Kurzgeschichte
Der Behördengang

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"Der Behördengang"
Veröffentlicht am 23. März 2024, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her. Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch. Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.
Der Behördengang

Der Behördengang

Der Behördengang

Der Einsiedler Pancho stand mit dem ersten Krähen der Hühner auf, trank seinen Kaffee und schwang kurz nach dem letzten Schluck die Machete durch sein Zuckerrohrfeld. Er schnitt die Stängel kurz über dem Boden ab und entfernte die zuckerlosen Blätter am oberen Ende. Unermüdlich arbeitete er bis zum Einbruch der Dunkelheit. Eine Verschnaufpause gönnte er sich nur, wenn er den Klingenschärfer aus der Schutzhülle zog, um die stumpf gewordene Machete wieder rasiermesserscharf zu machen. Wie immer schützte ein Leinenhut seinen

Kopf vor den heißen Sonnenstrahlen und hielt die Schweißtropfen aus seinem Gesicht. Die hochgekrempelten Ärmel zeigten seine braun gebrannten Arme. Er bemühte sich, bis zum Abend das ganze Feld abgeerntet zu haben. Pancho hatte vor, am nächsten Tag in die Hauptstadt San José zu fahren, um einen fälligen Behördengang zu erledigen. Plötzlich hörte er das Zischen einer sich vermehrenden grün-gelben Palmenotter und verlangsamte augenblicklich sein Tempo. Der Anblick der Schlange, die sich spiralförmig zwischen den Stängeln hindurchschlängelte, ließ ihn erschaudern. Er ließ das bedrohliche Kriechtier in Ruhe. Er überwand seine

Angst nur, weil er sich verpflichtete, der Kooperative eine bestimmte Menge Zuckerrohr zu liefern. Ab und zu packte er einen Stapel Zuckerrohr auf jede Seite seines Pferdes und trug sie auf die Ladefläche des Anhängers, der für die Kooperative bereitstand. Am Abend seufzte er zufrieden, denn er hatte seine fünf Hektar Parzelle ganz allein abgeerntet; einen Helfer konnte sich Pancho nicht leisten, seit zehn Jahren verrichtete er seine Arbeit allein. In dieser Zeit hatte ihm niemand das Stück Land streitig gemacht, das er sich im Kanton Osa ausgesucht und eigenmächtig besetzt hatte, nachdem es ihm im Guarco-Tal

landwirtschaftlich zu eng geworden war. Nach Ablauf des zehnten Jahres hatte er somit das Recht, das Land sein Eigen zu nennen und es auf seinen Namen im nationalen Grundbuch eintragen zu lassen. Er freute sich über diese Aussicht, für die er zehn Jahre lang unermüdlich gearbeitet hatte. Er freute sich auch über die Möglichkeit, eine Reise in die Metropole San José zu unternehmen. Er hatte schon so viel Gutes über die Hauptstadt des Landes gehört. Am nächsten Tag holte er den Scheck über seinen Gewinn im Büro der Genossenschaft ab und ging sofort zur Bank, um ihn

einzulösen. Die Schlange vor dem einzigen Schalter war lang. Der Kassierer unterhielt sich mit jedem Kunden über das Fußballspiel am vergangenen Sonntag. Pancho sah sich gezwungen, seine geplante Reise wegen der Langsamkeit des Kassierers um einen Tag zu verschieben. Am nächsten Morgen stieg er bei Sonnenaufgang auf sein Pferd. Mittags erreichte er die Pulperia San Martin, einen Tante-Emma-Laden, der auch als Bushaltestelle für die Linie in die Provinzhauptstadt Puntarenas diente. Er brachte das Pferd auf die Weide, die derselben Pulperia-Familie gehörte. Zufrieden stellte er fest: Keine

Warteschlange vor der Bustreppe, wie er vermutet hatte. Die Reisenden waren in kleinen Gruppen im Laden verstreut. Eine Gruppe besorgte sich Proviant für die Fahrt, eine andere fächelte sich mit bloßen Händen frische Luft zu, Schweißperlen tropften vom Gesicht, ein Pärchen knabberte abwechselnd an einem Brötchen. Alle warteten gespannt auf das Zeichen zur Weiterfahrt. Kurz darauf gab der Busfahrer ein Zeichen und alle drängten sich in den Bus. Wenn jemand Pancho grüßte, achtete er nicht darauf. Er setzte sich und stellte die Tasche mit seinen Kleidern auf den Platz neben sich. Der

Schaffner fragte: »Wohin fahren wir?«, er murmelte »Puntarenas« und zahlte den vollen Fahrpreis. Auf halbem Weg in die Stadt Puntarenas schien der gelbe Schulbus aus den USA manövrierunfähig, nachdem ein Felsbrocken auf der Schotterstraße ein Loch in einen Vorderreifen gerissen hatte. Den Fahrgästen fuhr der Schreck in die Glieder. Glücklicherweise konnte sich der Fahrer schnell beruhigen und das Fahrzeug anhalten. Stunden vergingen, bis ein kleiner Lastwagen mit einem jungen Mann am Steuer auftauchte, dessen Kleidung teilweise mit Fett verschmiert war; er lud einen Ersatzreifen ab. Der Busfahrer

wechselte den Reifen und der Bus fuhr weiter. Die Fahrgäste klatschten vor Freude. Pancho kam zu spät in Puntarenas an und verpasste den letzten Bus nach San José. Die Herbergen in der Nähe der Endstation waren alle belegt, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als auf einer Parkbank zu übernachten. Bald weckte ihn ein Polizeiknüppel. »Der Park ist kein Schlafplatz für Pennbrüder«, hörte er schroff. Er sei kein Pennbruder, entgegnete Pancho, er habe nur den letzten Bus nach San José verpasst, morgen nehme er den ersten. Im Park sei Pennen sowieso verboten. Müde schleppte er sich zum Busbahnhof

zurück, gesellte sich zu den anderen, die auf dem Bürgersteig saßen, und fing sofort an zu schnarchen. Der erste Bus nach San Jose war überfüllt. Dunkle Rauchschwaden quollen aus dem Auspuff, als sich der Bus den Berg hinaufquälte. Wie aus dem Nichts tauchte ein Uniformierter auf einer knatternden Harley Davidson auf. Er winkte zum Anhalten. Der Busfahrer gab ihm einen Geldschein und nickte ihm zu, die Fahrt fortzusetzen. In San José angekommen, suchte Pancho nach einer günstigen Pension in der Nähe des Busbahnhofs. Er fragte die Rezeptionistin nach dem Weg zum Nationalen Grundbuchamt. Das liege am

anderen Ende der Stadt. Es sei billiger, mit dem Bus zu fahren, aber komplizierter, wenn man sich in der Großstadt nicht auskenne. Etwas teurer, aber bequemer sei es, ein Taxi zu nehmen. Da müsse man früh am Morgen hin, wegen der endlosen Warteschlangen sei es jetzt sinnlos, fügte die Empfangsdame mit verführerischem Blick hinzu. Hundemüde, aber neugierig, weil er zum ersten Mal in der Hauptstadt war, beschloss er, einen Rundgang durch die umliegenden Straßen zu machen. Pancho betrachtete die elegant gekleideten Passanten, einige Herren in Anzug und Krawatte, und sehnte sich

nach seinem Zuhause. Die festlich geschmückten Schaufenster lenkten ihn ab. Ziellos schlenderte er durch die Menge, vorbei an Geschäften, vor denen sich die Menschen drängten. Er blieb vor dem Schaufenster eines Schreibwarenladens stehen. Er betrachtete die vielen Mappen. Er stellte sich vor, wie er seine Besitzurkunde in einer solchen Mappe unter dem Arm nach Hause tragen würde. So wird mein Geburtstagsgeschenk aussehen, dachte er. Hungrig betrat er ein kleines Restaurant am Marktplatz, bestellte etwas zu essen, griff in seine Hosentasche und erstarrte. Er tastete alle Taschen ab. Sie waren leer. Da fiel ihm der Typ ein, der ihn vor

dem Schaufenster angerempelt hatte. Ohne das bestellte Gericht anzurühren, verließ er unter den bösen Blicken des Wirtes das Lokal. Zum Glück hatte er eine Handvoll Geldscheine unter der Matratze im Gästezimmer versteckt. Pancho legte sich schlafen, das ständige Stöhnen aus dem Nachbarzimmer ließ ihn die Augen nicht schließen. Da war das Zirpen der Heuschrecken tausendmal angenehmer. Am nächsten Morgen fuhr er halb verschlafen mit dem Taxi zum Katasteramt. Vor den Toren des Amtes stand bereits eine beachtliche Menschenmenge. Am Eingang wurden sie gebeten, sich im Innenhof aufzustellen.

Sofort schlängelte sich die Menschenreihe wie eine Schlange. Pancho fühlte sich nicht wohl, zumal er seit zwei Tagen nichts gegessen hatte. Gegen 16 Uhr war er an der Reihe. Er übergab seine Papiere dem Sachbearbeiter, der ihm nach kurzem Überfliegen mitteilte, dass er im falschen Amt sei. Seit drei Jahren gäbe es ein eigens für sein Anliegen gegründetes »Instituto de Tierras y Colonización«, kurz ITCO. Für die Beurkundung des Eigentums sei nicht mehr das staatliche Grundbuchamt zuständig. Die neue Behörde unterhalte in jeder Provinz der Republik eine Außenstelle und sei ausgerüstet, seine Angaben zu

überprüfen. Sie würde die Parzelle für ihn vermessen und rechtlich abgrenzen. Das stand wochenlang in allen Zeitungen des Landes. Mit gesenktem Kopf stieg Pancho in den Bus, die linke Hand tief in der Hosentasche. Er begrüßte jeden Fahrgast einzeln mit einem tiefen Lächeln. Beim ersten leeren Platz fragte er: »Ist der noch frei?« Der Grauhaarige antwortete: "Wenn du dich jetzt hinsetzt und den Mund hältst, ist er nicht mehr frei.“

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merrillius
Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her.
Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch.
Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.

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Brubeckfan Und wir denken hier, der Amtsschimmel sei eine deutsche Züchtung.
Viele Grüße,
Gerd
Vor ein paar Wochen - Antworten
merrillius Keineswegs. Bürokratie gibt’s überall.
Liebe Grüße, Merrill
Vor ein paar Wochen - Antworten
Bleistift 
"Der Behördengang..."
Nun habe ich endlich begriffen, warum die eine Hälfte der Amerikaner aus Anwälten und die andere Hälfte aus Klienten besteht, die das für sie regeln können... ...smile*
Sehr überzeugende Geschichte, lieber Merill... ...smile*
LG zu Dir in die Redlands...
Louis :-)
Vor einem Monat - Antworten
merrillius Lieber Louis
Ich danke dir für den Besuch und fürs Lesen
Liebe Grüße, Merrill
Vor einem Monat - Antworten
Tetris Eine wirklich gelungene Geschichte.
Ich war gleich in der Story und habe mit Pancho gelitten.
Ist eine völlig andere Welt.
Grüße
Tetris
Vor einem Monat - Antworten
merrillius Lieber Tetris
Vielen Dank für den Besuch und fürs Lesen
Liebe Grüße, Merrill
Vor einem Monat - Antworten
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