Astgabel,ängstlich, schneiden, Tapetenkleister, Storch, Reise, Regen, nachdenken, wuchern
Erwin, das Frühlingskind
Frühlingserwachen: Osterglocken, Hyazinthen, Krokusse verbreiten lockende Düfte, Bienen umschwirren sie summend. Laue Lüfte, zartes Grün erfreuen die Wintermüden. Anreisende Störche, brütende Vögel, Wildschweine in der Brunftzeit.
All überall erwacht die Natur.
Und Erwin, er kommt gerade auf die
Welt.
Kaum hat er sich hinausgewurstelt, da fällt sein Blick auf eine weiß gekleidete Silhouette, die ein Ding in der Hand hält, dass gebogen ist wie eine verkümmerte Astgabel. Das sieht gefährlich aus. Er zuckt ängstlich zusammen. Will das weiße Alien ihn etwa damit schneiden? Oder pieken? Nein, der Folterknecht legt den komischen Gegenstand weg und fängt an das Zeug, welches an Erwin pappt, und die Konsistenz von Tapetenkleister hat, abzuwischen.
Dann wird er einer dämlich grinsenden Person auf den Bauch gelegt.
„Was hatn der Storsch da gebracht“, säuselt sie. „Du hast die Reise raus aus
mir überstandn, mei kleener Scheißer.“
Was ist hier los? Storch? Reise? Scheißer? Diese Person wuchert in der Tat mit Worten.
Erwin holt tief Luft und schreit ihr ins Gesicht. Das hat sie jetzt davon.
„Oi wie fein, du hast eene kräftische Lunge“, jetzt grinst die Person noch breiter. „Nu gudd, dei Schädel ist bissel krumm, aber das liegt an der Geburtszang, mit der se dich geholt habn. Das wird schon.“
Also ist das Folterinstrument von vorhin eine Geburtszange. „Was zu viel ist“, denkt Erwin. Er schließt ermattet die Augen und schläft ein.
Die nächste Zeit verbringt er in einem
verzweifelten Dämmerzustand. Ach, wäre er doch im warmen, weichen Mutterleib geblieben. Dort war niemand, der so niveaulos über ihn gackerte und sich als Mutti bezeichnete.
Aber es kommt noch schlimmer. Im Heim der Familie angekommen wird er vom Familienoberhaupt, dem Großvater, begutachtet. „Der ist selbst fürn Untermaier schäbbisch!“ Opa hält nie mit seiner Ansicht hinterm Berg. „Früher wars all besser, auch die Kinder“, merkt er an und schlurft davon. „Bas uff, dass dee Bier leer is“, ruft er über die Schulter.
„Aber Opi, hast‘d den Regen nich bemerkt?“, meldet sich Pitter, der älteste
Enkelsohn, zu Wort.
Opa dreht sich um. „Lass mich mal nachdenken. Stimmt, regnet. Und? Biste aus Zucker?“
Mutter klatscht in die Hände. „Keen Widerspruch. Elsbeth, Pitter, ab zur Bude. Nehmt den Schäbbischen mit. Unnern Kinderwagen passt ne ganze Kiste Bier. De Pulle mitn Doppelkorn könnt ihr neben den Kurzen leschen, der säuft Gott sein Dank noch nich.“ Sie drückt den beiden Kindern einen Schein in die Hand.
„Meenste wir können den Scheißer ins Gestrübb kippn? Dann sind ma den los“, Elsbeth schaut ihren Bruder fragend an.
„Ne, komm ma, gibt Ärscher und ohne
Kindrwogn müssen mir das Bier schläppn.“ Auch Pitter geht der Familienzuwachs auf die Nerven, aber er denkt praktisch.
„Also ich hätt lieber een Hund gehabt“, Elsbeth zieht entschlossen die Nase hoch. „Vielleicht kann ich den next emol gegen een Hund eintauschen.“
Am Kiosk angekommen erwerben die Kinder problemlos eine Kiste Bier, die sie unter dem Kinderwagen verstauen. Die Flasche Doppelkorn schieben sie unter Erwins Kissen.
Der hat entschlossen die Augen zugekniffen und zusätzlich die Fäuste auf die Augen gelegt. Elsbeth drückt die Fäuste weg und schaut ihn prüfend an.
„Ach weeßt du“, stellt sie fest. „So schäbsch bist du gar nicht. Du siehst eenfach aus wie de Oba, da kannst de och nischt für!“
Es ist Frühling geworden: Primeln, Rankunkel, Tulpen blühen, Hummeln brummeln, schwellende Knospen platzen auf, zurückkehrende Rauchschwalben bauen Nester, Kröten wandern auf geschützten Wegen.
Erwin weiß: Er wird dieser Familie niemals entkommen …
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