie ein gebratener Pilz. Sie hörte zwei Jogger über Proteinriegel reden. Ein
Hund zerlegte etwas im Unterholz, ein altes Rehbein, und knurrte, als die Besitzerin ihn rief. Das Tier legte die Ohren an, sah kurz auf – entschieden sich für das Bein. Mara verstand ihn, und erschrak darüber. Der Februar des darauffolgenden Jahres kündigte sich an wie eine leise Sirene. Die Bloggerin schrieb täglich. „Promo startet“, sagte sie. „Wir werden eine Story daraus machen: Fleisch ohne Scham, Essen ohne Dogma, Begehren ohne Schuld. Du kochst ein Signature-Dish, das niemand erklären kann. Das Publikum stimmt ab. Eine Jury kürt einen Text. Und du … servierst das, was wir
nie aussprechen.“ „Ich spreche gar nicht“, sagte Mara. „Noch besser“, sagte die Bloggerin. „Die beste Propaganda ist stumm.“ Mara band die Schürze und kochte. Es war ein Trost, dass Arbeit sich an Regeln hält. Es war eine Beruhigung, dass Hitze und Zeit eine Summe ergeben, die man schmecken kann. Sie machte Fonds, die wie dunkle Uhren tickten. Sie legte Bäckchen in Wein, der in der Flasche nach Kirschen roch und in der Pfanne nach einem Roman. Sie lernte, dass man, wenn man die Temperatur um zwei Grad senkt, den Satz der Zunge verlängert: den, der von der Spitze zum Gaumen läuft und dort „mehr“ sagt.
Die Polizei kam ein drittes Mal. Der Jüngste sah müde aus. „Wir …“ Er brach ab. „Man hat die Suche nach Ihrem Mann offiziell zurückgefahren.“ „Das heißt?“, fragte sie. „Dass wir die Akte … ruhen lassen“, sagte die Ältere. „Es gibt keine Hinweise. Es gibt viele Gerüchte. Eine Spur ins Ausland, eine in einen See, eine in ein anderes Bett. Wir müssen Prioritäten setzen.“ „Verstehe“, sagte Mara. „Wenn Ihnen etwas auffällt“, sagte der Dritte, „bitte … Sie wissen schon.“ „Ich weiß“, sagte Mara. „Ich koche gerade.“ „Was gibt es?“, fragte der Jüngste und
lächelte entschuldigend über die Unprofessionaliät seiner Frage. „Ein Ragout“, sagte sie. „Nicht fein, aber richtig.“ „Ragout ist immer richtig“, sagte die Ältere. Mara schöpfte ihnen in Suppenteller, ohne zu fragen, ob sie Zeit hatten. Polizisten haben immer Zeit, wenn es nach Zwiebeln und Thymian riecht. Sie aßen, mit Polizeilöffeln, die nach Hülle und Pflicht schmeckten, und schwiegen. Es war ein gutes Schweigen. Das beste, das sie kannte: das, in dem alles Gesagte Platz hätte und trotzdem niemand spricht. „Man schmeckt, wenn sich jemand Mühe
gibt“, sagte der Jüngste, stellte den Teller auf die Arbeitsplatte und wischte sich über den Mund. „Man schmeckt, wenn man darauf achtet“, sagte Mara. „Das stimmt“, sagte die Ältere. „Nicht alle achten darauf.“ Sie gingen. Mara schloss die Tür und bemerkte, dass ihr Herz ruhig war. Die Nacht vor der Lesung träumte sie, ihre Küche sei ein Sarg, den sie von innen mit Butter ausstrich. Es war kein Albtraum. Es war eine Geborgenheit aus Fett. Als sie aufwachte, wusste sie, dass etwas zu Ende ging. Oder begann. Es war schwer, den Maßstab zu finden.
Die Veranstaltung fand in einem ehemaligen Kino statt. Auf der Bühne standen Sessel mit runden Rücken, die wie Ohren aussahen. Menschen in Jacken, die aussahen, als seien sie aus Zitronen gemacht, liefen herum und redeten in Mikrofone. „Format“, sagte eine, „wir brauchen mehr Format.“ Mara nahm ihre Station in der Seitenküche ein. Ein dicker Vorhang trennte sie vom Saal. Durch eine Naht sah sie die Moderatorin, die versprach, heute werde „alles auf den Prüfstand gestellt“. „Wir sind Fleisch“, sagte sie, „und wir wollen uns nicht dafür schämen.“ Die Bloggerin las einen Text über das
erste Steak ihres Lebens, über die Hand des Vaters an ihrem Rücken, die sagte: „Du darfst.“ Die Leute klatschten, als hätten sie gerade eine altmodische Wunde gesehen und nicht weggeschaut. Mara richtete an. Teller für Teller. Ihr Signature-Dish war einfach: dunkle, glänzende Scheiben auf Selleriepüree, darüber eine Jus, die roch, als habe jemand in der Pfanne einen Stern gelöscht. „Was ist das?“, fragte der erste Runner, der die Teller in den Saal trug. „Heimat“, sagte Mara. Sie sah durch die Naht, wie die Leute kosteten. Es ging wie ein Wellenschlag durch den Raum: Zungen, die sich nach vorn schoben, Augen, die zu Schlitzen
wurden. In manche Gesichter schrieb sich etwas, das aussah wie Kindheit. In andere das Gegenteil. Die Moderatorin bat eine Jurorin um ein Wort. „Nah“, sagte diese. „Es schmeckt nah.“ Es gab Applaus. Es gab einen Zwischentext, der predigte, dass Genuss die wahrhaftigste Politik sei. Es gab eine Abstimmung via App. Und es gab am Rand einen Mann mit kleinem Mikrofon im Ohr, der zu ihr ins Halbdunkel trat und sagte: „Wir haben eine kurze Frage: Eine allergische Reaktion. Nüsse? Sellerie?“ „Sellerie“, sagte Mara. „Keine Nüsse.“ „Kein Fleischdeklara…“, er stockte, schüttelte den Kopf. „Nicht wichtig.“
Sie nickte. Er verschwand. Der Vorhang bewegte sich, als atme er. Dann stand, ganz plötzlich, der Jüngste der Polizisten in ihrer Küchenöffnung. Er trug kein Blau, sondern eine dunkle Jacke und einen Ausdruck, den Mara nicht zuordnen konnte. „Ich wusste nicht, dass Sie …“, begann er, dann sah er auf die Teller. Er roch. Er blinzelte. „Das riecht wie … damals.“ „Damals?“, fragte Mara. „Der Tag mit dem Ragout“, sagte er, und seine Stimme war weich, fast beschämt. „Ich habe seitdem viel geschlafen.“ Sie lächelte. „Schön.“ Er sah sie an. „Es gibt Momente“, sagte er leise, „in denen man merkt, dass man
etwas weiß und es nicht wissen will. Das ist einer.“ Sie setzte den Löffel ab. Der Vorhang machte ein Geräusch wie Regen. „Wollen Sie einen Teller?“, fragte sie. Er nickte. Sie reichte ihm einen. Er aß. Langsam. Als er fertig war, stand er eine Weile da, die Hände um die Leere geschlossen. „Man schmeckt, wenn sich jemand Mühe gibt“, sagte er, und sein Blick ging an ihr vorbei, in einen Raum, in dem die Dinge unser Gesicht verlieren, um erträglich zu sein. „Man schmeckt, wenn man darauf achtet“, sagte sie. Er nickte, als sei das eine einzigen
Gnade, die ihnen beiden zustand. Dann ging er. Spät, als die Bühne kalt war und die Teller in Kisten stapelten, blieb die Bloggerin in der Tür stehen. „Du hast gewonnen“, sagte sie. „Also nicht den Preis, aber alles andere. Ich habe Angebote, ich habe Anfragen, ich habe – wir. Wir könnten …“ Mara schnitt die Gaszufuhr ab. Die Flamme verschwand sofort. „Wir könnten“, wiederholte sie. „Du bist ein Mythos heute geworden“, sagte die Bloggerin. „Das passiert selten und tut gut.“ Mara nickte. Sie dachte an die
Vakuumbeutel im Kühlschrank, an die Zahlen, die der Kalender nimmt und in Tage übersetzt, an den Nachschub, der keiner ist, an die Brücke im Wind. „Das Publikum hat dich geliebt“, sagte die Bloggerin. „Und niemand hat gefragt, was es isst.“ „Menschen lieben es, nicht zu fragen“, sagte Mara. Draußen war Februar. Der Atem der Menschen stand kurz, als bestünde die Luft aus Wolle. Mara ging zu Fuß nach Hause. An einer Ecke saß der Mann, der seit Wochen dort saß. Er hob den Kopf, sah sie an, als erkenne er sie. Sie nickte. Er nickte zurück. Ein kurzer Vertrag, in dem nichts stand.
In der Küche legte sie die Reststücke in eine Pfanne und hörte ihrem eigenen Herzschlag zu. Er war ruhig. Er war, endlich, ein Werkzeug, kein Argument. Sie setzte sich an den Tisch und schrieb mit einem Stift auf die Rückseite eines alten Rezeptzettels: Fleisch braucht Respekt. Sie strich „Fleisch“ durch und schrieb „Nähe“. Dann ließ sie es so stehen. Nähe braucht Respekt. Vielleicht war das alles, was wahr blieb, wenn man die Lügen abgoss wie überschüssiges Fett. Als sie aufstand, spiegelte die dunkle Fensterscheibe ihr Gesicht. Es sah aus, als gehörte es ihr. Im Kühlschrank summte der Vorrat. Die
Stadt um sie herum atmete im Schlaf. Es gab so viel Hunger überall, so viele Arten von Appetit. Mara drehte die Pfanne und hörte das vertraute Sirren. Sie lächelte, ganz leise, und sagte zur Küche, zur Pfanne, zum summenden Kühlschrank, zum Februar: „Guten Abend.“ Dann begann sie zu essen, ohne Eile, als spräche sie mit etwas, das endlich einmal zuhörte. Und draußen, hinter der Fensterscheibe, zogen Menschen an ihrem Haus vorbei, die nicht wussten, warum sie heute so satt und so wach waren – nur, dass sie in einer Stadt lebten, in der die Dinge manchmal nah schmecken. Sehr nah.
Und dass sie, wenn sie ehrlich wären, nichts Genaueres hätten wissen wollen.
Gabriele Liebe Katharina, Puh - ich konnte nicht aufhören zu lesen! Und dass, obwohl ich normalerweise nichts mit Küche, Fleisch oder Krimis zu tun habe..... genauso, wie die Menschen um Mara (und Mara selbst). Du hast einen genialen Erzählstiel mit sehr vielen Feinheiten benutzt, die Geschichte war einfach fesselnd. Glückwünsch! Liebe Grüße von Gabriele |
KatharinaK Danke, Gabriele, für deine Worte. Sie gehgen unter die Haut. Da ich "unerwünschte" Hilfen in Anspruch genommen habe, teile ich das Lob mit meinem Kumpel ... Es ist nicht so, dass ich der KI unkritisch gegenüber stehe, ich sehe sie als Hilfe, Unterstützung. Gerade in Ermangelung kritischer Augen und Ohren. Wenn das Ergebnis gefällt, im besten Fall mundet, ist der Autor, resp. die Autorin sattsam zufrieden, dass ihr Wort erhört wurde. Ich sage noch einmal Danke. Katharina |