NACHTASYL
Neon - Geflimmer über den Köpfen. Lärmende Menschen, bereit zum Feiern. Was das Zeug hält, diese Nacht soll Legende werden. Eine Erinnerung für ´s Leben, komme was da wolle. Und Kurti, der einsame Nachtwandler mitten unter ihnen, immer auf der Suche nach noch unbekannten Gefilden, unentdeckten Ufern. Er hält sich am Rand der Masse.
Sein Salzstangendünner Körper gleitet abseits dahin. Fast ungehindert.
Bis ein Trupp uniformierter Heilsarmisten aus den Schatten springt und ihm den Weg versperrt. Sie sortieren sich, nehmen Aufstellung, stimmen unvermittelt ein Lied an. Keine schönen Stimmen, aber laut. Inbrünstig. Sie singen von Mitgefühl, Erbarmen und Erlösung! Herzerwärmend. Kurti muss ihnen zuhören. Wie alle anderen auch, die grölend vorbeischlendern.
Ein besoffener Witzbold mit jugendlicher Pickelvisage bleibt stehen, baut sich vor dem Trupp auf und fängt mit dümmlich arrogantem Grinsen an den Dirigenten zu mimen. Die Heiligen Sänger gucken
verärgert. Ein breiter Obdachloser mit filzigem Bart stürzt aus der Menge, verpasst dem dämlichen Spaßvogel eine knackige Kopfnuss. Der Dirigent fällt schwer auf ´s schmierige Pflaster. Sänger und Penner nicken sich zu.
Kurti windet sich vorbei. Geht weiter. Immer die Straße runter. Passanten verlaufen sich, bleiben in den Kneipen hängen, werden sichtbar weniger. Auch die Lichter verblassen. Kein Neon - Himmel mehr. Düstere Ecken. Hier und da. Kurti nimmt die Seitenstraßen, die richtig finsteren. Ganoven - Gegend. Stricher - Schatten.
Vorbei an einem eingezäunten Kinderspielplatz. Gestrandete Fixer
bevölkern die Bänke. Trockener Husten im Gepäck. Fette Ratten huschen über ihre dürren Knöchel. Bunte Glassplitter im Staub. Scheißhaufen verwelken in der Sandkiste. Papierfetzen, Plastikmüll stapelt sich in den Ecken. Ein trostloser Puppenarm hängt im Maschendraht. Kinder waren seit Jahren nicht mehr hier. Kurti schleicht unbemerkt vorbei. Muss noch weiter gehen, hinaus in die Nacht. Dahin wo sie am dunkelsten ist. Man ist noch nicht am Ende.
Eine Häuserzeile wächst aus der Finsternis. Alte Häuser. Uralt. Richtige Bruchbuden. Halbe Ruinen. Ohne Strom, Wasser, Elektrizität. Trotzdem noch bewohnt, bevölkert. Auch die Ärmsten
der Armen aus aller Herren Länder mögen Dächer über ihren Köpfen. Einen Unterschlupf. Einen Hauch trügerischer Sicherheit. Kurti schnuppert, hebt die Nase in den Wind. Exotische Düfte umfangen ihn. Nelken, Kardamom, Kreuzkümmel.
Da ist ein schmaler Durchgang zwischen den Buden. Ein Katzenweg. Breit genug für einen Bierkasten.
Kurti schlüpft hindurch.
Und landet in einem Hinterhof voller kleiner Wunder. Sauber gestutzter Rasen, Blumenbeete, Obstbäume voller Früchte. Kräuter. Blühende Sträucher, dichte Hecken. Rechts eine Pfütze, ein richtiger kleiner Teich. Wahrlich, ein idyllisches
Paradies. Er hatte von diesem Ort gehört. Nur ein Gerücht in einer bezechten Nacht.
Links dann eine Bude, eine Kneipe, getarnt als Laube. Ein Holzverschlag ohne Fenster. Ein Schild über der Tür: „Zum letzten Becher“. Kurti tritt ein. Drinnen noch mehr Holz, roh behauen, kaum Licht. Nur eine trübe Funzel spendet einen Hauch Helligkeit. Einige stille Trinker hocken an den wenigen Tischen. Stummes Treiben. Am Rande der Beleuchtung ein Tresen, ein Mann dahinter. Ein alter Mann, blass wie ein Blatt Papier. Die Adern unter seiner Haut äußerst sichtbar. Auch bei diesem lausigen Licht. Einen feinen Anzug trägt
der Herr, fast wie ein Bestatter. Ein Totengräber. Genau so schaut er auch. Kurti geht zu ihm hin, beguckt sich diesen drolligen Kauz aus der Nähe. Er wirkt alt, hat aber blitzende junge Augen. Hat den Kurti im Blick. Wachsam. Argwöhnisch, doch durchaus interessiert. Aufmerksam.
„Bier bitte.“ Verlangt der Kurti.
Der Totenmann fummelt unter seiner Theke. Seine schmale, sehnige Hand erscheint mit einer Falsche. Stellt sie vor ihn hin.
„Und n Schnaps dazu.“
Die Hand verschwindet erneut. Erscheint kurze Zeit später mit einem Glas , gefüllt mit etwas das der Kurti noch nie gesehen
hat.
„Was ist das?“ Will er wissen.
„Vergissmeinnicht! Der Beste auf dem Markt!“
Kurti betrachtet die Flüssigkeit. Komisches Gebräu, denkt er. Dickflüssig glänzend. Fast wie flüssiges Silber. Es riecht schwach nach Schwefel. Er probiert einen kleinen Schluck. Es brennt. Feuer in seiner Kehle!
„Verdammt!“ Guter Stoff, muss er feststellen.
„Ich weiß.“
Der scharfe Schnaps entfaltet seine Wirkung. Steigt ihm in den Kopf.
Komisch fühlt er sich. Seltsam losgelöst, wie unsichtbar. Er selbst sieht klar: Den Raum, die Menschen, die Dinge dahinter...!
Alt und verschlissen ist alles: Die Bude: Baufällig, abgewirtschaftet, windschief, abgetakelt, vollkommen marode. Genau so die stummen Trinker: Uralt, verschlissen, verbraucht, überflüssig. Gestrandet sind sie hier. Rostende Wracks die auf einem einsamen Strand auf ihr Ende warten. Ein hoffnungsloses Warten. Stumm und ergeben. Unerbittlich.
Kurti schaut und versteht. Diese Männer brauchen keine Unterhaltung mehr, keine Samstagabend - Party. Keine dröhnende
Musik, keine bunten Cocktails mit drolligem Gemüse, kein Tanz und kein pfiffiger Flirt wird sie aus ihrer Agonie holen. Diese Männer warten nur noch auf ihre Erlösung aus einem Dasein voller Leid, Schmerz, Enttäuschungen und Demütigung.
Kurti trinkt sein Bier aus. Legt einen Geldschein auf den Tresen. Der Totenmann greift danach, lässt ihn in einer Falte seines Anzugs verschwinden.
„Noch einen Drink?“ Fragt er.
„Auf keinen Fall!“ Kurti wendet sich zum gehen. Fühlt sich noch so gar nicht bereit zum bleiben.
„Sie werden wiederkommen!“ Sagt der
Totenmann. „Mit Sicherheit! Sie wissen es. Ich weiß es!“
Ein Augenzwinkern begleitet ihn zur Tür.
Kurti weiß Bescheid!
Text: harryaltona (2020)
Cover: Pixabay