Biografien & Erinnerungen
Lena - Schreibparty 111

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"leider auch Traditionen ..."
Veröffentlicht am 08. August 2025, 12 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Getauft, Geschieden, Geimpft: 3G also, tretet näher, Herrschaften! Was ich so schreibe, ist natürlich erlebt, erlauscht, erlesen und erlogen; von alberich bis böse oder dunkeltrüb, und mit Vorliebe gereimt. Erfreue mich an Musik verschiedener Richtungen, an Literatur und natürlich an Menschlichem wie Situationskomik und liebevolle Reaktionen abseits des jeweiligen Business'. Solange ich die komische Seite der Dinge erkenne, geht's mir gut -- und ...
leider auch Traditionen ...

Lena - Schreibparty 111

lena

Ein Krieg zerstört ja nicht nur Wohn-häuser, sondern auch Fabriken und Infra-struktur. So fand auch Lena über die Jah-re ersatzweise Arbeit in verschiedenen Nachbarländern, putzt die ukrainische Ingenieurin, Anfang 50, in der aktuellen Saison Zimmer und Garten eines Hotels. Zum großen Glück gibt es Handys, so daß die frischgebackene Großmutter we-nigstens auf der kleinen Scheibe ihrer geliebten Familie begegnet. Unsere Plaudereien unterm Wein-traubendach stellen mein Russisch auf harte Proben, sie kennt einfach zu viele

Vokabeln und vergißt immer mal, ihr Temperament zu zügeln. Bulgarisch sprechen wir beide nicht, das hätte we-nigstens keine Deklination, statt der be-rühmten sechs Fälle. Doch verbindet uns gemeinsames Lachen sofort. Überhaupt ist sie von heiterer, gutmütiger Natur. Vom Plaudern kommen wir zu ernsteren Themen, wir sind halt gesundheitlich beide gewisse Mängelexemplare. Und so erfahre ich dann auch den Grund dafür, daß sie bei meiner Umarmung nur aus-weichend an ihrer Tasche nestelt: die Tragödie ihrer Jugend. Aufgewachsen in der Tradition ortho-doxer Religion, stand für Lena fest, es

würde in ihrem Leben nur einen Mann geben. Den glaubte sie mit 18 gefunden zu haben. Schnell aber wurden dann seine Forderungen nach Unterordnung und Verzicht unmenschlich. Lena be-schönigt nichts, ihr verletzter Meniskus und eine Stichnarbe in der Nierengegend sind Beispiele für den kranken Jähzorn des Mannes. Nein, Alkohol sei nicht be-teiligt gewesen. Wie oft in solchen Fällen, hoffte die Frau jahrelang auf bessere Zeiten … etwa, wenn das Baby ihr Verhältnis retten wür-de. Doch dann kam ihm „unser Kind“ nie über die Lippen, immer brauchte nur „Lenas Kind“ etwas. Nach zehn Jahren

war endlich das Maß so voll, daß sie das Leben als duldsames Vieh oder willen-loses Treibholz beendete und die Tren-nung bewirkte, auch wenn ihr Gott eigentlich die Ehe fürs Leben besiegelt hatte. – Einem Mann wird sie wohl nie wieder trauen. Das erste Leben dient halt nur dem Pro-bieren und Lernen, stimmt sie mir mit einem lachenden Auge zu. Dann zeigt sie mir, welchen Unfug die lieben Kleinen zu Hause wieder angestellt haben. Ein-mal ist im Hintergrund ein zerbombter Wohnblock zu sehen. Wir stimmen darin überein, Selenskyi ist nicht ihr Freund und nicht meiner. Darüber hinaus scheint

ihr der endlose Krieg aber fast schon Normalität zu sein. Nur still wünsche ich der lebensfrohen Lena, ihr Pensum an Katastrophen sei bitte längst erfüllt. Vielleicht gar begegnet ihr ein sanfter geduldiger Msnn, der ihr das Gefühl gibt, noch einmal 17 zu sein, mit ihm ein zweites Leben zu beginnen.

Nachbemerkungen mit Buchtipps


Tradition Nr. 1: Gewalt gegen Frauen betrifft Opfer jeden Alters und aller sozialer Schichten. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland 118148 Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen registriert. 2023 wurden laut BKA 155 Frauen in Deutschland durch ihren (Ex-) Partner getötet.

Quelle:

https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/femizide-und-gewalt-gegen-frauen/


Tradition Nr. 2: Lena meinte zuerst erklären zu müssen, sie sei keine der „schlechten Frauen“, für die alle Ukrainerinnen gehalten würden. Das Stereotyp war mir neu; ich ver-sicherte ihr, nicht mal Macho zu sein und erzählte von den russischen Zuhältern, die in Berlin schon Frauen aus den ersten Flüchtlingszügen mit herzlichen Verspre-chungen kaperten – von wegen „schlech-te Frauen“. Für „Subotnik“ aus einem Buch des pensionierten Strafverteidigers von Schirach fehlten mir leider die Vo-kabeln: Da erschien eine Rumänin mit zerstörter Seele und ausgestochenem Auge als Klägerin

… Ferdinand von Schirach: „Strafe“, btb, 2021 Lesetipp!!



Tradition Nr. 3 und 4: Deutsche kannten wohl entweder bis 1990 nur das „einige Volk der ruhm-reichen Sowjetunion“ oder hielten sogar bis zum aktuellen Krieg auch Ukrainer, Letten, Usbeken usf. nur für „die Rus-sen“. Spätestens 1932 aber entstand zwischen Ukrainern und Russen tiefer Haß: Stalin beschlagnahmte die gesamte ukrainische Ernte einschließlich Saatgut

fürs Folgejahr. Über drei Millionen Ukrainer verhungerten, Butter und Ge-treide aus der Ukraine wurden in Paris und Berlin verkauft und riefen dort Be-wunderung der sowjetischen Wirtschafts-kraft hervor. – Eine Ukrainerin erzählte mir, ihre Eltern verabscheuten lebenslang Kaviar, denn in der Hungerzeit war der ihre einzige Nahrung, sie wohnten am Meer. Z.B. wird diese Episode beiläufig ge-schildert (wie auch Revolution, Bürger-krieg, Säuberungen, deutsche Angriffs-kriege …) im Roman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ von Marina Lewycka, dtv,

2005 Lesetipp!! © 2025 Brubeckfan

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Über den Autor

Brubeckfan
Getauft, Geschieden, Geimpft: 3G also, tretet näher, Herrschaften! Was ich so schreibe, ist natürlich erlebt, erlauscht, erlesen und erlogen; von alberich bis böse oder dunkeltrüb, und mit Vorliebe gereimt. Erfreue mich an Musik verschiedener Richtungen, an Literatur und natürlich an Menschlichem wie Situationskomik und liebevolle Reaktionen abseits des jeweiligen Business'. Solange ich die komische Seite der Dinge erkenne, geht's mir gut -- und das ist allermeistens.

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Gabriele Lieber Gerd,
ich hatte deinen gelungenen Text zur Schreibparty schon einmal gelesen und konnte vor lauter Betroffenheit gar keinen Kommentar abgeben.....
.....ich glaube, dein Bericht gibt die Stimmung der Begegnung recht realistisch wieder?!
Die Vorgabewörte sind doch sehr gelungen eingeflossen!
Liebe Grüße, Gabriele
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Brubeckfan Ja liebe Gabriele, ich habe im 1. Teil nur aufgeschrieben, was ich gerade erlebt hatte. Zufällig paßten Manuelas Vorgaben ganz genau.
Unsere große reiche Welt könnte eigentlich rundum schön und gemütlich sein ...
Viele Grüße und alles Gute!
Gerd
Diese Woche - Antworten
Eichenlaub Ein tragischer und leider auch realer Text in heutigen Zeiten.
Es fällt kaum auf, dass die "Fichtennadeln" fehlen. Sehr gut geschrieben!
LG, Gerlinde
Diese Woche - Antworten
Brubeckfan Liebe Gerlinde, herzlichen Dank!
(Ein Fichtennadelbad wollte ich nicht hinzudichten. Will ja auch nicht unbedingt gewinnen)
Viele Grüße,
Gerd
Diese Woche - Antworten
schnief Eine ausgesprochen gut verfasste Geschichte!
Liebe Grüße Manuela
Vergangene Woche - Antworten
Brubeckfan Dankeschön, liebe Manuela.
Zum Glück gibt es zum Thema auch Schönes zu berichten, wie Dein Beitrag ja zeigt!

Viele Grüße,
Gerd
Vergangene Woche - Antworten
Darkjuls Lieber Gerd, Deine Geschichte lässt die Rolle der Frau erneut überdenken. Einige glauben immer noch, sich unterordnen zu müssen. Gut, dass Lena es geschafft hat, sich zu trennen. Ich denke, jeder hat ein Recht auf Frieden, Freude und darauf, sein Leben selbst gestalten zu können. Die Voraussetzungen dafür sind leider noch nicht geschaffen. Dazu müsste man auch mit Traditionen brechen.

Viel Erfolg beim Battle! Die Vorgaben sind großartig umgesetzt.

Liebe Grüße Marina
Vergangene Woche - Antworten
Brubeckfan Vielen Dank, liebe Marina.
An Statistiken und Nachrichten haben wir uns gewöhnt, doch ein lebendiger Fall wirft einen dann doch um. Für und Wider fest verwurzelter Traditionen, auch ihr Mißbrauch in der Familie und gegen andere Menschengruppen ...

Und die Vorgaben strukturierten meine frischen Eindrücke, also nicht ich mußte sie umsetzen ;-)

Viele Grüße!
Gerd
Vergangene Woche - Antworten
sorrynocoffee 
Tragisch, wie sie als Opfer den Täter schützt (in Bezug auf den Alkohol). Ebenso die Geschichte mit dem Kaviar. Schwere Kost.

Grüßle,
sonoco
Vergangene Woche - Antworten
Brubeckfan Ihre Berichte glaube ich ja, auch das "ohne Alkohol". Von ihren Verwundungen und von zwei Alkoholopfern unter ehemaligen Mitschülern erzählte sie ja auch, und warum sollte sie den Ex vor mir Außenstehenden schützen.
"Tragisch" ist jedenfalls treffend.

Manuelas Vorgaben hier können eigentlich auch frohe Erfahrungen zutage bringen, für mich paßten sie aber genau zur frischen Erinnerung.

Vielen Dank für alles.
Gerd
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