Hell schien die Sonne durch eine Öffnung in der Decke der Höhle. Schlaftrunken öffnete Velm die Augen. Wo war er? Es war still um ihn. Er brauchte eine Weile, bis die Erinnerung zurückkam. Er befand sich in der Höhle des Drachen, der sein Volk retten sollte. Gestern Abend aber hatte erst einmal der Knabe den Drachen gerettet.
Velm stand auf, reckte sich und trat dann einige Meter zurück, um den Drachen erst einmal genauer zu betrachten. Groß war das Tier, um nicht zu sagen riesig. Er reichte von dem einen Ende der Höhle bis zur anderen. Sein mit zackigen Platten verzierter Schwanz hatte in etwa die gleiche Länge wie sein Körper. Goldgrünlich schimmerte der Körper im Sonnenlicht. Die Oberseite bestand aus überwiegend handtellergroßen Schuppen. Auch über den Rücken des Drachen verlief eine Linie aus schuppenartigen Platten. An der Bauchseite des Tieres waren die Schuppen allerdings so klein und zart, dass man eher glauben konnte, es wäre Leder. Die Unterseite des Drachen war viel heller als der Rücken. Der Bauch schimmerte eher silberfarben. Alle vier Beine waren kräftig. An den Pfoten endeten sie in kräftigen scharfen Krallen. Am eindrucksvollsten allerdings war der Kopf. Er war im Ganzen etwas dunkler als der restliche Körper. Auch der Kopf war von Schuppen bedeckt, allerdings nicht so groß wie auf dem Rücken und auch nicht so klein wie auf der Bauchseite des mächtigen Wesens. Die Ohren hatten in etwa die Form und auch die Größe von Pferdeohren, so dass sie auf dem gewaltigen Kopf klein und auch ein wenig unpassend wirkten. Recht weit oben am Kopf befanden sich die Augen, Augen, die man mit keinem anderen Tier vergleichen konnte. Dicke lange Wimpern zierten die Augenlider, die jetzt gerade geschlossen waren. Am Ende der langen Schnauze lagen große Nüstern, aus denen ständig leichter Rauch geradewegs nach oben stieg. Das Maul mit langen zackigen Zähnen war leicht geöffnet und gab den Blick auf eine zartrosa Zunge frei, die nicht gespalten war wie die einer Schlange sondern eher an die Zunge eines Hundes erinnerte. Schwer hob und senkte sich der Brustkorb des Drachen bei jedem Atemzug.
Wasser, schoss es Velm in den Kopf: Du musst dafür sorgen, dass er immer genug Wasser bekam, hatte sein Vater gesagt. Was, wenn der Drache wach wurde und kein Wasser fand, wäre er dann ungehalten, vielleicht sogar aggressiv? Nein, bestimmt nicht, er war schließlich ein Freund der Myrker, er würde Velm gewiss nichts tun. Aber Velm wusste, wie wichtig es für seinen neuen Freund war, dass genügend Wasser vorhanden war, also würde er jetzt dafür sorgen, dass schon bald genügend Wasser in der Höhle war. Der Knabe sah sich um. Er blickte zu dem Gang, durch den er gestern die Höhle betreten hatte. Da draußen, irgendwo, waren die Achtern, die nur darauf warteten, ihn oder den Drachen zu töten. Vielleicht waren sie schon am Rand des Berges und warteten auf ihn. Es war hell. Würde er durch den weithin sichtbaren Eingang die Höhle verlassen, dann würden sie ihn schnell entdecken. Es musste einen anderen Weg geben. Velm sah nach oben zu der Öffnung, durch die das Licht in die Höhle fiel. Er entdeckte einen schmalen Pfad, der wie in Stein gemeißelt in die Höhle führte. Allerdings endete dieser Pfad in einer Nebenhöhle. Diese musste der Knabe finden, dann wäre es ein Leichtes für ihn, durch die Öffnung zu schlüpfen und den Schnee, der gewiss auf dem Berg lag, in die Höhle zu schippen. Dann hätte der Drache für den Anfang genug Flüssigkeit.
Nur wenige Meter von seinem Standort entfernt sah er eine zweite Höhle, die sich an diese anschloss. Ohne zu ahnen, was ihn dort in dem Dämmerlicht erwartete, machte er sich auf den Weg. Er hatte erst ein kleines Stückchen zurückgelegt, als er ein tiefes Seufzen hinter sich vernahm. Er drehte sich um und sah, dass der Drache die Augen öffnete. Gelbe Augen mit einer länglichen Pupille musterten ihn. Das mächtige Tier hob schwerfällig seinen Kopf ein wenig an. Velm erblickte in diesen leuchtenden Drachenaugen sein Spiegelbild und fühlte sich geborgen und geliebt. Nichts Bedrohliches ging von diesem mächtigen Tier aus. Velm spürte eine Nähe und Verbundenheit, die er nicht für möglich gehalten hätte. Er konnte seine Gefühle nicht erklären. Gebannt blieb er einen Moment stehen, sah in die Drachenaugen, sah auf sein Spiegelbild. Er fühlte sich geborgen, er fühlte sich zuhause. Am liebsten wäre er in diesem Moment zurückgelaufen, hätte gern seine Ärmchen um den großen schuppigen Kopf geschlungen und einen feuchten Kinderkuss auf die prustenden Nüstern gelegt, aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. „Ich besorge dir jetzt Wasser“, sagte er: „Du kannst dich auf mich verlassen. Ich hab dich lieb.“ Dann wandte er sich um und machte sich auf den Weg.