Romane & Erzählungen
Zum Glück gibt es Bernstein - LESEPROBE

0
"Freundschaft, Liebe, Harz, Café, Buchdruck, Bücherliebe, Bücher, Mutter-Tochter-Beziehung, Geschäft"
Veröffentlicht am 10. November 2023, 142 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Aufgewachsen im Kleinstädtischen Eisenach, waren Bücher seit sie denken kann Teil ihres Lebens. Bereits als Kind las sie sich durch die Stadtbibliothek, während ihre eigene standig anwuchs. Nach der Ausbildung zur Kinderpflegerin und der Gründung einer eigenen Großfamilie in Berlin fand sie schließlich, es ist an der Zeit, um die Leidenschaft zum Beruf zu machen. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Sprecherin, studierte Journalismus auf der ...
Freundschaft, Liebe, Harz, Café, Buchdruck, Bücherliebe, Bücher, Mutter-Tochter-Beziehung, Geschäft

Zum Glück gibt es Bernstein - LESEPROBE

Klappentext

Vom Leben nicht gerade begünstigt, erfährt Pauline, gerade als es schlimmer kaum werden könnte, vom Tot ihres Großvaters und der damit einhergehenden Erbschaft. Mit einem Mal befindet sie sich in einem Strudel puren Glücks. Zuversichtlich verlässt sie mit Kind und Kegel die Hauptstadt, um im Dörfchen Grafenstein im schönen Harz ein neues Leben zu beginnen.

Auch Sam sucht in der Fremde seine Bestimmung und meint, sie in Form eines Cafés auf Paulines Anwesen gefunden zu haben. Wohingegen Pauline niemanden, außer sich selbst, im Falle eines

Scheiterns enttäuschen könnte, muss Sam sich beweisen und startet von der ersten Sekunde energisch durch.

Doch es ist gar nicht so einfach, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn man rund um die Uhr mit der Ablenkung konfrontiert

wird.

Prolog

1985 Sie musste es versuchen. Wer weiß, ob sich solch eine Chance ein zweites Mal bot? Seit Wochen schon ist sie ihre Flucht im Geist durchgegangen. Immer und immer wieder. Gute eineinhalb Stunden ist es her, dass er sie allein gelassen hat. Somit verblieben ihr zweiundzwanzig Stunden zur Flucht. Da ihr schleierhaft war, wo sie sich befand, konnte sie nicht sicher sein, in dieser Zeit auf Hilfe zu treffen, doch es gab keinen anderen Weg. Wer weiß, wie lange

er sie hier noch gefangen halten will? Angestrengt lauschte sie, ob sich verdächtige Geräusche der Hütte nähern. Obwohl es sinnlos war, denn Tag täglich überraschte es sie, wie leise er sich anschleichen konnte und erschrak jedes Mal ziemlich, als der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und die Tür knarzend aufschwang. Eilig ging das Mädchen hinüber zu ihrer Schlafstätte. In einer der Ecken hatte ihr Gefängniswärter eine einfache Holzliege mit einer Wolldecke und einem Federkopfkissen aufgestellt. Eilig

schob sie das leichte Gestell beiseite und betrachtete ihr Werk der vergangenen Wochen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie damals eine der Bodendielen hoch gehebelt und darunter gewöhnlichen Sandboden vorgefunden hatte. Es bedurfte einiges an Kraft, Ausdauer und Schweiß, um mit einem einfachen Suppenlöffel einen Graben auszuheben, groß genug, um sich selbst hindurchzuquetschen. Hinaus in die Freiheit. Heute war es nun so weit. Es bedurfte nur noch einige wenige Grabungen und ihr Fluchttunnel war fertiggestellt.

Mit einem letzten Blick zurück in ihr Gefängnis ließ sie sich in den Graben hinab und stemmte sich von den Seiten ab. Weit musste sie nicht kriechen, doch es war anstrengend genug. Wie ein Wurm drückte sich das Mädchen durch den engen Tunnel. Das lange Haar verfing sich irgendwo im Holz. Immer wieder rutschte Erde nach. Rieselte ihr ins Gesicht und ließ sie husten, als die junge Frau diese in den Mund bekam. Angewidert spuckte sie aus. Plötzlich traf kühle Nachtluft auf ihre nackten Knöchel. Vor Erleichterung wollte sie jubeln, wurde jedoch durch einen erneute

Schwall Erde daran gehindert. Mit letzten Kraftreserven presste sie sich aus ihrem engen Fluchtweg heraus und fiel zunächst einmal der Länge nach auf den Boden. Gierig sog sie die Luft in ihre Lungen. Würziger Waldboden mischte sich mit dem Duft nach Tannenbaum. Einige Minuten lang genoss sie einfach nur ihre Freiheit und das leichte Gefühl, wieder befreit atmen zu können, dann zwang sie sich aufzustehen und sah sich um. In der Dunkelheit der Nacht, er war stets erst nach Dienstschluss gekommen, um ihr Essen, Milch und eine neue Flasche

Wasser zu bringen, konnte sie hier im Wald nichts erkennen. Einzig die leisen Waldgeräusche und das sanfte Rauschen der Blätter umfingen sie. In der Hütte hatte es keine Uhr gegeben und ihre Armbanduhr war ihr abgenommen worden, daher war das Mädchen ahnungslos, wie viel Uhr es war. Zögerlich tat sie einige Schritte. Schnell entfernte sie sich von der Hütte, bis diese in der grauen Nacht nicht mehr auszumachen war. »Wohin nur?«, dachte sie. Eine Stimme in ihrem Kopf riet ihr, so weit weg und so schnell wie möglich von hier wegzukommen. In

Grafenburg gab es für sie nichts mehr. So schnell es ihre aufgrund des Bewegungsmangels der vergangenen Wochen ermüdeten Beine zuließen, lief oder besser stolperte die junge Frau in ihrem dünnen Sommerkleid durch die Dunkelheit. Stets eine Hand schützend auf ihrem Bauch. Es schien ihr, als wäre sie schon eine Ewigkeit gelaufen, als ihre Schuhspitze mit einem Mal gegen etwas metallenes stieß. Einen Schritt weiter war es dann zu spät. Zwei gezackte Fangbügel bohrten sich unnachgiebig in ihr Fleisch. Vor Schmerz wie von Sinnen

erschallte ihr Schrei durch die Stille. Ein Vogel in der Nähe flatterte aufgeschreckt davon. Ein Käuzchen schrie und wurde Zeuge des Todeskampfes des jungen Mädchens. Das allein im finsteren Wald ihr Leben aushauchte.

Schreib mir was!

Die Erbschaft

2023 Rechnungen. Eine Mahnung der Gasbetriebe und eine Einladung zu einer Hochzeit. »Na toll. Alle wollen nur mein Geld«, seufzte Pauline und ließ die Briefe auf den Tisch fallen. »Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, sieht's finster aus.« Ein amtlich aussehender Brief lag noch ungeöffnet vor ihr. »Ein Anwalt. Na prima«, murmelte sie und nahm mit einem flauen Gefühl im Magen das Kuvert an sich.

Langsam, als bedürfe, es eine ungeheure Anstrengung, riss sie den Umschlag auf und begann zu lesen. Beinahe schon ängstlich überflog sie den Text. »Und so müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Großvater verstorben ist.« Ungläubig starrte Pauline auf das Blatt Papier in ihrer zitternden Hand. Großvater war tot? Ihr Opa soll nicht mehr am Leben sein? Unmöglich. Sofort wanderten ihre Gedanken an die schönen Momente im Sommer zurück, die sie im Haus auf dem

Land bei ihm verbracht hat. Sommer, voller Sonnenschein, Wärme und Blütenduft. Eis essen, baden gehen und Ruderboot fahren. Leider verblassten die Erinnerungen mehr und mehr. Ein weiteres Mal las sie den Text. Sie solle sich mit einem Terminvorschlag zur Testamentseröffnung an den Notar wenden. Zu gern würde sie jetzt ihre Eltern um Rat fragen, doch genau der Umstand, dass sie dies eben nicht konnte, brachte ihr dieses Schreiben vom Notar ein. Nachdem ihre Eltern vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall

ums Leben gekommen waren, war Pauline die Einzige, die als Adressatin solch eines Schreibens infrage kam. So blieb ihr nur noch ihre beste Freundin Juliane. Kaum hatte die das Gespräch entgegengenommen, platzte Pauline auch schon mit der Neuigkeit heraus, »Mein Opa ist gestorben.« »Was? Welcher Opa denn?«, antwortete ihre Freundin verwirrt. Pauline seufzte, »Ja, ich weiß, besonders eng war unser Verhältnis nicht gerade. Aber früher … jedenfalls ist er gestorben und ich habe einen Brief von einem Notar

bekommen.« Juliane schlussfolgert gleich richtig, »Erbst du etwas?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung? Opas Haus vielleicht?« »Mag sein. Irgendetwas wird es sein, sonst würde man dich nicht anschreiben.« »Meinst du, ja?« »Klar. Entweder erbst du ein Haus und ihr könnt endlich aus deiner Bruchbude von Wohnung raus oder du erbst seine Schulden. Ist eine fifty fifty Chance.« Ernüchtert schluckte Pauline. »Dann muss ich mich wohl überraschen

lassen.« Tatsächlich erfuhr Pauline, als sie zwei Wochen später den Notar in Wernigerode besuchte, dass ihr Großvater mütterlicherseits sein Haus und das dazugehörige Grundstück, sowie diverse Kleinigkeiten ihr allein vermacht hat. Auch Wilhelm hatte keine weitere Verwandtschaft, war sehr betrübt über den Disput mit seiner Tochter und hat den Werdegang seiner einzigen Enkelin stets verfolgt, erfuhr Pauline von Doktor Brendel. »Wirklich?«, staunte sie und sah

ein weiteres Mal auf das Schriftstück vor sich. Ihr Gegenüber nickte zustimmend. »Er war sehr interessiert an allem, was Sie taten. Und als Sie später sogar eine Ausbildung zur Buchdruckerin machten, erfreute ihn das sehr.« Sie hob den Blick. »Woher wissen Sie so viel darüber?« Der ältere Herr schmunzelte. »Nun ja, wir waren eng befreundet. Seit der Schulzeit sogar.« »Wirklich? Toll«, murmelte Pauline. »Dann kannten Sie ihn besser als ich.« »Dies ist ein Umstand, den niemand

mehr ändern kann«, erwiderte der Notar freundlich. »Jedoch können Sie es ändern, indem Sie das Erbe antreten. Hätten Sie denn Verwendung für ein Haus wie das Ihres Großvaters?« Sie sah ihm fest in die Augen. »Es ist ein Wohn- und Geschäftshaus, nicht?« Er nickte. Nachdenklich murmelte die junge Frau, »Mein größter Traum war es schon immer eine eigene Werkstatt und Ladengeschäft zu haben.« Brendel klatschte in die Hände. »Perfekt!« Erschrocken zuckte sie

zusammen. »Ich möchte meinen, dass die Immobilie dafür mehr als geeignet ist.« Zögernd erwiderte sie, »Ist das so?« »Sie haben es sich vorher nicht angesehen?« Pauline schüttelt den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht, wo Großvater gewohnt hat. Ich war noch ein halbes Kind, als ich ihn zum letzten Mal besucht habe.« »Ach so. Also gut. Moment.« Mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen kramte er auf seiner Schreibtischtischplatte herum, bis er gefunden zu haben schien, was

er suchte. »Hier.« Er hielt Pauline einen Schlüsselbund hin. Zögernd nahm sie ihn entgegen. »Ist das …?« »Genau«, nickte ihr Gegenüber, »dies ist der Schlüssel von Wilhelm Bernsteins Haus.« »Danke«, erwiderte sie und ließ den Bund in ihrer Handtasche verschwinden. Brendel erhob sich. »Fein, dann würde ich vorschlagen, Sie gehen sich das Haus und alles ansehen, machen sich ein Bild und wir treffen uns in einigen Tagen wieder und Sie verraten mir, wie Sie sich entschieden

haben!« So war es vereinbart und man verabschiedete sich. Direkt im Anschluss fuhr Pauline zu der angegebenen Adresse. Lange musste sie nicht fahren, da Grafenburg in unmittelbarer Nähe zu Wernigerode lag. Langsam fuhr sie durch die Ortschaft und sah sich suchend um. Neben der Kirche, die an einem Hang stand, befand sich eine Art Dorfanger. Hier am Rand der Grünfläche parkte sie ihren alten Corsa und stieg aus. Mit dem Zettel, den ihr der Notar gegeben hatte, in der Hand suchte Pauline die

Adresse und wurde direkt gegenüber fündig. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Auf der hellgelben und recht frisch renoviert anmutenden Fachwerkhausfassade prangte in goldenen Lettern geschrieben “Buchhandlung und Buchdruckerei”. »Das darf doch nicht …«, murmelte sie. Und mit einem Mal ist es, als würde ihr Körper schweben. Sollte das Schicksal, welches ihr sonst immer recht große Steine in den Weg gelegt hatte, heute mal auf ihrer Seite sein? Sollte sie, Pauline Bernstein, endlich auch mal auf der

Sonnenseite des Lebens stehen? Ungläubig betrachtete sie die gesamte Hausfassade. Strich mit den Fingerspitzen über den rauen Putz, die von innen verhangenen Schaufenster und das angegriffene Holz des breiten Einfahrttors. Direkt darüber, in einen Querbalken gehauen in altdeutschen Buchstaben “Obgleich der Neid zu hindern dacht, so ist es doch mit Gott vollbracht”. Ein kleines Messingschild gibt dem Betrachter darüber Auskunft, dass dies Haus 1747 erbaut und 1947 umfänglich renoviert wurde und unter Denkmalschutz

steht. Mit vor Aufregung zitternden Fingern zog Pauline den Schlüsselbund hervor und begann nach dem richtigen Schlüssel für die Toreinfahrt zu suchen. Es erschien ihr am sinnvollsten, zunächst einmal das gesamte Gebäude von außen in Augenschein zu nehmen. Endlich fand sie das Gesuchte, steckte den uralten Eisenschlüssel in das dazugehörige Schlüsselloch und drehte ihn um. Von einem dumpfen Geräusch begleitet, schob sich der Riegel zurück. Mit klopfendem Herzen drückte sie die

Klinke und mit quietschenden Scharnieren öffnete sich das Tor. »Na, zumindest kann niemand ungehört einbrechen«, schmunzelte Pauline und trat ein. Langsam durchquerte sie die breite Einfahrt und stellte sich unwillkürlich vor, wie hier einst die Kutschen hindurchgefahren sind. Mittig im Durchgang befand sich die Eingangstür zur über den Geschäftsräumen befindlichen Wohnung. Auch diese ließ Pauline zunächst einmal außen vor und stand gleich darauf in einem kleinen Innenhof. Von hier aus ging es rechts zum Eingang der

Buchdruckwerkstatt und einem schmalen Seitengebäude. Der Gebäudeteil direkt vor ihr war deutlich größer und schloss sich u-förmig an das vordere Gebäude an. Neugierig trat sie näher und zog ächzend das riesige hölzerne Tor auf. Von einer Staubwolke begleitet schlug ihr abgestandene kalte Luft entgegen. Eine alte, halb verfallene Kutsche stand neben einem unter einer Plane verborgenen größeren Gegenstand. Sofort erkannte Pauline ein Auto. »Sicherlich Opas«, dachte sie. »Scheint schon etwas her zu sein, dass er damit gefahren ist.«

So renoviert wie das Vorderhaus hatte man doch den Anbau vergessen. Absicht oder Geldmangel? Wer weiß. Ihr Blick flog hoch zum Dach. Hoffentlich suchte es sich nicht ausgerechnet diesen Moment aus, zusammenzufallen, wenn sie drin war. Vorsichtig betrat Pauline das Gebäude. Altes muffiges Stroh deutet darauf hin, dass hier einst neben dem Fuhrpark auch Pferde untergebracht waren. Rostige Gerätschaften, sie konnte nicht erkennen, ob es sich um landwirtschaftliche oder zerlegte

Maschinen handelt, standen neben etlichen Kartons und Holzkisten herum. In einer Ecke kuschelten antike Möbel miteinander. In einem Kleiderschrank, der dem aus Narnia zur Ehre gereichen würde, entdeckte sie Mottenzerfressene Pelzmäntel. Schmunzelnd schloss Pauline die Schranktür wieder. Sie ersparte es sich auf den Heuboden zu klettern und verließ den Stall. Die Buchdruckerin in ihr lenkte ihre Schritte nun zur Werkstatt. Rasch war der richtige Schlüssel gefunden und schon stand sie in einem wahr gewordenen Traum eines jeden Buchdruckers. Alles da.

Und alles in bester Verfassung. Es schien so, als sei der Drucker nur mal eben zum Mittagessen hinausgegangen.   Staunend sah Pauline sich alles an. Betastete die bleiernen Lettern in den verschiedenen Setzkästen. Besonders fasziniert war sie von der hölzernen Presse. Mit Sicherheit konnte man dieses antike Stück auf das 18. Jahrhundert datieren. Wie schon das Haus war auch hier alles bestens in Schuss. Daher war Pauline wenig überrascht, als sich Hebel und Bengel problemlos drehen ließen. »Unglaublich«,

murmelte sie verblüfft und ging zu der Fensterfront hinüber. Von hier aus ließ sich hervorragend die Straße und der gegenüberliegende Dorfanger beobachten. In der Ferne sah sie ihren eisblauen Opel. Als Nächstes besichtigte Pauline die Buchhandlung und wurde aufs neue überrascht. Auch hier schien der Besitzer nur eine kurze Pause zu machen. Alle Regale waren bestückt und sorgfältig sortiert. Belletristik, Reiseliteratur, Spannung und sogar eine Kinderecke. Allenfalls lag Staub auf allem. »Opa«, sprach sie ihren verstorbenen Großvater an, »was

hast du dir nur dabei gedacht? Konntest du Gedankenlesen?« Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte ihren gesamten Körper. Um ihre Situation zu begreifen, musste sie sich zunächst davon überzeugen, dass sie nicht träumte und kniff sich kräftig in den Unterarm. »Autsch«, quiekte Pauline. »Das ist kein Traum.« In ihrer Euphorie rief sie ihre Freundin an. »Jule, du glaubst nicht, was mir passiert ist«, platzte es aus ihr heraus, kaum dass ihre Freundin das Gespräch angenommen hatte. »Nein. Aber du wirst es mir

sicherlich gleich erzählen.« »Ich bin im Himmel.« »Ich wusste gar nicht, dass es eine Telefonverbindung zur Erde gibt«, lachte Jule. »Doch. Ich bin wirklich im Himmel, Jule. Du glaubst gar nicht, was Opa Wilhelm mir hier vererbt hat.« »Ein riesiges Haus, an dem du nichts machen musst und sofort einziehen kannst? Ein neues Auto dazu und etwas Bargeld?«, spann Juliane eine Fantasiegeschichte. »Ja«, schrie Pauline fröhlich. »Was?« »Ja«, wiederholte sie. »Ein Haus. Ach, quatsch, es sind gleich

zwei.« »Ehrlich?«, hakte Jule nach. Ihr war die Begeisterung anzuhören. »Wenn ich es dir sage. Eine Buchhandlung, eine Werkstatt, die Wohnung und einen Stall Schrägstrich Garage dazu«, zählte Pauline auf. »Das gibts doch nicht.« »In der Garage steht ein Auto. Aber ich weiß nicht welches. Ich hab’ nicht nachgesehen. Viel zu geplättet war ich.« »Verstehe. Und die Wohnung. Ist da Platz genug für euch beide?« »Ich war noch nicht oben. Moment, ich nehm’ dich mit«, verkündete sie

ihrer Freundin und verließ schnellen Schrittes die Werkstatt. Das Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt, suchte sie den passenden Schlüssel und betrat das schmale Treppenhaus. »Und, was siehst du?«, drängte Juliane. »Es riecht etwas muffig, aber sonst …« Pauline stieg die knarrenden Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Oben angekommen präsentiert sich ihr eine bunte zweiflüglige Bleiglasfensterür. »Wow«, dachte sie und drückte die Klinke. Warme, abgestandene Luft schlug ihr auch hier entgegen. Wie

lange war Opa schon tot? Mehrere Wochen? Langsam trat sie ein und sah sich um. Nebenher teilte sie ihrer Freundin am Telefon mit, was sie sah. »Auch hier, scheint alles so, als würde Opa nur im Urlaub sein und niemand hätte während seiner Abwesenheit geputzt.« »Klasse. Aber die Möbel sind doch sicherlich uralt, oder?« »Hm.« »Die kannst du ja auf dem Flohmarkt oder bei Ebay verscherbeln. Gibt sicherlich ein hübsches Sümmchen extra.« Schweigend durchquerte Pauline Zimmer für Zimmer. Sie sprach so

lange kein Wort, dass ihre Freundin schon vermutete, sie hätte aufgelegt. »Sag mal, bist du noch dran?« »Ja, ich … ähm … ich nehm’ das hier alles gerade in mich auf«, erklärte sie nachdenklich. »Richtest wohl schon in Gedanken die Zimmer ein«, lachte Juliane. »Aber hast du nicht was vergessen?« »Was?« »Deine Tochter«, mahnte ihre Freundin. »Du solltest das wirklich mit Ava absprechen.« Da hatte sie recht. Bisher hatte ihre dreizehnjährige Tochter alle ihre

Ideen für gut befunden, doch seit einigen Monaten befand sie sich in der Pubertät und legte kategorisch gegen alles, was Paule vorschlug, ihr Veto ein. »Ich werde sie mit hier hernehmen und es sie selbst anschauen lassen«, erklärte sie ihrer Freundin. »Dann wird sie das schon überzeugen.« »Eine pubertierende Berlinerin?« Die Skepsis war Juliane anzuhören. Doch Paule bekräftigte, »Jawohl. Sie ist schließlich auch zur Hälfte mit meinen Genen gesegnet und wenn ich es hier toll finde, wird sie es sicherlich auch.« »Wenn du meinst«, lenkte Jule ein.

»Beschreibe mir lieber, was du siehst!« »Okay. Ein gemütliches Wohnzimmer, mit Möbeln, die ich mir durchaus in meinem eigenen Wohnzimmer vorstellen kann«, berichtete sie. »Die Küche sieht auch prima aus. Alles neu und modern. Opa Wilhelm muss erst vor einigen Jahren renoviert haben.« »Und das Badezimmer? Hat es ein Fenster?« »Jule, jedes Zimmer hier hat ein großes Fenster.« »Dann nimmst du das Haus!«, lachte Jule. »Das ist ein Sechser im

Lotto.« Pauline entdeckte im Flur eine schmale Tür neben der Küche. Als sie die Treppe dahinter hinauf stieg, fand sie sich gleich darauf in einem ausgebauten Dachboden wieder. »Ava könnte ihr eigenes Zimmer haben«, sprach sie den Geistesblitz laut aus. »Der Dachboden wurde zu einer richtigen kleinen Wohnung ausgebaut. Das ist doch perfekt.« »Stimmt.« »Du, Jule, ich wär` verrückt, wenn ich diese Chance ausschlagen würde. Oder? Ich meine … wie lange träume ich schon von einer

eigenen Werkstatt.« Juliane vollende ihren Satz für sie, »Von einem eigenen Häuschen im Grünen und der Ruhe der Abgeschiedenheit des Dorfes? Ewig. Ja, du musst das Erbe annehmen. Ava wird wohl damit klarkommen müssen. Gibt es denn wenigstens eine Schule dort? Und Einkaufsmöglichkeiten? Das ist wichtig. Ein Arzt eigentlich auch. Aber du hast ja ein Auto.« »Mit ebendiesem kann ich auch zum Einkaufen fahren, falls es hier nix gibt«, mutmaßte Paule. »Ich habe mich noch gar nicht im Ort selbst umgesehen. Wollte erst

einmal hierher.« »Dann mach das gleich noch und dann gib dem Notar Bescheid!« »Aye aye, Mam«, lachte Pauline. Nachdem sie alles sorgsam verschlossen hatte, verließ sie ihr zukünftiges Heim erst einmal wieder. Mit dem Ziel, sich alles anzuschauen und die gewünschten Institutionen ausfindig zu machen, schlenderte die junge Frau den Gehsteig entlang. Das Dorf liegt in einer Talsenke. Zur einen Seite ragen, typisch für die Umgebung, schroffe Felswände in den Himmel, die andere Seite des Dorfes lief in

Reihenhaussiedlungen, Feldern und Weiden aus. Ihrem Heim gegenüber schmiegt sich eine kleine gotische Kirche an den Fels. Auf dem Hügel bergabwärts verteilt Gräber und eine Kapelle. Der Dorfanger, neben dem Löschteich, lag als Rasenfläche frei. Sicherlich würde man hier zu Festivitäten Buden oder eine Bühne aufbauen. Pauline schlenderte weiter und kam an einigen alten Wohn- und Geschäftshäusern vorbei. Viele Hauswände zierten die typischen schwarzen Schieferschindeln. Sie konnte einen Friseur und den obligatorischen Dönergrill ausfindig machen. Kam

an einem kleinen Dorfladen à la Tante Emma vorbei und stand bald darauf auf einem Marktplatz. Mit Rathaus, Café mit Konditorei und einem Metzger. Sogar ein Schulhaus quetschte sich zwischen zwei Wohngebäude. Aus Ermangelung an Platz hatte man sicherlich den Schulhof in den Innenhof verlegt. Pauline trat näher, um das Schild besser lesen zu können. »Schade, nur eine Grundschule«, stellte sie fest. »Dann muss Ava doch Bus fahren.« »Da ist heute zu. Es sind Ferien«, wird sie plötzlich hinterrücks

angesprochen. Erschrocken fuhr sie herum und sah sich einer jungen Frau, die etwa ihr Alter hat, gegenüber. »Ähm … ich … ich wollte nicht … ich hab` nur geguckt.« Die Fremde lachte und strich sich eine ihrer blonden Locken aus der Stirn. »Sind Sie neu in den Ort gezogen? Ich kenne Sie gar nicht.« Pauline reichte ihr mit den Worten, »Pauline Bernstein, hallo. Ja, ich werde wohl hier herziehen.« die Hand. Die andere ergriff und schüttelte sie. »Schön. Wenn Sie ein Kind im Grundschulalter haben, dann sehen

wir uns künftig wohl häufiger. Oh, Verzeihung, mein Name ist Louise Lund. Ich bin hier eine der Lehrerinnen.« »Oh, wie schön«, erwiderte Pauline. »Ja, ich habe eine Tochter. Allerdings ist sie dreizehn und somit bei Ihnen nicht mehr in der Grundschule.« »Bei uns?«, echot Frau Lund. »Wo kommen Sie denn her?« »Aus Berlin.« »Und was verschlägt eine Großstadtplanze wie Sie in unser beschauliches Grafenburg?« »Ich habe geerbt. Mein Großvater

…« »Oh, das tut mir leid«, bekundete die Lehrerin ihr Mitgefühl. »Kannte ich ihn?« Pauline zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wenn Sie schon einmal in der Buchhandlung Bernstein waren?« Louise riss die Augen auf. »Natürlich. Der Name. Das hätte mir doch gleich auffallen müssen.« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Doch dann stutzte sie. »Wilhelm hatte immer von einem Paul geredet.« »Paul?«, wiederholte Pauline ungläubig. War ihr Großvater auf

seine alten Tage senil geworden oder … »Das kann ich, glaube ich, erklären. In Berlin werden Frauen meines Namens gern Paule genannt. Auch Opa Wilhelm nannte mich so. Damals, als ich noch … nun ja, als wir noch im Kontakt standen.« »War das später nicht mehr so?« Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Leider. Meine Mutter und er verkrachten sich irgendwann. Ab da durfte ich nicht mehr kommen.« Rasch sah sie sich befleißigt hinzuzufügen, dass dies nicht die Schuld ihres Opas war, sondern allein dem Sturkopf ihrer Mutter zuzuschreiben war.

  »Schade. Dann hätten wir uns sicherlich früher kennengelernt. Ich bin hier geboren und aufgewachsen«, lachte Louise. »Berlin. Ist bestimmt toll, da zu wohnen?« Pauline machte ein Gesicht, als hätte sie etwas Saures gegessen. »Na ja, wenn man auf Lärm, viel Verkehr, ungehobelte Mitmenschen und die Anonymität der Großstadt steht vielleicht. Für mich, das muss ich mittlerweile zugeben, ist es nichts mehr. Ich bin in Berlin geboren. Kenne nichts anderes. Doch je älter man wird, desto mehr

sehnt man sich nach Ruhe.« »Kann ich verstehen. Sag mal, wollen wir nicht du sagen? Ich hab` das Gefühl, wir könnten uns blendend verstehen.« Strahlend stand Louise Lund vor ihr und sah sie abwartend an. »Sehr gern«, erwiderte Pauline. »Ich bin Paule.« Ein weiteres Mal schütteln sich die Frauen die Hand.

Schreib mir was!

Neue Bekanntschaften

»Und, was sagst du?« Aufgeregt wartete Pauline die Reaktion ihrer Tochter Ava ab. Diese sah sich zunächst noch einmal ihr eventuelles künftiges Reich an. Ihre Mutter ließ ihr die Zeit. Hatte sie doch auch selbst mehrere Tage benötigt, um das Ganze zu realisieren. »Und hier dürfte ich wirklich alles so einrichten, wie ich es will?«, rief Ava vom Kopfende der Treppe. »Logisch«, antwortete ihre Mutter laut genug, damit sie sie verstehen konnte. »Du sagst, welche Farbe,

welche Möbel. Wir können gleich morgen losziehen.« Ava’s blonder Lockenkopf taucht oberhalb der Treppe auf. Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Wie soll das gehen? Bisher musstest du jeden Cent zweimal umdrehen. Anschaffungen wurden ewig lang geplant.« Pauline seufzte bei der Erinnerung an die Vergangenheit. »Stimmt. Doch, dank Opa Wilhelm geht das.« Tatsächlich verschaffte die Erbschaft Pauline eine ungeheure Erleichterung. Keine Miete, das teure Gas oder die horrende Monatsfahrkarte für die BVG mehr

zahlen zu müssen. Endlich frei sein. Sie hatte recherchiert. Allein die Möbel in der Scheune würden in einem Antiquitätengeschäft einiges einbringen. Ava nahm sich noch einen Moment, ehe sie endlich die erlösenden Worte verkündete. »Na gut. Lass uns das machen, Mama.« Erleichtert ließ Paule die angehaltene Luft zischend entweichen. Gesagt, getan. Nachdem sie Brendels Sekretärin eine Nachricht hatte zukommen lassen, worin sie um einen Termin bat, fuhren Mutter und Tochter zum nächst

besten Baumarkt. Dieser befand sich ebenfalls in Wernigerode. »Hier ist dann sicherlich auch deine Schule«, mutmaßte Pauline. »Echt? Wie komm` ich hierhin?« »Bus? Auto?« »Fährst du mich dann jeden Tag? Und holst mich auch wieder ab? Ich weiß doch gar nicht, welchen Bus ich nehmen muss.« Liebevoll sah sie ihre Tochter an und erwiderte, »Ava, Schatz, du bist im unübersichtlichen Straßenverkehr Berlins klargekommen. Ich trau’ dir durchaus zu, es auch hier zu

schaffen.« »Ha ha«, brummte die Angesprochene. »Aber wenn es dich beruhigt, erst einmal sind ja noch Ferien und in der Anfangszeit werde ich dich selbstverständlich fahren.« Dies schien ihre Tochter erst einmal zu beruhigen. Gemeinsam suchten sie Wandfarbe, Tapete und einen kleinen Teppich für Ava’s Zimmer, sowie eine neue Klobrille aus. Ava’s Skepsis an der Liquidität ihrer Mutter verflog erst, als die Zahlung an der Kasse akzeptiert wurde. Pauline verstaute gerade die

Einkäufe im Kofferraum, als ihr Smartphone läutete. »Herr Brendel, nett, dass Sie sich so rasch zurückmelden«, eröffnete sie freundlich das Gespräch. »Hallo, Frau Bernstein. Ja, ich bin auch froh, eine Testamentseröffnung so glücklich abschließen zu können.« »Sie bringen es auf den Punkt. Ich habe mir alles angesehen und möchte nun mein Erbe antreten.« »Fein. Dann besuchen Sie mich doch bald mal in der Kanzlei und …« »Wäre dies auch sofort möglich?«, unterbrach sie den Anwalt.

Dezent überrumpelt erwiderte er, »Ähm … selbstverständlich. Sie haben es aber eilig. Genau wie der junge Mann.« »Welcher junge Mann denn?« »Ah ja, natürlich. Das wissen Sie noch gar nicht«, murmelte ihr Gesprächsteilnehmer. »Es gibt einen Interessenten für die Geschäftsräume.« »Die Buchhandlung und die Druckerei?« Langsam lehnt sie sich rücklings gegen ihr Auto. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihr breit. »Ja, so ist es. Ein junger Mann, wie

gesagt«, erklärte Brendel. »Er hatte bereits kurz nach dem Tod Ihres Großvaters angefragt, ob die Räumlichkeiten zu mieten wären. Jedoch gibt es dazu im Testament keine Klausel und Herr Bernstein hatte mir nichts diesbezüglich mitgeteilt.« »Ich werde auch nicht vermieten«, eröffnete sie und stellte fest, dass ihre Stimme trotziger klang als beabsichtigt. »Das ist auch Ihr gutes Recht, Frau Bernstein. Jedoch können nur Sie mit dem Mann verhandeln.« »Wie heißt er denn? Wie kann ich mit ihm in Kontakt

treten?« »Macrae. Sam Macrae. Wenn Sie hier sind, kann ich Ihnen seine Telefonnummer geben.« Statt einer Antwort fragte sie, »Macrae? Das klingt so britisch?« »Korrekt, der Mann kommt aus Schottland.« »Und was macht er dann hier im Harz?« Brendel lachte. »Das müssen sie ihn schon selbst fragen.« »Gut. Dann komme ich jetzt direkt zu Ihnen. Ist das okay?« »Natürlich.« Da Ava keine Lust verspürte, die

bürokratischen Verhandlungen in einem tristen Büro absitzen, brachte Pauline sie zunächst in ihre Pension zurück und fuhr anschließend in die Kanzlei. Im Vorbeifahren entdeckte sie einen letzten freien Parkplatz, wendete bei der nächst besten Möglichkeit und fuhr auf der anderen Straßenseite das Stück zurück. Doch kaum hatte sie den Blinker gesetzt, als auch schon ein anderes eisblaues Fahrzeug in die Parklücke hineinfuhr. Wütend drehte sie den Zündschlüssel, riss die Tür auf und stieg aus. Am Steuer des fremden Wagens saß

ein blonder Mann. Energisch klopfte Paule an die Fensterscheibe. Gelassen öffnete er die Tür und entstieg seinem Fahrzeug. Mit weit aufgerissenen Augen trat sie einen Schritt zurück und starrte mit offenem Mund zu dem Fremden auf. »Kann ich Ihnen helfen?«, hatte er doch die Dreistigkeit zu fragen. Oh, dieser Akzent. In ihrer Mitte regt sich etwas. »Ob … Sie … mir … ähm …«, stammelte Pauline verwirrt. Dann schüttelte sie ihren Kopf, um die Gedanken zu ordnen und fauchte, »Und ob Sie das können. Das war meine Parklücke. Verziehen Sie

sich!«   »Ihre Parklücke?«, echot er verständnislos und sah sich um. Wahrscheinlich sucht er nach einem Hinweisschild, das dies bezeugen könnte. Seine Coolness und Ignoranz ihr gegenüber machte sie sprachlos. Wütend fauchte sie weiter, »Ich hatte sie zuerst gesehen. Ich habe geblinkt.« Er zuckt die Schultern. »Sorry. Ich bin spät dran. Ich brauche nicht lang. Dann können Sie hier parken.« »Und bis es so weit ist, parke ich in zweiter Reihe, oder was?« »Wenn das hier erlaubt ist.« Mister

Unbekannt schickte sich an, zu gehen. Lässig drückte er auf dem Knopf seiner Fernbedienung und sein Audi verabschiedet sich mit einem lustigen Plinggeräusch. Fassungslos starrte Pauline ihm hinterher. Doch als auf der Straße gehupt wurde und ihr jemand durch das heruntergelassene Autofenster ein paar unschöne Worte zurief, sprang sie schnell in ihren Corsa zurück und begab sich erneut auf Parkplatzsuche. Später als beabsichtigt betrat sie schließlich die Räumlichkeiten der Anwaltskanzlei. Ihr Puls schnellte gleich wieder in die Höhe, als sie

sah, wer da noch vor dem Schreibtisch des Notars saß, als sie das Büro betrat. »Das darf doch wohl nicht …«, murmelte sie kaum hörbar, als sich der Besucher bei ihrer Ankunft galant erhebt. »Ach nee«, murmelte auch er und grinste breit. Spätestens beim Anblick dieses Lächelns, und sei es noch so unverschämt, verzieh sie ihm alles. Warum war das Leben so ungerecht? Da gibt es Menschen wie sie. Alles in allem durchschnittlich. Die Figur ganz okay, das Haar könnte glänzender sein und sich endlich einmal

frisieren lassen und die Ausstrahlung könnte eindrucksvoller sein. Und dann gibt es Wesen wie ihn. Bildschön, gottgleicher Körper und eine Stimme wie Samt und Seide. »Ah, Sie beide kennen sich?«, fragte Brendel verwundert und sah erwartungsheischend von einem zum anderen. »Nein.« »Ja«, erwiderten beide unisono. Verwirrt sah der Notar Pauline an. »Dieser Mann, …« Ihre Hand deutete auf den Fremden. »… hat mir vorhin hier vor dem Haus den Parkplatz

gestohlen.« Der antwortete entschuldigend, »Mir war nicht bewusst, dass sie ihn gemietet hat.«, als wäre Brendel Schiedsrichter in ihrem verbalen Schlagabtausch. Brendel schmunzelte. »Das wäre mir auch neu.« Pauline verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und verlangte zu wissen, »Was hat der eigentlich hier zu suchen? Ich dachte, wir wären verabredet? Ihre Sekretärin hat mich durchgewinkt.« »Das ist korrekt«, erwiderte er, »Dies ist Herr Macrae von dem wir gesprochen

haben.« »Was?«, entfuhr es Pauline. »Ach, Sie sind Misses Bernstein?« »Wenn dann Miss. Ich bin nicht verheiratet«, fauchte sie ihn an. Macrae grinste. »Sehr schön.« Das konnte heißen, was es wollte. »Sie können eigentlich direkt wieder gehen«, komplimentierte sie ihn hinaus und deutete auf die Tür. »Ich möchte weder verkaufen noch vermieten.« Überrascht klappte sein bis eben noch lächelnder Mund zu. »Aber Sie haben sich doch noch nicht einmal …« »Brauch` ich auch nicht. Ich

möchte selbst dort einziehen.« »Ich möchte dort nicht wohnen. Ich möchte ein Café …« »Und ich will einen Buchladen«, widersprach sie pampig. »Daneben ist doch die Werkstatt …« Was verdammt verstand dieser Kerl an dem Wörtchen nein nicht? »Dort werde ich arbeiten.« Nun war es an ihm trotzig, die Arme vor der breiten Brust zu verschränken und süffisant auf sie herabzulächeln. »Ich dachte, Sie möchten den Buchladen wiedereröffnen?« Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, antwortete

Pauline, »Herr Macrae, ich werde einerseits die Buchhandlung meines Großvaters wiedereröffnen und andererseits meinem Handwerk nachgehen. Dem Buchdruck.« »Sie sind Buchdruckerin?« Hörte sie da Herablassung in seiner Stimme? Oder war es Bewunderung? »Ja, bin ich. Was dagegen?« Er schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Im Gegenteil, ich bin begeistert. Es sollte mehr junge Menschen wie Sie geben, die einem alten Handwerk neues Leben einhauchen.« »Und was tun Sie so, Herr Macrae?« »Nennen Sie mich Sam!«,

entgegnete er lächelnd. »Ich bin Gastronom. Mein Traum ist es, ein eigenes Café zu haben.« »Und warum erfüllen Sie sich diesen Traum nicht an anderer Stelle?« »Weil ich mich bei einer Reise in Grafenburg verliebt habe. Ich habe das Haus gesehen und wusste, hier und sonst nirgends möchte ich leben und arbeiten.« Seine Worte machten sie beinahe sprachlos. Aber nur beinahe. »Na, es wird doch wohl eine andere Immobilie in dem Ort geben, wo Sie ihren Traum verwirklichen

können?« »Leider nein. Können Sie denn nicht verstehen, wie es ist, wenn man einen genauen Plan im Kopf hat und ihn unbedingt umgesetzt sehen will? Wenn man sich in etwas oder jemanden verliebt hat und nur noch daran denken kann?« »Klar weiß ich das. Ich habe ein Kind.« Überrascht zog er die Augenbraue hoch. »Sie haben schon ein Kind?« Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Für wie alt halten Sie mich eigentlich, Sam?« Er zuckte die Schultern. »Weiß nicht, da kann man sich bei einer

Frau leicht in die Disteln setzen … ungefähr 25?« »In die Nesseln setzen heißt das«, korrigierte sie ihn. Entweder kann er schlecht schätzen oder er ist nur freundlich. »Ich bin dreißig.« Er schmunzelte und wiederholte nur wieder undurchsichtig, »Schön.« Brendel, der bisher schweigend ihrem Schlagabtausch gelauscht hatte, klatschte in die Hände. »Ja, schön. Ich sehe schon, Sie beide verstehen sich prächtig. Wenn ich meine bescheidene Meinung einbringen dürfte, würde ich Ihnen raten, sich

zusammenzutun.« »Was?«, keuchte Pauline und fuhr zu ihm herum. Sam, neben ihr, feixte. Ergeben hob Brendel beide Hände. »Ich habe ein gutes Gespür für Menschen.« Als würde das alles erklären und als Begründung ausreichen, dass sie tatsächlich mit Sam Macrae eine Geschäftsbeziehung eingehen sollte.

Schreib mir was!

Der Umzug

Es bedurfte einiges an Überredungskunst der beiden Männer, um Pauline zu überzeugen. Schlussendlich ließ sie sich, sie konnte es selbst kaum glauben, darauf ein, mit Sam Macrae eine geschäftliche Beziehung einzugehen. Bei einem Kaffee in einer nahe gelegenen Konditorei besprachen sie grob ihre nächsten Schritte. »Sie haben das alles ja schon komplett durchgeplant«, staunte sie, nachdem Sam mit seinen Ausführungen geendet

hatte. Mit einem stolzen Grinsen in dem schönen Gesicht nickte er. »Klar doch. Ich denke nicht erst seit gestern darüber nach, mich selbstständig zu machen.« »Was ich noch immer nicht begreife ich folgendes, warum Grafenburg im Harz? Sie sind doch Brite.« »Ich bin Schotte«, berichtigte er sie mit einem trotzigen Unterton. »Und weshalb ausgerechnet hier, habe ich Ihnen doch schon gesagt.« Sie nickte. »Stimmt. Aber, wenn Sie so gut kochen, wie sie sagen, sollten Sie dann nicht eher in eine richtige Stadt gehen, wo Sie richtig

durchstarten können?« Sam zuckt die Achseln. »Mir gefällt eine kleinere Stadt viel besser. In der Großstadt bin ich nur einer unter vielen. Hier kann ich der Koch sein.« Da hatte er recht, das musste sie zugeben. »Sie haben recht. Aber warum ausgerechnet mein Haus? Bei meinem Rundgang durchs Dorf habe ich einige leer stehende Häuser gesehen.« »Das mag sein, aber keines bietet diese Möglichkeiten wie Ihres.« »Genau genommen bietet das Haus sie nicht. Es ist ein Buchladen. …« »Aber die Scheune ist da und die

kann man ausbauen. Das hatte ich Ihnen schon erläutert, Pauline.« Die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, stupste es etwas tief in ihrem Inneren an. Beinahe hätte sie sehnsüchtig geseufzt. Dennoch runzelte er die Stirn. Um von sich abzulenken, fragte Pauline, »Woher wissen Sie das eigentlich? Brendel meinte, bisher hat sich niemand das Haus angesehen?« »Das ist richtig. Doch ich kenne es noch von früher. Ihr Grandpa hat mich herumgeführt.« Paule verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffee. »Opa hat was getan?« »Er hat mir sein Haus gezeigt. Er

war ziemlich stolz.« »Aber … warum hat er das getan? Meines Wissens wollte er doch nicht verkaufen?« »Ich muss gestehen, ich war nicht ganz ehrlich«, begann er und knetete nervös seine Hände. »Ich habe mich ihm gegenüber als Architekturstudent ausgegeben. Ihr Großvater war sehr stolz auf sein architektonisches Denkmal. Das Haus ist sehr alt, wissen Sie?« »Das weiß ich. Es steht zudem an der Fassade.« Sam schmunzelte. »Genau. Mister Bernstein machte bei meinem Besuch unmissverständlich klar,

dass er weder verkaufen noch vermieten würde. Er meinte immer, das Haus war stets und wird bis in alle Ewigkeit in Familienbesitz bleiben. Er war sehr stolz darauf.« »Aber von mir haben Sie sich erhofft, dass ich anders denke?« Sie musterte ihn aufmerksam. »Ich habe einfach meinen Charme in die Waagschale geworfen und gebetet«, grinste er und sah sie schweigend an. Und den hatte er, unbestreitbar. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf ihrer beiden Hände auf der Tischplatte. Viel fehlte nicht mehr, dass sie sich berührten. Und noch etwas fiel ihr auf. Er trug

keinen Ring. Gutaussehend und Single. In seinem Alter. Der Haken bei der Sache musste seine sexuelle Gesinnung sein. Sicherlich war er schwul. Paule kannte einige schwule Männer. Alle waren sie sexy, alle lustig und gleichermaßen klug und alle nichts für sie. Seit der Trennung von Ava’s Vater vor dreizehn Jahren konnte sie keine Beziehung, die diese Bezeichnung verdiente, vorweisen. Allenfalls ein paar One night Stands. Doch aus diesem Alter war sie nun auch langsam raus. »Und wer ist dieser Kerl noch

mal?« »Ava, das ist kein Kerl. Das ist Sam Macrae. Er wird neben dem Buchladen ein Café betreiben.« »Was denn nun? Ein Buchladen oder ein Café?«, stöhnte der Teenager »Sowohl als auch. Und nun lass mal gut sein. Trag lieber diesen Karton in den Lkw!« Murrend lief Ava mit dem Ding die Stufen hinunter. Fast alles war mittlerweile verpackt. Die Wohnung leer und gekündigt. Vonseiten des Vermieters. Wegen Eigenbedarf. Noch solch ein Umstand, den sie auf

ihrem momentanen Glückskonto verbuchen konnte. Pauline konnte es kaum fassen, denn gerade als sie überlegte, wie sie es anstellen könnte, etwas früher aus dem Mietverhältnis zu kommen, flatterte ein Brief von ihrem unzuverlässigem Vermieter in ihren Briefkasten. Sechs Wochen waren vergangen. Sechs Wochen voller Planungen, Entscheidungsfindungen, Renovierungs- und Umzugsarbeiten und vor allem Wochen voller Onlinetreffen mit Sam Macrae. Immer wieder verabredeten sich die beiden um gemeinsam ihr

weiteres Vorgehen zu planen. Für die nötigen Umbaumaßnahmen mussten Gelder besorgt und sinnvoll eingesetzt werden. Zu Paulines großer Überraschung gehörte zum Erbe ein Bankschließfach, in dem sich der Familienschmuck, sowie ein paar mittelmäßig wertvolle Aktien befanden. Außerdem durfte sie nun drei Hektar Land ihr Eigen nennen. Sam riet ihr, dieses zu behalten und zunächst einmal an einen Landwirt zu verpachten. Eventuell würde Ava später einmal darauf ein Haus bauen wollen. Überhaupt hatte er ganz hervorragende Ideen. Und

ihre anfängliche Abneigung ihm gegenüber machte mehr und mehr dem Interesse an dem schottischen Singlemann platz. Schade nur, dass er schwul war. Da Sam selbst einiges an Kapital mitbrachte, war es nicht nötig den kostbaren Schmuck zu Geld zu machen. Galant bot er an, die Umbauten komplett aus eigener Tasche zu finanzieren. Pauline konnte es kaum fassen. Was war das nur? Vor gar nicht allzu langer Zeit wusste sie nicht, wie sie die nächste Rechnung bezahlen sollte und plötzlich flogen ihr die Gefälligkeiten nur so zu. Da der

Buchladen noch immer gut bestückt war, brauchte sie nichts weiter zu tun, als Neuerscheinungen dazuzukaufen und Werbung für ihr Unternehmen zu machen. Gott Lob waren Sommerferien, sodass sie sich mit der Suche und der Anmeldung in der Schule ihrer Tochter noch ein paar Tage Zeit lassen konnte. Wichtiger war die polizeiliche Ummeldung und die Genehmigung für Handel und Gastronomie. Gemeinsam mit Sam war sie vor einigen Tagen in Wernigerode beim Gewerbe- und Finanzamt. Die Anmeldung bei der Handelskammer verschoben sie auf

einen anderen Tag. Noch waren die Bauarbeiten ohnehin nicht abgeschlossen. Auch, wenn Sam sofort euphorisch nach ihrem ersten Zusammentreffen die Handwerker engagiert hatte.   »Und ihr seid jetzt zusammen oder was?«, holte die Stimme ihrer Tochter Pauline in das Hier und Jetzt zurück. Erschrocken zuckte sie zusammen und starrte mit offenem Mund ihre jugendliche Tochter an. »Wie kommst du denn da drauf?« »Na, weil du pausenlos von diesem Kerl sprichst und ihr ständig zusammen

rumhängt.« »Also erstens hängen wir nicht zusammen rum, wie du das so salopp ausdrückst, sondern planen unsere Zukunft. Die im übrigen auch dich einschließt, meine liebe Tochter. Und zwangsläufig spreche ich von Sam. Das ist doch logisch, wenn wir zusammenziehen.« »Sam, also? Und jetzt redet ihr schon vom zusammenziehen.« Irrte sie sich oder zog ihre minderjährige Tochter sie hier gerade auf? »Dich, in deiner Dachgeschosswohnung, stört das doch am

allerwenigsten.« »Stimmt. Aber nur, wenn es dabei bleibt, dass der Typ in den Stall zieht.« »Er zieht in den dann um- und ausgebauten Stall, ja genau. Du kannst also ganz unbesorgt sein.« Ava hob die Hände. »Ich bin nicht besorgt. Ich will nur nicht einen neuen Vater vorgesetzt bekommen.« Paule klappte die Kinnlade herunter. In welche Richtung gingen denn die Gedankengänge ihrer Tochter? »Also ich weiß wirklich nicht …« Lachend warf ihre jugendliche Tochter den Kopf in den Nacken.

»Chill mal, Mutti. Ich zieh’ dich doch nur auf. Du bist immer so lustig, wenn man dich auf diesen Typen anspricht.« Dazu wusste sie nichts Schlagfertiges zu antworten, daher blaffte sie nur, »Anstatt deine kostbare Atemluft für sinnlose Fragen zu verschwenden, nutze sie lieber, um mir beim Kisten schleppen zu helfen.« Mit Julianes und Moritz Hilfe war der Umzug rasch erledigt. Dass Juliane sich dieses Wochenende freigenommen hat, um ihnen zu helfen, war klar, doch als Moritz am Morgen des Umzugs vor der Tür

stand, machte Paule dann doch große Augen. Sie beide kannten sich seit der Oberschule und haben schon so manches Abenteuer miteinander durchgestanden. Was da wären gemeinsame Urlaube in Dänemark und den Niederlanden, durchlebte Schicksalsschläge, wie den Verlust ihrer Eltern oder den seiner geliebten Großmutter und der Gründung und baldigen Auflösung einer WG. Kaum waren die Wände gestrichen und alle Kisten ausgepackt, verlobte sich Moritz mit seiner langjährigen Freundin Sarah und zog mit ihr zusammen in eine hübsche

Altbauwohnung im Prenzlauer Berg. Und natürlich stand er ihr stets hilfreich beiseite, als sie mit siebzehn überraschend schwanger wurde und dank des Rückhaltes ihrer Eltern und der Freunde beschloss, das Kind zu behalten. So kam es, dass Ava zwar ohne Vater, Benedict hatte sich kaum, dass er erfahren hatte, dass Familienzuwachs unterwegs war, verpisst, aber doch unter vielen Freunden aufwuchs. Moritz ist ihr ein ebenso guter Vaterersatz, wie Juliane ihr eine Mutter wäre. Wie geplant schafften sie es den Umzug an einem Tag zu erledigen.

Die Anzahl der Kartons war überschaubar, sodass es absolut vertretbar war, das Auspacken auf die nächsten Tage zu verschieben. Auch Sam hatte bereits seine Siebensachen in das Haus in Grafenburg geschafft. Diese stapelten sich derweil in der Werkstatt. Misstrauisch beäugt Ava ihren neuen Mitbewohner. An einen solchen an sich war sie ja bereits gewohnt, doch noch nie war es ein völlig fremder. Und Paule war sich noch immer nicht sicher, was das genau zwischen ihnen war. In den vergangenen Wochen hatten sie viel

miteinander gesprochen, hatten sich kennengelernt und einiges über die Wünsche und Träume des jeweils anderen erfahren. Zumindest wusste sie mittlerweile, dass sie insoweit auf einer Welle schwammen, dass ihr Zusammenleben stressfrei verlaufen dürfte. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sich Petrus dort oben vorgenommen, den Menschen auf der Erde einzuheizen. Es war unnatürlich schwül und die Sonne brannte bereits seit dem Morgen unbarmherzig von einem strahlend blauen Himmel. Obwohl es noch

jede Menge zu tun gab, nahmen sich die beiden Frauen einen Moment Zeit, um eine Pause zu machen. Als Sam, der sich inzwischen sein Shirt ausgezogen hatte, vorüberlief, raunte Jule, »Ich bin schon ein wenig neidisch.« Pauline tat erstaunt, »Wieso? Wegen des hübschen Häuschens und der Ruhe auf dem Land?« »Quatsch. Wegen deines heißen Untermieters.« »Sam ist nicht mein Untermieter, er ist mein Geschäftspartner. Und er ist heiß, das stimmt, doch leider würde er weder mit dir noch mit

mir etwas anfangen.« »Wieso? Ist er vergeben?« In diesem Moment lief er erneut vorüber und grinste den Frauen zu. Als wöge sie nichts, hielt er die Kiste mit Paulines Geschirr vor sich. Fasziniert betrachteten die Freundinnen das Muskelspiel seines Rückens. Beinahe hätten sie kollektiv geseufzt. Sie sahen sich an und begannen zu kichern. Als Sam außer Sicht war, fragte Jule erneut, »Und, was ist nun mit ihm? Ich wette, du hast bereits ein Auge auf ihn geworfen.« Paule zuckte die Schultern. »Und wenn schon, nutzen würde es

nichts.« »Schwul?« »Schwul.« »Mist! Die besten sind immer schwul.« Ein paar Momente hingen die Frauen schweigend ihren Gedanken nach, bis Pauline verkündete, »Es würde ohnehin nicht funktionieren. Ava hat sehr deutlich gemacht, dass sie an keinem Ersatzvater interessiert ist.« Gleich am nächsten Morgen sollte Paulines These, ob ein Zusammenleben unproblematisch wäre, auf die Probe gestellt werden.

Da am Abend zuvor alle nur noch todmüde auf die provisorischen Bettstätten gefallen waren, hatte man beschlossen am nächsten Morgen gemeinsam zu frühstücken, ehe die Helfer zurück nach Berlin müssten. Sam hatte, da noch immer die Handwerker durch sein künftiges Haus liefen, auf Paulines Couch geschlafen. Gerade kam er mit verstrubbelten Haar und freiem Oberkörper in die Küche geschlurft und die Gespräche am Tisch verstummten. Von einem herzhaften Gähnen begleitet, ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen. Dem

unhöflichen Gebaren zum Trotz starrten die weiblichen Personen über dreizehn am Tisch den neu hinzugekommenen fasziniert an. Ava runzelte die Stirn. Ihre Mutter bemerkte es und fragte leise, »Was ist?« Ihre Tochter deutete mit dem Löffel auf den dazugekommenen und zischte, »Wird das jetzt immer so sein?« »Was denn?« »Dass der da bei uns wohnt.« »Der da wohnt nicht bei uns, sondern hinten in seiner eigenen Wohnung und …« Sie wurde von Sam unterbrochen, der plötzlich

aufsprang und rief, »Scheiße! Ich wollte doch Frühstück machen.« Paulines Blick wanderte zum Herd, wo in einer Pfanne das Rührei brutzelte. »Tut mir leid«, erkläre er und sah ihr tief in die Augen. »Aber morgen kümmere ich mich darum. Versprochen.« Dümmlich grinsend sah sie zu ihm auf und Juliane antwortete zu ihrer statt, »Da freu` ich mich drauf.« Ava kicherte und Moritz sah schmunzelnd von einem zum anderen. Pauline zwang sich, sich zusammenzureißen, schüttelte den

Kopf und entgegnete an Sam gewandt, »Das ist schon in Ordnung. Das müssen Sie doch nicht.« während sie ihm Rührei auf einen Teller schaufelte. Doch er widersprach, »Nein, nein, solange ich bei Ihnen unterkomme, gehen die Mahlzeiten auf mich.« nahm aber dennoch den Teller und das Besteck entgegen, das sie ihm reichte. Dies schien Ava’s Stichwort zu sein. Laut fragte sie, »Wie lange gedenken Sie denn bei uns zu wohnen?« Er grinste und sagte, »Nur solange, bis meine Wohnung bewohnbar

ist.« »Na dann hoffen wir mal, dass Sie sich hier nicht allzu wohlfühlen«, brabbelte die Kleine. Für einen Moment hoffte Pauline sich verhört zu haben, wann war ihre Tochter so redegewandt geworden, doch an den Gesichtern der anderen konnte sie ablesen, dass sie es tatsächlich gesagt hatte. Allein Sam schien nicht entsetzt. Wenn möglich, dann hatte sich sein Grinsen sogar noch verbreitert. »Die Kleine gefällt mir«, lobte er. »Du lässt dir nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen, oder?« Ava stützte die Ellbogen auf die

Tischplatte. »Wenn Sie damit meinen, dass ich schlagfertig bin, … das habe ich im Debattierclub meiner Schule gelernt.« »Prima.« »Ava, ich finde, du solltest dich …« »Entschuldigen? Nein, ich finde Ihre Tochter wirklich klasse«, unterbrach er sie. »Ihre Tochter hat einiges zu verarbeiten. Der Umzug in eine kleinere Stadt. Der Wegfall der Freunde. Eine neue Schule. Und dann komme ich … platze einfach so in Ihrer beider Leben.« Ava schien erst einmal über das Gehörte nachdenken zu müssen, schließlich antwortete sie, »Richtig,

ich habe so viel um die Ohren … Ich kann wirklich nicht auch noch einen Vaterersatz gebrauchen.« Paule hielt, peinlich berührt, die Luft an. Für einen Moment schien er doch verunsichert. »Ich habe nicht die … Ich wusste nicht, dass deine Mutter …« Rasch trat Pauline einen Schritt nach vorn, hob beide Hände und rief, »Ich habe gar nichts gesagt oder gedacht …« »Entspann dich, Mutti«, beruhigte ihre Tochter sie. »Du willst nichts von Sam und er nicht von dir. Das kapier’ ich jetzt. Wenn er sich aus

meinem Leben raushält, ist alles cool. Was ihr beide zusammen da unten …« Ihr aufgestellter Daumen deutete in Richtung Fußboden. »… anstellt, ist mir egal. Hauptsache ich muss nicht irgendwann Blumen streuen oder Babysitten.« Dabei machte sie ein Gesicht, als würde sie am allerwenigsten an das glauben, was sie sagte. »Ich werd’ dann mal etwas die Gegend erkunden«, verkündete Ava anschließend, stand sie auf und verschwand aus der Küche. Peinlich berührt blieben die Erwachsenen zurück. Pauline wagte kaum zu Sam hinüberzuschauen.

Mit ihren Worten hatte ihre Tochter angedeutet, sie beide würden sehr wohl anstatt an einer beruflichen, an einer privaten Beziehung feilen. Jule kicherte und stupste ihre Freundin an. »Wenigstens hat eine hier den Durchblick.« Sam sah zu ihnen beiden auf und schob sich grinsend eine weitere Gabel Rührei in den Mund. »Ähm … ja … ich … muss dann mal … runter«, stammelte Paule, drehte sich weg und machte es ihrer Tochter nach. In ihrem künftigen Schlafzimmer lehnte sie sich an die geschlossene Tür und atmete mehrmals tief ein

und aus. Wie furchtbar. Hasste ihre Tochter sie so sehr, dass sie sie dermaßen demütigenden musste? Was würde Sam jetzt von ihr halten? Glaubte er den Worten einer dreizehnjährigen und sah sich schon in einer Falle sitzen? »Mist, mist, mist!«, fluchte Paule leise. Langsam ging sie zu einem der Fenster hinüber und sah hinaus. Ihr Blick fiel auf die Straße. Gegenüber stiefelte gerade ein schwarz gekleideter Mann den Hügel zur Kirche hinauf. Sicherlich der Pfarrer. Auf der Straße lief soeben ein Landwirt mit mittelgroßer Schafherde durchs

Dorf. Begleitet wurde er von zwei schwarz-weißen Schäferhunden, die, die Schafe stets umkreisend herumsprangen. Dabei mischte sich ihr Bellen und das Blöken der Schafe zu einer Kakofonie der Landgeräusche. Abwartend stehen gebliebene Fahrzeuge fuhren langsam an, kaum dass die Tiere und ihr Hirte die Fahrbahn freigegeben und auf einen abzweigenden Feldweg abgebogen waren. Pauline beobachtete noch einige Minuten, wie sich die hellen Tiere wie wollige Sahnehäufchen auf dem Hang neben der Kirche verteilten

und sofort mit ihrer Arbeit als Landschaftspfleger begannen. Innerlich beruhigt wendete sie sich mit einem Lächeln ab und schickte sich an, selbst ihr heutiges Tagwerk zu beginnen. Es gab noch viel zu tun. Als Erstes ihren Freunden für ihre Hilfe zu danken und sie zu verabschieden.

Schreib mir was!

Mysteriöse Ereignisse der Vergangenheit

»Versprich mir, Bescheid zu geben, wenn es dir doch zu viel wird!«, mahnte Juliane und nahm ihre beste Freundin in den Arm. »Ach, quatsch«, winkte Pauline ab. »Mir doch nicht.« Jule zog die Augenbrauen zusammen. »Aber, ja, ich verspreche es, aber …« »Du bekommst das schon hin, ja, ich weiß«, vollendete die andere ihren Satz. Leiser fügte sie hinzu, »Außerdem bist du nicht mehr

allein.« »Das war ich vorher auch nicht.« Jule verdrehte die Augen. »Ich rede ja auch von Unterstützung, nicht von einem Klotz am Bein.« Jeden anderen würde eine solche Aussage sauer aufstoßen, doch nicht Pauline. Sie wusste ganz genau, wie vernarrt Juliane in ihre Tochter war. »Auch diesbezüglich halte ich dich auf dem Laufenden«, versprach sie noch und drückte zum Abschied ihre Freundin ein letztes Mal an sich. »Das hoffe ich doch. Und …« Jule hielt sie eine Armlänge entfernt und sah sie eindringlich an. »… lass

bloß kein schmutziges Detail aus!« Paule boxt sie freundschaftlich in die Seite. »Du nur wieder.« »Darf ich mich dann auch noch verabschieden? Wenn es nämlich noch länger dauert, muss ich zu Hause Bescheid geben«, nörgelte Moritz aus dem Off. Selbstverständlich wurde auch er liebevoll verabschiedet und dann standen Ava und ihre Mutter auf der Straße und winkten dem davon fahrenden Transporter nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Pauline wendete sich an Ava.

»Bereit?« »Bereit, wenn du es bist«, antwortete diese mit einem Augenzwinkern. Dieser Spruch aus einer berühmten Romanverfilmung war ihr persönlicher Mut-Mach-Spruch. Paule nahm ihre Tochter in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Wir bekommen das hin, oder?« »Wer? Wenn nicht wir?«, antwortete die Kleine. Fünf weitere Tage benötigten sie, um Kartons auszupacken, Möbel ab und woanders wieder aufzubauen

und einen halbwegs erträglichen Sauberkeitszustand herzustellen. Zufrieden besah sich Pauline ihr Tagwerk. Mittlerweile war es Nachmittag und sie fand, es war allerhöchste Zeit für eine Pause. Gemeinsam mit Ava spazierte sie durch das Dorf. In der kleinen Eisdiele “Eis an der Waffel” gönnten sie sich zwei riesige Eiswaffeln. Schleckend setzten sich die beiden auf die Baumbank unter der Linde am Dorfteich. »Da bin ich froh, dass ich auf gutes Eis nicht verzichten muss«, stöhnte Ava und schloss genießerisch die Augen. »Ich hatte Luigi nämlich

schon vermisst.« »Ja, es schmeckt recht gut, oder?« Die Jüngere nickte. Plötzlich riss sie die Augen auf. »Was ist denn?«, fragte Paule und blickte in dieselbe Richtung, in die ihre Tochter sah. Ava sprang auf. »Ich geh’ dann mal, okay?« »Was?«, wunderte sich Pauline, »Wo willst du denn hin?« »Die da hinten kenne ich.« »Die Kinder dort? Woher denn?« »Vom Fußballplatz.« »Fußball?«, echot ihre Mutter verständnislos. »Seit wann interessiert du dich denn für

Fußball?« »Mensch, Mutti, Fußball geht mir im Arsch vorbei. Aber die Leute sind cool.« »Aha«, murmelte Pauline und leckte einen Tropfen Eis von ihrer Hand. »Zum Abendbrot bin ich zurück.« Klar, Sam wird ja auch kochen. Ava hatte schnell die Vorzüge eines Kochs im Haus begriffen. »O-k-a-y«, rief sie ihrer davon eilenden Tochter nach. Einerseits freute sie sich, dass ihre Tochter im neuen Ort so schnell Anschluss gefunden hatte, doch andererseits war sie etwas enttäuscht nun allein den

Nachmittag verbringen zu müssen. Sie hatte sich auf ein paar schöne Mutter-Tochter-Momente gefreut. Nachdenklich stand sie auf und schlenderte zurück zur Straße. Dann konnte sie auch gleich im Friseursalon einen Termin vereinbaren. Das Eis hatte sich dank der Hitze schneller verflüssigt als sie schlecken konnte und klebte nun unangenehm an ihrer Hand. Sie entsorgte es im nächstbesten Abfalleimer. Mit vor Ekel verzogenem Mund kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Feuchttuch. Triumphierend zog sie schließlich die Packung hervor,

wischte sie sauber und warf das benutzte Tuch ebenfalls in den Mülleimer. Beim Umdrehen stieße sie mit jemandem zusammen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht sein musste. »Oh, Verzeihung«, murmelte sie rasch und sah auf. »Kein Problem«, erwiderte der Mann, der ihr gegenüberstand, freundlich und schloss seine Ledertasche. Endlich hob er den Blick und erstarrte. »Sonja?« »Ähm«, sie runzelte die Stirn. »Sie müssen mich verwechseln. Ich heiße Pauline.« »Aber natürlich«, sagte er und lachte.

»Allerdings hieß meine Mutter Sonja.« Etwas blitze in seinen Augen. Er hob den Zeigefinger und erklärte schmunzelnd, »Dann sind Sie Pauline Bernstein. Sonja war ihre Mutter, und die wiederum die Tochter vom alten Wilhelm.« »Korrekt. Sie kannten meine Familie?« »Das will ich meinen«, lachte der Fremde und strich sich mit den Fingerspitzen über den Kragen seines Poloshirts. »Bitte verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Andreas Steiner. Ich bin

der Bürgermeister.« »Freut mich«, entgegnete Pauline. »Frau Grabowski hat mir bei der gestrigen Sitzung berichtet, dass wir drei neue Mitglieder in unserer Gemeinde haben. Sie haben eine Tochter, nicht wahr?« Der Mann war wirklich bestens informiert. Pauline stimmte dem zu und gab kurz die Daten ihres Kindes wieder. »Sehr schön. Und Sie und Ihr Mann beabsichtigen also, die alte Buchhandlung wiederzueröffnen?« »Mein Mann?« Sie runzelte die Stirn. »Sam Macrae und ich sind nicht … also, wir sind nur

Geschäftspartner. Er wird das Café leiten und ich die Buchdruckerei«, erklärte sie entschieden. Warum nahmen immer alle gleich an, sie seien ein Paar? »Ah, verstehe. Und, wie geht es Ihrer Mutter?«, wechselt er galant das Thema. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren, das darf ich ohne schlechtes Gewissen behaupten, gute Freunde.« »Sie ist tot.« Erschrocken weiteten sich die Augen des Bürgermeisters. »Tot?«, wiederholte er kaum hörbar. »Aber … warum? War sie

krank?« »Es war ein Unfall mit dem Auto. Meine Eltern haben ihn leider nicht überlebt.« Er griff sich an die Brust. »Wie furchtbar! Mein herzlichstes Beileid, Frau Bernstein. Und dann auch noch Ihr Großvater …« »Danke«, murmelte sie und wich seinem mitfühlendem Blick aus. »Der Unfall liegt schon ein paar Jahre zurück und Großvater … Ich kannte ihn ja kaum. Ich nehme an, ich habe mein Erbe allein dem Umstand zu verdanken, dass Opa keine weiteren Familienangehörigen

hatte?« »Das denke ich nicht. Er hat doch seine Schwester.« Erstaunt weiteten sich ihre Augen. »Schwester? Ich höre zum ersten Mal davon.   »Ihr Name ist Hilde. Wilhelm und sie wuchsen zusammen hier auf. Hilde heiratete nach Thüringen. Einen Glasbläser und ging mit ihm dorthin. Seitdem hatten die beiden nur noch sporadisch Kontakt.« »Ach so.« »Der Wilhelm mochte Sie sehr.« »Wen? Mich?« Er nickte. »Jawohl. Er sprach ständig von seiner kleinen Enkelin.

Allerdings hatten wir ihn später für senil gehalten. Er sprach immer von einem Paul und nannte das Kind doch seine Enkelin.« Schmunzelnd erklärte sie aufs neue, die Besonderheit ihres Namens und die Berliner Umgangsweise mit ebenjenem. »Dann ist ja alles klar«, sagte er und lachte. »Ich bin jedenfalls froh, dass Sie jetzt hier sind und der schönen Buchhandlung wieder neues Leben einhauchen. Auch die Idee des Cafés finde ich prima. Einen Ort, an dem sich die Dorfgemeinschaft treffen und wo Menschen gemütlich

zusammenkommen können, hatten wir hier bisher nicht. Sie werden mir zustimmen, dass ein Dönergrill dafür eher ungeeignet ist.« »Stimmt«, stimmte sie ihm lachend zu. »Ja, Sam hat da wohl wirklich einen Nerv getroffen.« »Sam? Das klingt irgendwie … seltsam. Wie war noch gleich der Nachname?« »Macrae. Er ist Schotte.« »Schotte? Was macht ein Highlander denn im Harz?« »Ob er aus den Highlands kommt, weiß ich nicht, aber er hatte mir erzählt, dass er mal zu Besuch hier im Ort war und sich sofort in die

Gegend verliebt hat. Sein Traum war es schon immer, ein eigenes Restaurant zu eröffnen.« »Na, dann sind wir mal froh und dankbar, dass er sich dafür unser Dorf ausgesucht hat. Und, wer weiß, vielleicht können Sie es irgendwann auch lieben lernen?« »Oh, ich mag Grafenburg jetzt schon. Es ist alles so klein, gemütlich und …« »Ich verstehe. Da empfinden Sie wohl vollkommen anders als Ihre Mutter. Wo hat es Sonja denn eigentlich hin verschlagen, als sie damals hier Hals über Kopf geflohen

ist?« »Geflohen?« Andreas Steiner runzelte die Stirn. »Sonja ist nach der Sache mit Claudia beinahe von einem Tag auf den anderen verschwunden. Es hat Wilhelm das Herz gebrochen. Nach dem Tod seiner Frau hatte er nur noch sie.« »Mutter hat mir erzählt, sie hätte hier keine Ausbildungsstelle gefunden und sei daher nach Berlin gegangen.« »Berlin also.« Sie nickte. »Sie war Sekretärin.« »Ich verstehe«, murmelte Steiner gedankenverloren und machte ein

Gesicht, als wüsste er, dass dies nur eine Ausrede war. Neugierig geworden hakte Pauline nach, »Was war denn mit dieser Claudia?« »Claudia Heitmann und Sonja waren die besten Freundinnen. Schon seit der Grundschule waren sie unzertrennlich. Wo die eine hinging, folgte ihr die andere.« »Und warum ging Claudia dann nicht mit nach Berlin?« Ihr Gegenüber blickte betreten zu Boden. »Das … war nicht möglich.« »Warum? Hatte Claudia hier eine Arbeit gefunden?« »Nein. Sie … verschwand. Eines

Tages war sie wie vom Erdboden verschwunden.« »Wie das?« »Na, sie war weg. Von einem Tag auf den nächsten. Keiner wusste, wo sie abgeblieben war. Die Polizei suchte sie Monatelang. Irgendwann stellte man die Suche allerdings ein.« »Wurde sie … umgebracht?« »Auch das weiß niemand«, erklärte er. »Man befragte uns, ihre Mitschüler. Besonders Ihre Mutter wurde öfter in die Mangel genommen. Der Vater von Claudia, der damals hier im Ort die Mühle betrieb, konnte nicht begreifen,

dass ausgerechnet Sonja nicht wissen sollte, wo seine Tochter sich befand.« »Und sie wusste es wirklich nicht?«, staunte Pauline. »Nein. Jedenfalls hat sie das immer beteuert. Doch irgendwie hatten wir den Verdacht, dass sie ein Geheimnis bewahrte.« »Wirklich? Sie meinen, dass Sonja sehr wohl wusste, wohin ihre Freundin verschwunden war? Oder wo sie sich versteckt hielt?« »Na, oder dass sie zumindest den Grund kannte, weshalb alles so gekommen ist«, stellte er richtig. »Und diese Claudia gilt bis heute

als … verschollen? Man hat nie ihre Leiche oder ein Lebenszeichen gefunden? Keine Hinweise aus der Bevölkerung?« Ihr kriminalistischer Spürsinn, den sie sich durch den Konsum unendlich vieler Krimis angeeignet hatte, war geweckt. »Was hätte es denn für einen Grund geben können?« Ihr schwebte da sofort eine heimliche Schwangerschaft vor. »Das ist eine gute Frage, die zu klären, sich seit damals alle den Kopf zerbrechen.« »Echt? Auch heute noch, gibt es Leute, die nach Claudia Heitmann

suchen?« »Nein. Nur ich, in meiner Funktion als Heimatforscher, denke gelegentlich darüber nach. Es wäre doch interessant, herauszufinden, wo sie abgeblieben ist.« Pauline stellte sich modernde Knochen verborgen unter dem Laub der Jahre im Wald vor. »Jedenfalls hielt Sonja die ganze Fragerei und den Druck wohl nicht mehr aus und ging.« »Was für eine furchtbare Geschichte. Wie ist es denn den Eltern dieser Claudia ergangen?« Steiners Miene verdunkelte sich. »Ihre Mutter hat sich daraufhin

aufgehängt.« Entsetzt zuckte Pauline zurück. »Sie wurde neben dem leeren Grab ihrer Tochter bestattet.« »Leeres Grab?« Er nickte. »Wenn eine Leiche unauffindbar ist, man jedoch davon ausgeht, dass die Person verstorben ist, kann man diese dennoch bestatten. Lediglich steht statt einem Sterbedatum bei Claudia schlicht vermisst. Und der alte Heitmann wurde immer griesgrämiger. Irgendwann ging er kaum noch aus dem Haus.« »Lebt er noch? Und war Claudia ihr einziges

Kind?« »Ja, sie war die einzige und ja, er lebt noch. Doch kaum einer bekommt ihn zu Gesicht. Ein Pflegedienst kümmert sich um seinen Haushalt und die Einkäufe.« »Ich verstehe. Wie traurig.« »Das ist es.« »Und die Mühle? Ist sie geschlossen?« »Das war sie damals auch schon fast. Das alte Mühlrad dreht sich zwar noch. Doch eher aus nostalgischen statt effizienten Gründen«, lächelte der Bürgermeister. »Das macht sich gut für Touristen. Tatsächlich aber

wird unser Dorfladen mit frischem Mehl hier aus der Gegend beliefert. Überhaupt setzt der Laden auf regionale Produkte. Waren Sie schon mal drin?« »War ich. Ein hübscher kleiner Laden. Sam hatte die Idee, über ihn die Produkte für die Café-Küche zu beziehen.« »Fabelhaft! Das wird meine Frau freuen.« »Ihre Frau?« »Ja, Manuela kümmert sich um das leibliche Wohl der Dorfgemeinschaft und ich um ihre weltlichen Bedürfnisse.« Pauline stimmte in sein Lachen mit

ein. »Und wir uns demnächst um ihre geistige Gesundheit. Wir haben schon tolle Ideen, um den Leuten hier Abwechslung zu bieten.« »Das höre ich gern«, erwiderte er. »Wollen Sie beide mich nicht mal besuchen und sie mir unterbreiten?« »Gern.« »Dann würde ich vorschlagen, Sie kommen nächsten Samstag zu mir nach Hause. Manuela kocht uns etwas Leckeres. Bringen Sie Ihre Tochter gern mit! Mein Sohn würde sich sicherlich freuen.« »Sie haben einen Sohn?« »Ja, habe ich. Paul ist vierzehn und

Frieda sieben.« »Wie nett. Sehr gern. Ich sage jetzt einfach mal in Sams Namen zu. Ich hoffe, er hat Zeit.«   »Na, die wird er sich doch wohl für seinen Bürgermeister nehmen«, scherzte Andreas Steiner.

Schreib mir was!

0

Hörbuch

Über den Autor

AnniAusBerlin
Aufgewachsen im Kleinstädtischen Eisenach, waren Bücher seit sie denken kann Teil ihres Lebens. Bereits als Kind las sie sich durch die Stadtbibliothek, während ihre eigene standig anwuchs. Nach der Ausbildung zur Kinderpflegerin und der Gründung einer eigenen Großfamilie in Berlin fand sie schließlich, es ist an der Zeit, um die Leidenschaft zum Beruf zu machen. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Sprecherin, studierte Journalismus auf der Fernschule und besuchte Kurse zum kreativen Schreiben. Seit einigen Jahren veröffentlicht sie nun auf Plattformen wie dieser ihre Werke und hofft, dass sie bei den Lesern Anklang finden.

Leser-Statistik
15

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Gast Auch wenn der "Tot" des Großvaters auf dem Klappentext mich schon mal erschüttert hat, habe ich mal quer rein gelesen und es gefällt mir wieder gut. Aber deine Veröffentlichungstechnik hier in diesen Mammutbüchern wird dir wohl kaum viele Leser bringen. Schade!
Lieben Gruß
fleur
Vor ein paar Monaten - Antworten
Gast Hallo Fleur.
Prima, dass auch diese Geschichte dich begeistern kann. Das Buch hat gerade einmal 200 Seiten (A5). Nur hier wird es so "gewaltig" aufgebrauscht. :-) Auf anderen Portalen ist es nicht so.
Viele Grüße
Andrea
Vor ein paar Monaten - Antworten
FLEURdelaCOEUR Ja, ich war's, fleur
Vor ein paar Monaten - Antworten
Drehpunkt oder zumindestens genug davon was nichts anderes sein kann;-)
Vor ein paar Monaten - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
4
0
Senden

170863
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung