Kurzgeschichte
Generationen

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"Generationen "
Veröffentlicht am 17. Januar 2020, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin 22 Jahre und schreibe gerne Geschichten. Am liebsten Kurzgeschichten. Meine Lieblingsthemen sind dabei Schicksalsschläge, Hoffnungen oder Geschichten die auf eine wahre Begebenheit beruhen. Ich arbeite gerne und viel mit älteren Menschen zusammen und lausche gerne ihre Geschichten. Einige Mal schreibe ich sie auf, damit die Erinnerungen und Gefühle von damals nicht verloren gehen.
Generationen

Generationen

Ich erinnere mich noch an das schreckliche Gefühl, als unser ganzes Hab und Gut in einen LKW geschoben worden ist und ich schluchzend in den Armen meiner Mutter lag. Es hat mich innerlich zerissen, als die Nachbarskinder winkend in der Auffahrt standen. Es war so viel mehr, als nur ein Abschied. Es war der Beginn von etwas ganz Neuem. Etwas von dem ich mir wünschte, es würde nicht passieren. Jedenfalls nicht mir. Wie in einem Daumenkino, dass meine damalige beste Freundin Anne immer malte, zogen die Landschaften an mir vorbei. Raus aus der Stadt, weg von all dem Bekannten und hinein in ein neues

Leben. Die gesamte vierstündige Fahrt sprach ich kein Wort, sondern verfolgte die Regentropfen die sich auf den Scheiben sammelten und gemeinsam in einem kleinem Rinnsal um die Wette flossen. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, welch ein Ausmaß Entscheidungen mit sich ziehen können. Ich war ein sehr launisches Kind; sagte was mir auf der Zunge lag, ohne zu wissen was es auslösen könnte. Oft habe ich meine Mutter dafür verflucht, mich aus meinem gewohnten Umfeld gerissen zu haben, vier Stunden weit entfernt von meinen Freunden – und meinem Vater.

Sie sagte mir immer mit einem traurigen Ton, dass es besser so für uns sei. Natürlich verstand ich in dem Alter nicht, dass meine Mutter mich beschützen wollte. Vor der Wahrheit und vielleicht auch vor meinem Vater. Das Vorbild eines jeden Kindes, sind zunächst die eigenen Eltern. Und auch mein Vater war für mich der Inbegriff eines jeden Superheldens. Ich wusste, dass er nicht immer sehr umgänglich zu anderen Leuten war und auch sehr laut wurde. Aber trotzdem hasste ich meine Mutter dafür, dass sie mich ihm entrissen hatte. Und all die Jahre ließ sie mich sie hassen, denn sie erzählte mir, sie hätte

ihn verlassen weil sie ihn nicht mehr lieben würde. Erst sehr viel später verstand ich, welch eine bemerkenswerte und starke Frau sie war und welch eine Bürde sie auf sich nahm, nur damit ich meinen „Superhelden“ nicht verurteilen und hassen würde. Denn erst nachdem ich volljährig wurde, beichtete sie mir, dass sie in einer Nacht und Nebel Aktion unsere Wohnung verlassen musste, weil mein Vater sie unterdrückte und es auch vor kam, dass er sie schlug. Nachdem es eines Morgens als ich in der Schule war eskalierte und die Nachbarn die Polizei riefen, wurde ein Kontaktverbot ausgesprochen und meiner Mutter

empfohlen, mit mir die Stadt zu verlassen. Vorallem in den ersten Jahren, nachdem wir zu meinen Großeltern aufs Land gezogen waren, entfernten wir uns immer mehr voneinander. Neben meinem Vater, waren auch wir beide zuvor ein Herz und eine Seele gewesen. Ich vertraute ihr alles an und liebte sie abgöttisch. Von meinem Vater hörte ich in all der Zeit nichts. Nicht nur meine Mutter und ich führten ein neues Leben. Auch für meinen Vater begannen neue Kapitel und wir gehörten nur noch der Vergangenheit an. Und auch diesen Frust ließ ich an meiner Mutter aus. Schließlich war sie in meinen Augen Schuld an allem. Und

mein Vater und ich lediglich die Opfer ihrer Entscheidungen. Meine Großeltern kannte ich zunächst nur von alten Bildern und Geschichten. Mit Großmutter hatte ich auch das ein oder andere Mal telefoniert. Aber sie schienen nie das große Bedürfnis gehabt zu haben, mich persönlich kennenzulernen, denn Besuchen taten sie uns zuvor nie. Meine Mutter erzählte immer, dass ihr Vater nicht so gerne reisen würde und immerhin musste er sich um die Tiere und den Hof kümmern. Einige Jahre besänftigte mich die Aussage mit den Tieren; bis zu jenem Tag als mir lediglich ein humpelnder alter Schäferhund entgegen lief.

Meine Großmutter schien sehr nett und lebensfroh zu sein, denn obwohl ich so mürrisch und auch unfair zu ihr war, versuchte sie mir jeden Tag ein Lächeln abzugewinnen. Mein Großvater allerdings schien genauso wenig Interesse daran zu haben, mich kennenzulernen, wie ich zu dem Zeitpunkt. Ich glaubte schon lange nicht mehr, an der Ausrede dass er nicht gerne reisen würde und schon gar nicht, dass er sich um den Hof und die Tiere kümmern müsse. Einmal zwang mich meine Mutter dazu, mit ihm zu reden und ich erzählte ihm während des Abendbrots von meinen

alten Freunden und der Fußballmannschaft der ich angehörte. Einen kurzen Moment schien es, als würde er sich interessieren, denn er hörte aufmerksam zu, ohne mich zu Unterbrechen, wie es mein Vater immer getan hatte. Aber als ich dann fertig war, starrte er mich nur mit leeren Blick an und biss in sein Butterbrot. Danach unternahm ich auch keinen weiteren Versuch mehr mich mit ihm zu unterhalten, auch wenn meine Mutter mir erzählte, dass er noch nie sehr viel Sprach. Die nächsten Monate sulte ich mich in Selbstmitleid, vorallem als irgendwann die Anrufe meiner alten Freunde

nachließen und sie sich immer öfter Ausreden einfallen ließen. Und so saß ich Tagein und Tagaus auf der alten Schaukel meiner Mutter und zog mich immer mehr zurück. Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich gedankenverloren unter der alten Linde saß und an meinen Vater dachte. Er fände es hier genauso schrecklich wie ich. Oft betonte er, wie langweilig das Leben auf dem Land wäre und er verstehen konnte, als meine Mutter damals in die Großstadt zog, um dort zu studieren. Und als sie heirateten stand es für beide niemals zur Debatte wieder auf das Land zu ziehen. Zu dieser Zeit wuchsen die Kornblumen und viele verschiedene Insekten saßen

auf ihnen. Ein kleiner blauer Schmetterlinge setzte sich auf mein Knie und es schien als wollte er mir etwas sagen. Er blieb eine Weile dort, bis er sich wieder aufmachte. Ich weiß nicht mehr weshalb ich ihm gefolgt bin, aber heute denke ich, dass es so sein sollte. Der kleine Kerl flog nämlich in den anliegenden Wald, in dem mein Großvater wie jeden dritten Tag das Holz schlug. Ich versteckte mich hinter einem Baum, als ich beobachten konnte, wie der Schmetterling sich auf den Baumstamm setzte, den Großvater schlagen wollte. „ Ein Polymmatus bellargus, was ein schöner Anblick. Was treibt dich denn so weit in den dunklen

Wald?“. Auch wenn mich und meinen Großvater einige Entfernung trennte, konnte ich seine Freude an diesem kleinen blauen Wesen erkennen. Er musterte den Schmetterling aus kurzer Distanz und murmelte etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Also beschloss ich, leise etwas weiter zu ihm zu gehen, um mitzubekommen, was anscheinend so Interessant war. Als ich dann aber auf einen Ast trat, drehte sich mein Großvater erschrocken um und blickte mich eine Weile erstaunt an, als wüsste er nicht was er nun tun solle. „Komm, Leo. Sieh dir diesen bemerkenswerten Burschen an“, sprach er leise und konzentrierte sich wieder

vollkommen auf den Schmetterling. Also trat ich näher und mein Großvater fing an zu erzählen. So vergingen Monate, in denen ich Tag für Tag eine stärkere Bindung zu meinem Großvater aufbaute. Nachdem ich ihm zum ersten Mal im Wald mit einem Schmetterling beobachtet hatte, erzählte er mir sein gesamte Wissen über diese Insektenart. Aus dem alten Kinderzimmer meiner Mutter, hatte er eine Art Ausstellung der verschiedensten Schmetterlingsarten gemacht. Und ich musste zugeben, auch mich zog er mit diesem außergewöhnlichen Hobby und der Leidenschaft in den Bann. Natürlich blieb er für mich weiterhin ein

Mysterium. Wenn wir abends zusammen zu Abendbrot aßen, unterhielten wir uns alle über den Tag. Nur mein Großvater schwieg. Zwar schien es, als würde er interessiert zuhören und all das Gesprochen aufsaugen, aber selber nahm er nur auf direkter Nachfrage am Gespräch teil. Jedenfalls mit kurzen und knappen Sätzen. Ich gewöhnte mich daran und erzählte meinen neuen Freunden, dass jedes Wort welches er sprach kosten würde. Aber auch sonst war er anders als die anderen Großväter. Jeden morgen aß er das selbe Frühstück, er ging immer zur selben Zeit ins Bett, lief immer die selbe Runde mit dem Hund, achtete penibel darauf wo die

Gegenstände in seinem Insekten Zimmer standen und erledigte immer die selben Aufgaben an bestimmten Wochentagen. Und Besuch empfing er nie. Wenn dann doch jemand bei uns war, verkroch er sich in den Wald oder seinem Hobby Zimmer. Aber die Interesse zu den Insekten verband uns. Die Jahre vergingen und jeden Tag liefen wir durch den Wald und ich plapperte drauf los und erzählte von meinen Noten und anderen Sachen. Großvater hörte stillschweigend und geduldig zu. Auf der Hälfte der Strecke wusste ich nichts mehr und sagte den Zaubersatz „Erzähl mir etwas Neues“, und Großvater begann zu erzählen. Und

tatsächlich erfuhr ich jeden einzelnden Tag etwas Neues über die Welt der Schmetterlinge kennen. Es wurde für uns zu einer Art Spiel, welches er mit scheinbar viel Freude und Interesse mitspielte. Und was soll ich sagen, jetzt zwanzig Jahre später erinnert mich jeder Tag an meinen Großvater, auch wenn er schon vor einigen Jahren starb. Und das, wenn ich meinen Sohn anschaue. Mein kleiner Theo, teilt sich nicht nur den Namen mit meinem Großvater, sondern weißt ähnliche Charakterzüge und Gewohnheiten auf, wie er es zu seiner Zeit tat. Zunächst mied er den Kontakt zu anderen Kindern, blieb lieber für sich

und las schon in der zweiten Klasse Wissenschaftsmagazine und Bücher für Erwachsene. Zwar sind seine Interessen weiter gefächert, als die meines Großvaters, doch trotzdem konnte ich das Feuer auch für Schmetterlinge in ihm entfachen. Und so sitzen wir häufig unter der alten Linde, unter welcher auch ich als kleiner Junge saß. „Erzähl mir etwas Neues“, flüstert mein Sohn dann jedes Mal. Und Dank meines Großvaters kann ich ihm immer etwas nennen. Ohne ihn, wüsste ich wahrscheinlich nicht, wie ich mit meinem an dem „Asperger Syndrom“ Erkrankten Jungen umgehen sollte. Durch das Zusammenleben mit meinem Großvater und einigen weiteren

Schulungen durch Experten habe ich aber nun gelernt, wie ich mit meinem Sohn umgehen sollte, um ihn nicht zu verwirren oder in eine unangenehme Situation zu bringen. So unterlassen meine Frau und ich in seiner Gegenwart die Doppeldeutigkeit von Gesagtem. Und haben unsere Körpersprache und die Gesichtsausdrücke angepasst. Erst jetzt finde ich immer mehr Parallelen und verstehe, weshalb mein Großvater wenig mit anderen interagierte. Zu seiner Zeit gab es diese Diagnose nicht und er wurde von vielen Leuten aus dem Dorf als verrückt oder auch mürrisch bezeichnet. Aber nun weiß ich, dass es ihm anscheinend schwer fiel,

unsere oft Doppeldeutige Sprache zu verstehen. Und dies auch einer der Gründe war, weshalb er sich außerhalb unserer kleinen Familie mit niemanden unterhielt. Meine Großmutter und auch meine Mutter erfuhren, erst mit der Diagnose meines Sohnes von dieser Art der Erkrankung. Unbewusst sind sie all die Jahre so mit ihm Umgegangen, wie man es heutzutage in den Schulungen gesagt bekommt. Sie haben meinen Großvater so genommen wie er ist, die Eigenheiten niemals hinterfragt oder ihn dafür kritisiert. Aus Liebe. Und mit diesem Wissen lehne ich mich an der alten Linde zurück und erzähle

meinem Sohn von meiner ersten Begegnung mit einem Schmetterling.

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queenmelino
Ich bin 22 Jahre und schreibe gerne Geschichten. Am liebsten Kurzgeschichten. Meine Lieblingsthemen sind dabei Schicksalsschläge, Hoffnungen oder Geschichten die auf eine wahre Begebenheit beruhen.
Ich arbeite gerne und viel mit älteren Menschen zusammen und lausche gerne ihre Geschichten. Einige Mal schreibe ich sie auf, damit die Erinnerungen und Gefühle von damals nicht verloren gehen.

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KaraList Eine sehr gut erzählte Geschichte. Glaubwürdig aus der Sicht des Kindes und nachvollziehbar aus der Sicht des Erwachsenen geschrieben.
Gefällt mir gut, Queen Melino. :-)
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Was für eine toll erzählte, fesselnde Geschichte! Ich bin beeindruckt.
LG
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Deine Geschichte geht zu Herzen!
LG fleur
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