Naoko
Naoko war auf dem Heimweg.
Sachte und konzentriert trug sie den Krug auf ihrem Kopf, gefüllt mit kostbarem Wasser.
Die Schultern schmerzten, aber auf die Kraft ihrer Hände war Verlass.
Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu.
Naoko orientierte sich an der langsam untergehenden Sonne und wusste, wenn sie nun ohne Störungen gleichmäßig weiter laufen würde, könnte sie vor der Dunkelheit Zuhause sein.
Dass wäre schön!
Müde war sie vom langen Tag, an dem sie so viel erlebt hatte, dass es für mehrere Tage reichen würde.
Ebenso, wie der Krug Wasser auf ihrem Kopf für mehrere Tage reichen sollte!
Während Naoko ihre Füße sicheren Schrittes auf dem Lehmboden aufsetzte, erinnerte sie sich an das Gespräch mit der jungen Frau, die sie am Brunnen getroffen hatte.
Diese war vor ihr dort angekommen und lauschte bereits dem alten Mann, welcher in der gesamten Ebene als der Brunnenwächter bekannt war.
Der Brunnenwächter begrüßte jeden Wasserträger, indem er dessen Krug
nahm und am Seil befestigte. Bevor er jedoch den Krug anhand der Spindel herunter ließ, befestigte er das Seil und nahm sich die Zeit, den Menschen zu umarmen. Die Umarmungen des alten Mannes waren etwas ganz Besonderes!
Während er mit seinen Armen die Schultern des Wasserträgers zu entspannen wußte, flüsterten seine Lippen ohne Stimme etwas, dass nur dieser vernehmen konnte.
Danach nahm der Brunnenwächter das Seil und ließ den Krug in die Tiefe.
Meistens dauerte es sehr lange, bis der alte Mann den gefüllten Krug mit der
Spindel wieder herauf geholt hatte, um diesen auf einen hohen Stein abzustellen.
Von hier aus konnte jeder Wasserträger seinen kostbaren Schatz mitnehmen.
Naoko hatte bei ihrer Ankunft am Brunnen zufällig direkt in das Gesicht der jungen Frau geblickt, während diese dem alten Brunnenwächter in der stillen Umarmung lauschte.
Naoko hatte gesehen, wie ein kleiner Strahl von Glitzerfunken quer über ihre Augen gehuscht war und in einem funkelnden Strahl endete.
Dieser Stern schien in Bewegung zu sein und leuchtete auf der dunklen Haut der jungen Frau.
Allmählig stand die Sonne schon ziemlich tief und Naoko fühlte sich erschöpft.
Doch die Erinneerung an das Gespräch mit der jungen Frau, deren Stirn leuchtete, gab ihr Kraft und Zuversicht, den restlichen Heimweg ruhigen Schrittes zu bewerkstelligen.
Das kostbare Wasser in ihrem Krug schwappte sanft und gleichmäßig.
Es wird ihrem Körper und ihrer kleinen Enkelin gut tun.
Das reine Wasser war den langen Weg zum Brunnen Wert.
Ohne die Umarmung des Brunnenwächters würde ihr der Weg wesenhtlich schwerer fallen.
Und doch war es heute die Begegnung mit der jungen Frau, welche sie beflügelte und Kraft spendete.
Naoko hatte sich getraut, sie anzusprechen, obwohl die junge Frau schon im Begriff war, ihren gefüllten Krug vom Stein zu heben.
Natürlich hatte Naoko sie nicht gefragt, was der Brunnenwächter lautlos zu ihr gesagt hatte. Sie hatte stattdessen auf ihre leuchtende Stirn gezeigt und sie gefragt, was der Stern zu bedeuten habe?
Da hatte die junge Frau sich aufgerichtet und sie mit strahlenden Augen und Leuchten auf dem ganzen Gesicht angesehen.
Der Stern war in Bewegung und sprühte kleine Glitzerfunken.
Plötzlich war es Naoko, als würden tausende prickelnde kleine Funken überspringen in ihre eigenen Augen, auf ihre faltigen Wangen und sich verteilen über ihre Lippen bis hin zum Hals.
Friedliche sanfte Freude weitete sich in ihr aus und sie spürte, dass sie nun ebenso strahlte wie diese junge Frau am Brunnen.
Dann hatte diese junge Frau ihre Arme um sie gelegt und ihr zugeflüstert, dass sich der Brunnenwächter so sehr über ihr Kommen gefreut habe.
Naoko hatte eine unbeschreibliche Freude in der Umarmung gespürt und sie vorsichtig gefragt, was so Besonders war?
Daraufhin hatte sie ihr leise geantwortet, dass der alte Mann meinte, er habe lange auf sie gewartet. Und er habe sie gebeten, fortan bei ihm zu bleiben, damit er sie in die Kunst einer Brunnenwächterin einweisen kann.
Naoko hatte mit jeder Zelle ihres Körpers die freude dieser jungen Frau über die Ehre einer so wichtigen Begabung gespürt.
Mit den letzten Sonnenstrahlen sah Naoko die Hütten ihres Dorfes.
Sie freute sich sehr darüber, den langen Weg bei Tageslicht beenden zu können. Mit Blick auf die strohbedeckten Häuschen wurde ihr Schritt ein wenig zügiger, ohne seine Gleichmäßigkeit zu verlieren.
Schon von Weitem entdeckte Naoko ihre kleine Enkeltochter, die am Rande des Dorfes mit den anderen Kindern spielte.
Sicherlich spielten sie heute dort, um ihre Ankunft nicht zu verpassen.
Und schon hatte ihre Enkelin sie entdeckt und kam heiter mit ihren kleinen Armen wedelnd auf ihre Großmutter zugelaufen.
Offenbar wollte sie ihrer Großmutter etwas erzählen, doch sie hielt inne und staunte Naoko mit großen Augen an.
Ihr fragender Blick war auf die Stirn gerichtet: "Oma, was ist das denn für ein schöner flackernder Stern in deinem Gesicht?"
Naoko strahlte ihr Enkelchen an und antwortete:
"Den Stern habe ich heute am Brunnen geschenkt bekommen. Er ist wunderbar, nicht wahr?! Ich habe dir auch etwas mitgebracht! Gleich, wenn wir Daheim sind und ich den Krug abgestellt habe, bekommst du es!"
Freudestrahlend hüpfte die Kleine neben der alten Frau her, welche sicheren Schrittes den Wasserkrug nach Hause balancierte.
Als Naoko den Krug mit dem kostbaren Wasser auf dem Tisch abgestellt hatte, rief sie: "Komm her, meine Süße!"
Naoko kniete sich nieder und schaute ihrer Enkelin tief in die Augen. Dann umarmte sie ihr kleines Mädchen wortlos mit all ihrer Freude und innigen Liebe.
Tränen der Erschöpfung und Dankbarkeit rollten über ihr Gesicht und mischten sich mit tausenden kleinen glitzernden Sprühfunken.
Der neu geborene Stern hüpfte freudig durch die strohbedeckte Hütte und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis.
Bild und Text:
Gabriele Busch