Biografien & Erinnerungen
Mein Tagebuch - Von einem schwarzen Mann im Wald und einem Bus mit weinenden Kindern...

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"...und was die Puffbahn damit zu tun hat"
Veröffentlicht am 07. November 2022, 24 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

...ich bin Ines, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, nach der Grenzöffnung und seit dem Auszug meiner 3 Kinder viel unterwegs, woraus sich auch mein spitz- und username vagabundinchen (vagabund + inchen) ergibt. Ich bin ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann (wenn ich das von mir selbst behaupten darf), meine Hobbys sind lesen, schreiben, Fahrrad fahren, wandern, angeln, zelten ...und alles, was Spaß macht. Ich mache ein paar Mal ...
...und was die Puffbahn damit zu tun hat

Mein Tagebuch - Von einem schwarzen Mann im Wald und einem Bus mit weinenden Kindern...

Von dem schwarzen Mann im Wald und einem Bus mit weinenden Kinder




oder:



... und was die Puffbahn damit zu tun hat



Neue Woche, neue Beiträge. Da es Samstag und Sonntags meist in der Nachbarschaft viel zu tun gibt (und wenn es nur eine Einladung zum Kaffee ist, weil einzelne Senioren Redebedarf haben), werde ich meine Beitragstage etwas verschieben. Ich hoffe, so die Ausfallzeiten reduzieren zu können. In Zukunft gibt es hier neue Artikel am Montag und am Freitag zu dem Thema "Erinnerungen" und dazwischen am Mittwoch zum Thema Ein ehrenwertes Haus". Fangen wir also gleich an:

Heute erzähle ich euch von meiner ersten Begegnung mit einem … ehm, wie darf ich denn jetzt überhaupt sagen, damit es mir nicht rassenfeindlich ausgelegt werden kann. Damals hätte ich einfach ein Neger gesagt. Später wäre es ein Schwarzer oder ein Farbiger gewesen. Aber das alles geht ja nun gar nicht mehr. Und ein Afroamerikaner ist mir ehrlich gesagt zu kompliziert. Und der große Mann, von dem ich heute schreiben möchte, hat ja bestimmt auch nie Afrika gesehen. Aber ich glaube, ihr wisst jetzt sowieso genau, wie der Mann ausgesehen hat, ohne dass ich ihn irgendwie

benennen muss. Meine erste Begegnung eben mit diesem Mann hatte ich mit 5 Jahren. Damals war ich ja, ich glaube, ich hatte das hier oder da schon einmal nebenbei erwähnt :-D , sehr zierlich, klein und untergewichtig. (Aus diesem Grund kann ich heute bei meiner flauschigen Körperfülle leider auch nicht behaupten, dass ich einen starken Knochenbau habe. Leider. Denn ich glaube nicht, dass der sich im Laufe des Lebens ändert.) Jedenfalls entschlossen sich meine Eltern entsprechend dem Rat unseres Kinderarztes, mich zu einer, ich sage mal

Aufpäppelungskur für Kinder zu schicken. Die frische Luft, Bewegung in der Natur und natürlich ein spezieller Speiseplan sollten mich und die anderen Kids mehr zu Kräften kommen lassen. Und besagter Mann war der Arzt der Einrichtung, die sich mitten im Wald befand. Wo genau die Kurklinik lag, weiß ich verständlicher Weise nicht mehr. Und ich habe auch niemanden, den ich noch fragen könne. Es war aber eine sehr ländliche Gegend mit viel Wald. Denke mal, so Richtung Thüringen oder einem vergleichbaren Gebiet.

Doch zuerst mussten wir ja dort hin. Die Sammelstelle war in Berlin Mitte. Das weiß ich noch. Denn seither habe ich den Eingang des Hauptgebäudes der Humboldt Universität von Berlin schon häufig wieder gesehen. Der große Platz davor mit der Statuen auf den Pfeilern sowie das imposante Gebäude aus gelben Sandsteinen hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und ich sehe auch heute noch den für mich damals riesigen Reisebus vorfahren, in deren Scheiben sich die Sonne spiegelte und mich kurz blendete. Anscheinend war diese erste Trennung von meinen Eltern und die

lange Fahrt ins Ungewisse doch sehr prägend. Im Bus warteten schon einige Erzieherinnen, die bestimmt auch sehr nett waren. Aber natürlich Mama und Papa nicht ersetzen konnten. Und so fing bereits beim Anfahren des Busses ein kleines Mädchen mit langen blonden geflochtenen Zöpfen lauthals an zu weinen. Worauf auch ihre Mutter draußen auf dem Parkplatz laut in ihr Taschentuch schnäuzte, sodass ihr Mann sie in den Arm nahm und versuchte, sie zu trösten. Die Fahrt dauerte ewig lange. Auch ein

Grund, warum ich annehme, dass wir in den Süden der Republik unterwegs waren. In Richtung Meer mit seiner typischen Natur ging es jedenfalls nicht. Je länger sich die Ankunft hinzog, desto mehr Kinder fingen an zu weinen. Das schien irgendwie ansteckend zu sein. Und so kullerten irgendwann auch bei mir dicke Tränen die Wangen herunter. Irgendwann jedoch hatte das Leiden ein Ende. Wir hielten mitten im Wald vor einem großen alten Haus mit mehreren Stockwerken. Die Bustüren öffneten sich und wir wurden in den umzäunten Garten geführt. Dort stellten wir uns auf und wurden durchgezählt. Eine Prozedur, die

in den nächsten 3 Wochen mehrmals täglich durchgeführt wurde. Danach wurden wir auf unsere Zimmer verteilt, in denen mehrere Doppelstockbetten standen. Jeden Morgen vor dem Frühstück ging es nur in Unterhose bekleidet auf den Hof zum Waschen. Da standen niedrige lange Steinwaschbecken, die an Schweinetröge erinnerten. Darüber verlief ein Rohr mit Wasserhähnen in regelmäßigen Abständen. Natürlich kam da nur kaltes Wasser heraus. Wahrscheinlich sollte uns das abhärten und unser Immunsystem stärken. Aber ich mochte das Waschen und vor allem das Zähne putzen mit

eisigem Wasser gar nicht. Das geht mir auch heute noch so. Ich bin eben ein echter Warmduscher. Und ich stehe dazu. :-) Nach dieser erfrischenden, jedoch eher lästigen Routine wanderten wir weiter zu besagten Doktor, den ich faszinierend fand. Andere Kinder hatten Angst vor ihm, besonders das dünne Mädchen mit den langen Zöpfen. Die war sowieso dicht am Wasser gebaut, wie man so schön sagt. Denn eigentlich heulte oder schluchzte sie ständig. Irgendwann ging das uns anderen Kids nur noch auf die Nerven. Wenn wir anfangs immer neugierig zu ihr schielten, so gewöhnten

wir uns bald daran. Und beachteten sie gar nicht mehr, sobald die Sirene wieder losheulte. Vor dem Arztzimmer standen wir in einer langen Schlange an und wurden nacheinander einzeln hineingerufen. Wiegen war angesagt. Täglich. Auf so einer alten Waage, an der die kleinen Schieber auf der Stange so lange hin und her geschoben wurden, bis sich die zwei Spitzen genau gegenüber standen. Anschließend durften wir uns anziehen und es ging wieder in Garten an die lange Tafel zum Frühstücken. Was es zu Essen gab, weiß ich gar nicht mehr,

wahrscheinlich viel mit Marmelade oder so. Wir sollten ja an Gewicht zulegen. Aber was mir im Gedächtnis geblieben ist, war das tägliche Kompott nach dem Mittagessen. Selbst gekochter dicker Grießbrei mit Klümpchen. Und darüber wurde gefühlt tonnenweise eklig süßer roter Sirup gekippt. Fast vergleichbar mit dem Zeug, was man heute in Flaschen kaufen kann und das in einem Verhältnis von 1:7 in einem Glas Wasser aufgelöst wird. Nur dass es auf unseren Pamps damals unverdünnt kam. Und wir durften erst aufstehen und noch etwas spielen gehen, wenn die Schüssel leer war. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich sehe, wie jemand

Grießbrei isst. Boah, da schüttelt es mich sogar jetzt beim Schreiben. Unser Mittagsschlaf fand wiederum auf kleinen Klappliegen im Garten statt. Das fand ich toll. Nicht unbedingt das Stillliegen und Schlafen müssen, aber die Atmosphäre insgesamt. Die frische Luft, die die Blätter der Bäume über uns sanft bewegte und die Sonnenstrahlen auf den Betten und dem Waldboden tanzen ließen. Und das Zwitschern der Vögel, das mich langsam einlullte, bis ich wegdämmerte. Und bei der vielen Bewegung in Mutter Natur und dem üppigen Essen dauerte es auch nie lange,

bis ich einschlief. Und wahrscheinlich auch die anderen Kids. Nach dem Mittagsschlaf spielten wir im Garten, wenn das Wetter es zuließ. Und wir sangen das Lied von der Puffbahn. Dabei machten wir eine Polonaise, fassten uns an den Schultern und taten so, als wären wir ein Zug mit mehreren Waggons. Der Zug, der von einer Erzieherin als Lok angeführt wurde, wanderte dann im Zickzack durch den Garten und um verschiedene Bäume herum. Die Melodie kenne ich heute noch. Den Text musste ich googeln. Ich wusste nur doch die ersten zwei Zeilen des Refrains. Und ein paar Fetzen aus

den einzelnen Strophen. Nun kann ich das Lied wieder in seiner ganzen „Schönheit“ singen... und meine erwachsenen Kinder amüsieren beziehungsweise nerven. Je nach Gemütslage. :-) Hier ist der Text: Mit der Puffbahn fahr’n ist so wunderschön, über Berg und Tal, über Höhn! Puff puff. Alles einsteigen! Einsteigen! Gleich geht’s los! Mit der Puffbahn fahr’n ist famos! Puff,

puff. Ich wollte mir so gerne mal die Welt besehn und zum Bahnhof gehn, wo die Züge stehn, wo die Lokomotive den Dampf auskocht und der Schaffner die Fahrkarten locht. Puff, puff. Mit der Puffbahn fahr’n ist so wunderschön, über Berg und Tal, über Höhn! Puff puff. Alles einsteigen! Einsteigen! Gleich geht’s los! Mit der Puffbahn fahr’n ist famos! Puff,

puff. Und jetzt fahren wir in den Tunnel rein, da wird’s finster sein, und ihr dürft nicht schrein. Macht euch doch, wenn ihr wollt, dass man sehen kann, eine Taschenlampe an. Puff, puff. Mit der Puffbahn fahr’n ist so wunderschön, über Berg und Tal, über Höhn! Puff puff. Alles einsteigen! Einsteigen! Gleich geht’s los! Mit der Puffbahn fahr’n ist famos! Puff,

puff. Und jetzt fahren wir in die Welt hinaus, lebet wohl zu Haus, lebet wohl zu Haus! Und der Hans und der Franz und der Onkel Fritz Und die gute Tante Schmitz! Puff, puff. Mit der Puffbahn fahr’n ist so wunderschön, über Berg und Tal, über Höhn! Puff puff. Alles einsteigen! Einsteigen! Gleich geht’s los! Mit der Puffbahn fahr’n ist famos! Puff,

puff. Überhaupt waren wir in der Zeit dort viel an der frischen Luft. Ich erinnere mich an die vielen Spaziergängen durch den Wald, vor dem Mittagessen und am Nachmittag. Das fand ich auch toll. Und kann mich auch noch bis heute dafür begeistern. Was mich aber zum damaligen Zeitpunkt am meisten beeindruckt hat, war der besagte Doktor. Ich war regelrecht fasziniert von ihm. Und freute mich jeden Morgen auf das Wiegen. Würde mir heute nicht mehr passieren ;-)

Ich hab ihn einmal sogar fast nackt gesehen. Als wir alle am See waren. Da hatte er nur eine Badehose an. Und ich stellte verwundert fest, dass seine Handinnenflächen und Fußsohlen ganz weiß waren. Wie bei mir. Das verwirrte mich und ich fragte mich, ob es daran lag, dass da so wenig Sonne hinkam. Insgesamt wurde ich von meinen Eltern 3x zum Aufpäppeln zu einer entsprechenden Kur geschickt. Aber die stärksten Erinnerungen hatte ich an mein erstes Mal. Tja, das erste Mal vergisst man anscheinend nie.

So, das soll es für heute gewesen sein. Am Freitag gibt es mehr von meinen Kindheitserinnerungen, denn am Mittwoch schreibe ich über meine liebe Nachbarschaft. Wenn es meine Zeit erlaubt. Also, bis dahin.

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Hörbuch

Über den Autor

vagabundinchen
...ich bin Ines, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, nach der Grenzöffnung und seit dem Auszug meiner 3 Kinder viel unterwegs, woraus sich auch mein spitz- und username vagabundinchen (vagabund + inchen) ergibt. Ich bin ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann (wenn ich das von mir selbst behaupten darf), meine Hobbys sind lesen, schreiben, Fahrrad fahren, wandern, angeln, zelten ...und alles, was Spaß macht. Ich mache ein paar Mal in der Woche Linedance und probiere gerne mal was Neues aus. Freundschaften sind mir sehr wichtig. Wenn ihr mir schreiben wollt, dann traut euch ruhig. Ich beiße nicht.
Ansonsten viel Spaß beim Lesen...

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sugarlady Liebe Ines, mit einem dicken Schmunzeln, denke ich an die eigene Kindheit zurück. Bis ich 10 Jahre alt wurde, war ich auch schmal. Aber eine Kur, habe ich Gott sei Dank keine benötigt.
Du hast deine Geschichte, bildhaft vorgestellt.
Hab sie gerne gelesen.
L.G. Andrea
Vor langer Zeit - Antworten
vagabundinchen Liebe Sugarlady, danke für deinen lieben Kommentar. Zum Glück waren es bei mir nur Kuren, hab von anderen Betroffenen gehört, dass sie regelrecht zwangsernährt wurden. Da bin ich froh, dass ich nur durch den Wald spazieren und Grießpudding mit ekelig süßem Sirup essen musste!
Hab noch einen schönen Abend
und lieben Gruß aus Berlin
Ines
Vergangenes Jahr - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Ines, ich lese deine Erinnrrungen auch sehr gern, wenn ich auch nicht alles kommentiere. Ich war auch mehrfach zur Kinderkur. War zwar nicht untergewichtig, aber sehr oft an Bronchitis erkrankt.
Das erste Mal war ich mit 8 Jahren in Bad Frankenhausen zur Solekur. Zurück kam ich mit Kopfläusen ...
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
vagabundinchen :-)
tja, auch eine Art Abenteuer...
Liebe Fleur, danke für deinen netten Kommentar.
Hab noch einen schönen Abend
Lieben Gruß
Ines
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Liebe Ines, das hat mich an meine eigene Kur erinnert. Ich war schon 6 jahre alt und wurde wegen einer Bronchitis nach Bad Sulza geschickt. Das war ein christliches Heim und mir hat es dort so gar nicht gefallen. Aber Du hast mich inspiriert, auch mal darüber zu schreiben.
Du bist auch ein echtes Schreibtalent.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
vagabundinchen Liebe Bärbel. Es freut mich, wenn dir meine Erinnerungen gefallen und vor allem, wenn sie dich zum Schreiben anregen. Ich würde mich freuen, etwas in der Richtung von dir lesen zu können.
Lieben Gruß
Ines
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Ach, es gibt schon so einige Erinnerungen, z.B. Weihnachten im Dreimäderlhaus, Erinnerungen an die Schulzeit u.v.a.m.
LG Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Na dann, leg los. Hat ja auch den Vorteil, dass du später immer Neues zu lesen hast, wenn dich dein Gedächtnis langsam im Stich lässt. Gruß Ines
Vor langer Zeit - Antworten
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