Nur ein Wimpernschlag
Es ist diese eine Sekunde, die alles beeinflusst. Ein Wimpernschlag voraus,
versuche ich diese unheilvolle Erkenntnis zu verhindern, ihr meinen Rücken zu kehren. Loszurennen. Doch ich spüre sie, immer dicht hinter mir.
Und dann schließe ich die Augen. Ich kneife sie zusammen, bleibe abrupt stehen. Sie kommt über mich, wie eine Flut, ertränkt mich in all ihren Wahrheiten. Und auch wenn mir bewusst sein sollte, dass diese Wahrheiten nicht der Vollkommenheit entsprechen, wandelbar und dynamisch sind. Sie
nehmen mir die Luft zum Atmen. Und ohne diese bin ich Nichts. Also kämpfe ich mich durch diese Wellen, versuche mit dem Gesicht über Wasser zu bleiben. Ich schnappe nach Luft, spüre wie sich die kühle Flüssigkeit in meine Lunge füllt. Und dann lasse ich einfach los.
Ich sinke – und ein Gefühl des Friedens breitet sich in all den erschöpften Gliedern aus. Ich habe keine Angst, denke ich. Nicht mehr.
Ein mir bekannter Ton löst mich aus den Gedanken. Mit zitternden Fingern greife ich nach dem Telefon, versuche den
inneren Kampf abklingen zu lassen. Doch ich schaue kaum auf den Bildschirm, schalte es stumm. In diesem Augenblick befinde ich mich noch unter Wasser.
Es ist tiefschwarz um mich herum, der Körper betäubt von der Kälte, das Gehirn nicht mehr fähig einen klaren Gedanken
zu erfassen. Und so lasse ich mich weitertreiben. Immer weiter hinaus in die
Ungewissheit – dessen, was sich fortan als Realität definiert. Ich treibe vorbei an all den Erinnerungen, die mein Leben prägten, bis zu dieser Sekunde und jene weitere. Bilder der Glückseligkeit – lächelnde Gesichter, zärtliche Berührungen, Sonnenstrahlen, die den
kühlen Körper mit Wärme erfüllten.
Und auch vorbei an den Bildern, die bis in die dunkelsten Tiefen des Unterbewusstseins hervordrängen. Momente der tiefsten Verzweiflung. Grausamkeiten der leidenden Welt, getränkt in Trauer und Schmerz. Ich möchte schreien, doch wenn ich den Mund öffne, treibt das kalte Wasser nur noch schneller hinein in die Lunge. Und so lasse ich es zu. Langsam. Qualvoll. Stunde für Stunde. Tag für Tag.
Nach einer Weile spüre ich meine Glieder nicht mehr. Und somit auch den
unendlichen Schmerz, der auf die Brust
drückt. Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Die Lunge hebt sich, füllt sich mit Sauerstoff, senkt sich. Ich atme.
Erleichtert öffne ich die Augen, lasse ein wenig Licht in die trüben Linsen einfallen. Ich sollte nach draußen gehen, denke ich und nicke bestärkend. Und so erhebe ich mich aus den weichen Decken, die noch immer zittrigen Fingerspitzen wühlen sich durch die wärmende Wolle.
Ich laufe Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen. Barfuß. Die Holzdielen
knarzen und der nackten Haut.
Ich öffne die Haustür, eine erbitternd kalte Brise stürmt mir entgegen und ein Schauer durchfährt mich. Die Welt um
mich herum ist gebettet unter einer schneeweißen Decke. Ich blicke nach oben, lasse die Schneeflocken auf der Zunge zergehen. Und dann wage ich einen weiteren Schritt geradeaus. Ein brennender Schmerz breitet sich unter meinen Füßen aus, er beißt sich durch die Hautschichten hindurch. Doch das macht mir nichts aus.
Diese Realität, wie darf ich sie definieren, wenn ich nicht einmal meiner eigenen Existenz sicher sein kann? All diese Erwartungen, Hoffnungen, Emotionen. Die Sinneseindrücke. Eine komplexe Erfahrung in jeder menschlichen Sekunde. Und innerhalb
eines Wimpernschlages wird all dies nur noch verflüchtigende Erinnerung sein. Nicht einmal ein Teil der eigenen Erinnerung, sondern die der anderen. Ich seufze. Wie ist es mir möglich, die Komplexität des Lebens zu begreifen und diese gleichzeitig als gegeben und definiert anzusehen? Ein Seiltanz über großer Höhe, zwischen Funktionalität und Erkenntnis, Leben und Untergang.
Manchmal blicke ich mich um und spüre, wie ich zwischen diesen Realitäten stehe. Und ich versuche sie als gegebene Wahrheit zu definieren, zu akzeptieren,
wie das Leben selbst. Vereinzelte Tränen wärmen die unterkühlte Wange.
Ich werde nicht aufgeben, danach zu
suchen. Nach einer Möglichkeit, einfach mit geschlossenen Augen zu springen. Und zu hoffen, dass ich nicht auf Boden treffe. Vielleicht ein zum Scheitern verurteilter Versuch, und doch ohne Misserfolg.
Ich drehe mich noch einmal im Schnee, lasse die einzelnen Flocken auf dem Gesicht zergehen.
Dann laufe ich hinein.
©Ellen_Austen