Kurzgeschichte
Meine Freundin Marie - Jurybeitrag SP 88

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"Meine Freundin Marie - Jurybeitrag SP 88"
Veröffentlicht am 29. Januar 2021, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich bin Martina, Jahrgang '83 und habe eine Tochter. Ich lebe in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Das Schreiben ist für mich ein Ventil meiner Gefühle. In jedem Gedicht steckt also auch ein kleines Stückchen meiner Seele. Die erotischen Kurzgeschichten sind allerdings allesamt reine Fiktion.
Meine Freundin Marie - Jurybeitrag SP 88

Meine Freundin Marie - Jurybeitrag SP 88

Vorwort

Jurybeitrag zur Schreibparty 88 mit den folgenden vorgegeben Sätzen:


Anfang -> Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen.


Ende -> Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg - er war leer.


Vorgabewörter: Sonne, Rabenaas, Priester, Fagott, Durchreiche, Klingelstreich, Zuckerstreusel, Fangopackung

Kuno

Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen. Zumindest dachten das die Anderen. Süß sah sie aus, mit ihren blond gelockten Haaren und den geblümten Kleidchen in zarten Pastelltönen. Ein kleiner Engel. Ich war das komplette Gegenteil. Ein großer, schmächtiger, schmuddeliger Junge. Die einzige Hose war mittlerweile ziemlich zerschlissen und aufgrund meines roten Haarschopfs war ich oft Mittelpunkt des Gespötts meiner Mitschüler. Ich weiß nicht, warum, aber Marie war vom ersten Tag an meine Freundin. Sie, aus gutem

Haus, plötzlich in unserer kleinen Stadt, an meiner Schule. Sie musste wohl irgendetwas in mir gesehen haben. Ich hinterfragte das nicht weiter und nahm es dankbar hin, ihr Freund sein zu dürfen. So waren die Hänseleien in der Schule nur noch halb so schlimm. Marie war stets an meiner Seite. Gemeinsam heckten wir einiges aus: Klingelstreiche bei den wenigen Häusern der Wohlhabenden oder das Stibitzen von Zuckerstreuseln aus der Vorratskammer des kleinen Lebensmittelgeschäfts. Auch unser Lehrer, der Herr Priester, blieb nicht verschont. Marie malte ordinäre Bilder von ihm und der Witwe Huber an die Tafel, während ich draußen Schmiere

stand. An diesem Tag wurde ich nach vorne zitiert. Mit dem Rohrstock in der Hand und zornesrotem Gesicht stand der Pfaffe vor der Tafel. Gerne hielt ich für meine Freundin den Kopf hin, denn ich war es gewohnt immer angeschuldigt zu werden. Meine Hände zierten mittlerweile schon so einige Narben von den harten Schlägen. So verließ ich also mit gesenktem Kopf, aber stolz, meinen Platz Richtung Lehrerpult. Doch Heinrich, dieses Rabenaas, konnte nicht seinen Rand halten und verpfiff doch tatsächlich Marie bei Herrn Schwarz. Mir fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf - und nicht nur mir. Die halbe Klasse

starrte ungläubig Marie an. Ich konnte dem Priester seine Unschlüssigkeit, wie er nun weiter verfahren sollte, ansehen. War doch allgemein bekannt, wie großzügig Maries Eltern diese Schule finanziell unterstützten. An diesem Tag sah ich Marie das letzte Mal.

Marie

Ständig wurde ich in diese albernen Kleider gesteckt und hatte süß und höflich zu sein. Wie ich das hasste. Meine Mutter war stets darauf bedacht mich zu korrigieren. In ihren Augen war ich eine Strafe Gottes. Meine Strafe hingegen kam einmal in der Woche in Form von Herrn Vogt zu uns. Er sollte mich lehren das Fagott zu spielen. Missmutig saß ich an diesen Tagen im Speisezimmer und spielte lustlos die gewünschten Stücke. Der Herr Musiklehrer schritt dann immer hinter mir auf und ab, während meine Mutter schweigend am Tisch saß und ihren Tee

aus dem feinen Porzellan trank. Oft genug trafen mich dabei ihre missbilligenden Blicke. In diesen Momenten wünschte ich mir häufig, die Durchreiche würde sich wie ein riesiges Maul öffnen und die Frau Mama einfach verschlingen. Der Umzug und die neue Schule waren mein Glück. Gleich am ersten Tag lernte ich Kuno kennen. Der große, etwas schmuddelige Junge mit dem feuerroten Haar war mein Ticket in die Freiheit. Ich freundete mich mit ihm an, denn so konnte ich endlich allen möglichen Unfug anstellen und niemand kam auf die Idee, die süße Marie dafür zu belangen. Der Junge hatte ein gutes Herz und tat mir fast schon

Leid. Irgendwie mochte ich ihn. Diesen Morgen ging die Sonne blutrot auf. Zusammen mit Kuno und den anderen Kindern betrat ich das Klassenzimmer. An der Tafel prangte mein gestriges Kunstwerk. Stolz betrachtete ich die Details. Ja, zeichnen, das konnte ich ganz gut. Natürlich war Herr Schwarz erzürnt und Kuno sofort im Verdacht. Wieder einmal war ich davon gekommen, dachte ich und atmete erleichtert auf. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Das wurde mir bewusst, als ich Heinrichs Stimme hörte. Aber was sollte das schon für Konsequenzen haben? Der Priester würde mich wohl kaum bestrafen, geschweige denn zuhause

verpfeifen. Schließlich steckte einiges vom Vermögen meiner Eltern in diesem Gemäuer von Schule. Zuhause in meinem Zimmer war ich erleichtert und froh, dass neben mir auch Kuno dieses Mal ungeschoren davon gekommen war. Während meine Mutter versuchte, ihre Schönheit mit einer neumodischen Fangopackung zu konservieren, läutete die Türglocke. Ich eilte zu meinem Fenster und erblickte den Pfarrer. Einen Moment lang blieb mein Herz vor Schreck stehen. Er unterhielt sich mit meinem Vater und ihren Bewegungen nach zu urteilen, war es wohl ein hitziges Gespräch. Mir wurde ganz mulmig. Mein ungutes Gefühl

bestätigte sich kurze Zeit später beim Abendessen. Mutter schwieg, starrte mich aber mit einem enttäuschten Blick an. Vater richtete das Wort an mich, was noch nicht sehr oft vorgekommen ist. Normalerweise nahm er mich die meiste Zeit in Schutz und verzieh mir allerhand Unfug. Dieses Mal jedoch, sagte er, wäre ich zu weit gegangen. So ein unzüchtiges Verhalten gehöre nicht in diese Familie. Am folgenden Tag erwartete mich eine Oberin im Speisezimmer. Dies war der letzte Tag in meinem Elternhaus.

Kuno

Einige Wochen nach dem Vorfall in der Schule ging das Gerücht um, aus der Familie Jung sei jemand verstorben, eine junge Frau. Marie? Ihre Schwester Hilde? Ich konnte es nicht glauben. Ich musste es mit eigenen Augen sehen und so schlich ich mich am Tag des Begräbnisses zum Friedhof. Der Himmel war tiefgrau und feiner Nieselregen benetzte die Trauerschar. Von meinem Versteck aus, sah ich die Familie, Maries Familie. Ihre Eltern, die nicht besonders traurig wirkten und ihre, in Tränen aufgelöste, Schwester. Es war sonderbar still.

Die Sargträger diskutierten gedämpft mit dem Totengräber. Das Holz sei ungewöhnlich leicht zu tragen gewesen. Der Pfarrer winkte ungehalten mit der Hand: Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg – er war leer. © MR 29.01.2021

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Hörbuch

Über den Autor

matzetino
Ich bin Martina, Jahrgang '83 und habe eine Tochter.
Ich lebe in einem kleinen Dorf in Niedersachsen.
Das Schreiben ist für mich ein Ventil meiner Gefühle. In jedem Gedicht steckt also auch ein kleines Stückchen meiner Seele. Die erotischen Kurzgeschichten sind allerdings allesamt reine Fiktion.

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Friedemann 
Liebe Mari,
ein sehr interessant und spannend verfasster Beitrag, der wie auch andere Beiträge das Rätsel des leeren Sargs nicht verrät. Das üble Verhalten ihrer Eltern lässt hier allerdings daraus schließen, dass sie Marie vielleicht anderweitig verschwinden ließen (evtl. durch die Durchreiche, durch die Marie gerne ihre böse Mutter hätte verschwinden lassen?) ;-)

Liebe Grüße,
Friedemann
Vor langer Zeit - Antworten
matzetino Lieber Friedmann,
die bösen Eltern schickten sie mit der Oberin ins Kloster und wollten ihre Tochter lieber Tot sehen ;-)

Liebe Grüße
Mari
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Zwei Sichtweisen - ein Gefühl, das vereint. Sehr schön!
Chronologisch gut aufgebaut, flüssig erzählt.
Gefällt mir sehr!
LG
Kara

Vor langer Zeit - Antworten
matzetino Vielen Dank Kara. Schön wenn es gefällt.

Liebe Grüße
Mari
Vor langer Zeit - Antworten
cassandra2010 Liebe Juryschwester,

schöne Umsetzung der Vorgaben ( ich habe in meiner Geschichte die Durchreiche weggelassen, gibt ja keine Strafpunkte für Jurybeiträge, newa?); die verschiedenen Perspektiven sind ein guter Einfall!

LG
Cassy
Vor langer Zeit - Antworten
matzetino Doch klar, die neue Jury merkt sich das und bringt es dann in Abzug *zwinker*.
Vielen Dank für die Blumen liebe Cassy. Bin schon gespannt auf deinen Beitrag.

Liebe Grüße
Mari
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Ich hatte es auch in der vorherigen Endversion schon gelesen ... Jetzt ist es schlüssig, absolut perfekt.
Lieben Gruß
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
matzetino Vielen Dank fleur. *rotwerd*

Liebe Grüße
Mari
Vor langer Zeit - Antworten
Uliliac 
Liebe Mari,
ja, die verschiedenen Sichtweisen sind auch bei mir sehr schön angekommen, nach Maries Geschichte sogar sehr erklärend und spannend. Auch den letzten Teil als gekonnte Inszenierung finde ich schon ziemlich perfekt ergänzt... und dann verstehe ich auch Andyhanks Frage gut... unklar ist mir tatsächlich nur der allerletzte Satz, als wäre er ein wenig früh gekommen, vielleicht nur einen Satz zu früh... einen kleinen Hinweis an den Totengräber zu früh... und der macht mich jetzt schon sehr neugierig!
Ganz tolle Geschichte, klasse erzählt, ich mochte kein Wort überlesen...!

Liebe Grüße von Uli
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matzetino Lieber Uli,
vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar und auch deinen Hinweis. Ich habe Andys Tipp gerne angenommen und bereits eingearbeitet.

Liebe Grüße
Mari
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