Bleistift
Das papierne Gefängnis
phantastische Erzählung
Stell dir vor, jemand sperrt dich ohne Vorwarnung in ein enges dunkles Verlies. Ohne Begründung und ohne die Chance auf eine spätere Freilassung... Im Gegenteil, jedermann der für deine Freiheit streitet, opfert früher oder später dabei sein Leben, ohne allerdings jemals sein Ziel wirklich erreicht zu haben... Während dein Leben zu jeder Zeit immer nur an einem seidenen Faden hängt...
Kapitel 1 Das alte Antiquariat…
Während der Regen an diesem trüben Dezembertag vom Himmel rauschte, drückte ich mich noch ein wenig tiefer in die Ecke des Hauseingangs, um einigermaßen trocken zu bleiben. Als Privatdetektiv war ich es gewohnt, unter den widrigsten Bedingungen stundenlang auf jemanden warten zu müssen. Aber meine Auftragslage war so kurz vor Weihnachten nicht gerade optimal und so stand ich hier mehr in eigener Sache vor der Tür des immer
noch verschlossenen Antiquariates. Verdammt, dachte ich, wenn dieser Laden hier nicht bald öffnet, werde ich sicher noch komplett einregnen und womöglich sogar durchweichen. Ewig würde ich hier jedenfalls nicht warten wollen und beschloss dem Buchhändler noch zehn Minuten Karenzzeit zu gewähren, dann wäre ich weg. Aber irgendetwas Magisches hielt mich jedoch vor dieser Tür und ich konnte nicht einmal sagen was genau es war, oder warum ich diesem unbekannten Zwang nachgab. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass das Antiquariat schon vor zwanzig Minuten hätte öffnen müssen, wenn man dem alten, emaillierten Schild mit den Öffnungszeiten an der Ladentür Glauben schenken wollte. Ein
paar Minuten wollte ich noch ausharren, obwohl das allseits bekannte akademische Viertelstündchen bereits mehr als um war. Aber was nimmt man nicht alles in Kauf, wenn man wie ich, ein passionierter Schachspieler ist. Dieses altehrwürdige Antiquariat verkaufte unter anderem, uralte Schachbücher und ich würde mir gern wieder einmal ein paar von diesen historischen Partien anschauen, die so exzellent, wie genial von den alten Meistern dieser Kunst gespielt worden sind. Viel zu langsam verging die Zeit und nun war ich doch beinahe schon entschlossen zu gehen, weil mir der kalte Regen schon in den Kragen meiner durchnässten Lederjacke lief. In diesem Augenblick bog ein kleiner,
grauhaariger Mann in einem langen, schwarzen Wintermantel um die Ecke. In der Hand schwenkte er einen schwarz-grau, karierten Regenschirm, der auch schon einmal bessere Tage gesehen hatte.
»Junger Mann, warten Sie auf mich?«, fragte er in meine Richtung, als er mich bemerkte und fingerte dabei geräuschvoll ein großes Schlüsselbund aus seiner Tasche.
»Nee, ganz bestimmt nicht«, antwortete ich leicht verärgert aus dem Halbdunkel des Hauseingangs heraus, »ich warte hier nur auf Alice Schwarzer, mit der ich mich hier zu einem heißen Rendezvous verabredet hatte, aber so viel Whisky, um sie mir wenigstens in Gedanken vorher ein bisschen schön zu saufen, gab es leider nicht...«
Der Alte grinste breit. »Bitte entschuldigen Sie mein heutiges Zuspätkommen, aber die U-Bahn fährt im Moment nicht, es soll sich wieder einmal jemand vor den Zug geworfen haben und so war ich gezwungen, den Bus zu nehmen. Nun ja, in der Weihnachtszeit da soll das ja öfter vorkommen. Allmächtiger, die Leute kommen aber auch auf Ideen, die sollten zuhause lieber mal ein gutes Buch zur Hand nehmen und was Gescheites lesen, dann würden sie in ihrem eigenen Leben bestimmt auch besser zurechtkommen und nicht so einsam sein«, meinte er kopfschüttelnd. Inzwischen hatte er die Ladentür geöffnet und langte mit der Hand ins Halbdunkle, um das Deckenlicht einzuschalten. Träge flammten die in zwei
Reihen aufgehängten Leuchtstofflampen an der Decke auf und erhellten den kleinen Verkaufsraum dieses urigen Antiquariates. Durch die Schaufensterscheiben fiel das gelbliche Licht nach draußen auf die in der Nässe glänzenden Pflastersteine. Der Buchhändler klappte seinen alten Regenschirm zusammen und betrat den Verkaufsraum. Die drei messingfarbenen Türglocken schellten lautstark, als er die Eingangstür noch ein Stückchen weiter geöffnet hatte. »So kommen Sie doch schon herein, junger Mann, sonst weichen Sie mir ja noch völlig durch. Ich werde nur rasch meinen Mantel zum Trocknen aufhängen und dann stehe ich Ihnen sofort zur Verfügung. Sie können sich ja
in der Zwischenzeit schon mal etwas umsehen«, bedeutete mir der Alte und verwies mich auf die vielen, frei im Raum stehenden hölzernen Bücherregale.
Die doppelflammige Leuchtstofflampe über dem altertümlichen Ladentisch kämpfte offensichtlich immer noch unentschlossen mit der Entscheidung, ob sie dem Hausherren noch einmal ihr Dauerlicht spenden sollte. Ein paar Mal klimperte der Starter die Lampe noch an, doch dann blieb sie plötzlich eingeschaltet und verteilte ihr müdes und mittlerweile funzliggelb gewordenes Licht über den Verkaufstresen. Die metallisch schimmernden, schwarzen Flecken an den Enden der Leuchtstoffröhren verrieten nur allzu deutlich ihr abgelaufenes Lebensalter.
»Ja, ja«, beklagte sich der Alte erneut, »ein paar von den Lampen müssten auch wieder einmal erneuert werden, aber wer kann sich denn das heutzutage noch leisten. Der kleine Laden hier wirft es nicht mehr ab. Ach wissen Sie, junger Mann, ich hab' manchmal den Eindruck, dass so alles langsam aber sicher, irgendwie den Bach hinunter geht. Sehen Sie das denn nicht auch so?« Ich hatte nach dem Alten nun ebenfalls seinen Verkaufsraum betreten und meine nasse Jacke aufgeknöpft. Die Regentropfen rannen an dem aufgeweichten Leder hinab und fielen auf den trockenen, abgetretenen Dielenboden. Überall roch es nach alten Büchern und dem Staub von Jahrzehnten. Meine Augen suchten inzwischen nur das
Regal mit der gebrauchten Schachliteratur. Dann bemerkte auch der alte Buchhändler mein spezielles Interesse,
»Ha‘ Schach«, meinte er, »auch noch so ein Überbleibsel aus der alten Zeit. Dieses edle und königlichste aller Spiele, das spielt doch heute auch kaum noch jemand. Außerdem muss ja heutzutage alles auf dem Computer, oder im Internet stattfinden. Virtuell natürlich. Kann man sich denn nicht wie früher, einfach einmal in aller Ruhe hinsetzten und eine interessante Partie Schach spielen. So richtig, mit schön gearbeiteten, hölzernen Figuren, auf einem anständig furnierten Schachbrett? Vielleicht sogar mit einem Glas edlen Cognac in der Hand? Vergebliche Liebesmüh. Nichts funktioniert mehr, wie es früher einmal war. Ich
sag‘s ja, es geht alles den Bach hinunter.«
Er winkte müde lächelnd ab. »Ja, junger Mann, schauen Sie sich nur in Ruhe um, vielleicht finden Sie ja doch noch etwas Brauchbares unter den Neuzugängen. Aber warten Sie, da fällt mir gerade ein, ich hatte doch neulich erst ein ziemlich altes Schachbüchlein angekauft. Verflixt noch mal, wo hab ich es denn nur hingetan?« Der Alte setzte eine winzige Lesebrille mit kleinen, halbkreisförmigen Gläsern auf und begann unter seinem Ladentisch zu kramen. Nach einer Weile kam er ächzend unter dem Verkaufstisch wieder hervor und hielt dennoch weise lächelnd ein blassblaues Büchlein im Postkartenformat in seiner Hand. »Gut, es sieht zwar nicht mehr ganz so fabelhaft aus,
wie es damals dereinst aus der Druckerei kam, aber dafür hat es ja auch schon reichlich über einhundert Jahre auf dem Buckel. Wie wär‘s denn damit, junger Mann? Ich hatte das Buch zwar für jemanden anders zurückgelegt, aber derjenige hat sich auch schon über vier Wochen lang, nicht mehr hier blicken lassen. Ich mach‘ Ihnen auch einen fairen Preis, sollten Sie sich dafür interessieren wollen.«
Da hatte der Alte es doch tatsächlich geschafft, meine Neugier zu wecken. Ich ging zurück zum Ladentisch und griff nach dem blass gewordenen, ehemals hellblauen Einband.
"Jean Dufresne, Schachmeisterpartien 1", stand auf dem Cover des Leineneinbandes.
Ich klappte das Büchlein auf und blätterte die
gelblich verblichenen, mit dem Alter schon leicht transparent gewordenen Seiten durch. Tatsächlich enthielt es dutzende penibel aufgezeichneter Schachpartien, die zwischen den Jahren 1887 und 1890 von renommierten Schachspielern jener Zeit gespielt worden sind. Na das war es doch, durchfuhr es mich wie elektrisiert. Nach genau so etwas hatte ich doch gesucht. Nur durfte ich es dem Alten natürlich nicht so offen zeigen, denn wenn der nämlich mein sprunghaft gestiegenes Interesse bemerkt hätte, bekäme dieses alte, abgegriffene Büchlein gewiss einen fantastischen Mondpreis und er würde mich garantiert über den Tisch ziehen damit. Also spielte ich ihm erst mal ein abwartendes, eher mäßiges Interesse vor und fragte recht
scheinheilig, was denn dieser 'Schinken' überhaupt kosten solle.
Der Alte taxierte mich nur den Bruchteil einer Sekunde lang über seine halbrunden Brillengläser hinweg, wackelte etwas mit dem Kopf und sagte dann vorsichtig abschätzend, »Nun ja, es ist schon ziemlich alt wissen Sie und mit Büchern ist es wie mit dem Wein, je älter sie werden, desto interessanter und wertvoller erscheinen sie uns mit der Zeit. Also ich würde Ihnen dieses Büchlein hier, sagen wir mal für fünfzehn Euro überlassen, als Freundschaftspreis sozusagen.« Ich lachte, »Netter Witz, guter Mann, das hier ist eine billige Phillip-Reclam-Taschenausgabe. Massenware. Vielleicht von 1900 und dieses
Dingelchen hat damals garantiert so um die neunzig Pfennig gekostet. Schon zu Kaisers Zeiten, ein äußerst volksverbundener Preis und da sprechen Sie mir heute bei fünfzehn harten Euronen von einem angemessenen Freundschaftspreis? Außerdem, schauen Sie sich den Schmöker doch mal richtig an. Hier, die Fettflecke, dort ist mal Kaffee drüber gelaufen und an dieser Stelle hat es sogar schon einmal mit dem Feuer Bekanntschaft geschlossen und dafür wollen Sie, dass ich Ihnen satte fünfzehn Euro berappen soll? Ich bitte Sie, das war doch wohl eher ein Scherz.« »Na wenn schon!«, ereiferte sich der Alte regelrecht. »Gerade das macht es ja erst so authentisch und berechtigt seinen Preis. So etwas kriegen Sie heute nämlich nicht mehr,
Sie werden sehen, es ist so wie ich sage und vor allem, glauben Sie mir, dieses Büchlein ist wirklich etwas ganz Besonderes.« Er legte den schmalen Band vor sich auf den Ladentisch und schaute mich erwartungsvoll an. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Na Sie können es sich ja noch überlegen, vielleicht finden Sie ja dort im Regal noch etwas anderes«, sagte er sichtlich enttäuscht und suchte urplötzlich nach Atem ringend, ganz schnell in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Als er es heraus hatte, tat er einen gewaltigen Nieser in das Tuch hinein und schnäuzte sich kräftig die Nase. »Sehen Sie, ich muss es sogar beniesen. Also überlegen Sie sich mein Angebot noch einmal in Ruhe«, meinte er mit tränendem Auge.
Ich griente. Plötzlich vernahm ich eine angenehme junge Frauenstimme mit einem unwahrscheinlich charmanten, französischen Akzent,
»Zögere nicht zu lange, für weniger als zehn Euro wird er es dir sicher nicht überlassen.«
Ich schaute ihn überrascht an,
»Sagten Sie eben etwas?« Der Alte hatte immer noch mit seiner Nase zu tun und bereits zum zweiten Male mit einem maskenhaft verzerrtem Gesicht, lautstark in sein Taschentuch gebrüllt. Er schüttelte zwischendurch seinen hochroten Kopf und man konnte das nächste Niesgewitter bereits schon vorausahnen, welches er erneut in sein riesiges Taschentuch ableiten würde. Und so kam es denn auch.
»Zur Gesundheit!«, brachte ich gerade noch rechtzeitig hervor, bevor er bereits die nächste Ladung Bazillen in sein kariertes Schnupftuch donnerte. Er nickte mir dankbar zu.
»Ja, das ist furchtbar bei diesem Wetter, es ist viel zu warm für diese Jahreszeit und dann der ewige Regen und der Wind. Kein Wunder wenn sich die Leute sogar an Weihnachten umbringen. Bei diesem Mistwetter muss man ja beinahe schon depressiv werden.«
»Gut«, konterte ich grinsend, »dann mach‘ ich Ihnen jetzt mal ein Angebot. Ich gebe Ihnen, sagen wir mal fünf Euro für Ihr fettiges, auch schon angegrilltes Büchlein da und obendrein wünsch‘ ich Ihnen sogar noch Frohe Weihnachten, gute Besserung und einen guten Rutsch, wie wäre es denn damit?«
»Zehn Euro, mein letztes Angebot und ich hebe Ihnen künftig solche Sahnestücke extra für Sie auf, wenn Sie mögen«, feilschte er stattdessen weiter mit mir.
Ich vernahm erneut ein süßes Frauenlachen, »Sahnestücke ist gut, nimm' es und du wirst es bestimmt nicht bereuen.« Wieder dieser angenehme französische Akzent, jener unsichtbaren Frau, mit dem stark erotischen Timbre in der Stimme. Ich stutzte und drehte mich herum. Aber außer mir und dem Alten, schien allerdings niemand sonst in dem alten Antiquariat zu sein. Langsam glaubte ich schon zu phantasieren. »Also, was ist nun, nehmen Sie das Buch für zehn Euro?« »Okay, Sie haben mich überredet«, sagte ich
nach kurzem Überlegen und zückte mein Portemonnaie. Er nickte sichtlich erleichtert. Ich legte einen Zehner auf den Ladentisch, den der Alte sogleich blitzartig wie ein Industriestaubsauger einzog. So schnell, wie das Geld vom Tisch verschwand, so schnell zauberte er auch einen winzig kleinen Bogen festen, goldbraun, glänzenden Packpapiers hervor und schlug das Büchlein recht kunstvoll darin ein. Zum Schluss riss er noch zwei Punkte Klebeband von der Rolle ab und befestigte damit auf der Rückseite, die zu gefalteten Spitzen umgeschlagenen Enden. »Ach und weil bald Weihnachten ist, gibt es noch einen passenden Aufkleber gratis drauf. Vielleicht wollen Sie ja das Buch an jemanden sehr Liebes verschenken«, meinte er
hintergründig schmunzelnd.
Mit einem hörbaren Ritsch, zog er die rückseitige Schutzfolie von dem bunten Aufkleber eines pausbäckig grinsenden Weihnachtsmanns ab. Dann pappte er das von einem flammenden Rot und einem mächtig adipösen Santa Claus mit langem, weißen Bart und runder Knollennase beherrschte Bild auf die Frontseite meines edel eingeschlagenen Buches. »Also dann, viel Spaß damit und frohe Weihnachten für Sie, junger Mann.«
Ich nickte, bedankte ich mich und steckte das Büchlein in die noch halbwegs trockene Innentasche meiner Jacke.
Mit hochgeschlagenem Kragen verließ ich bei weiter heftig strömenden Regen wieder das
Antiquariat. Auf dem Heimweg grübelte ich noch eine Weile über die sympathische Frauenstimme mit diesem süßen französischen Akzent nach und kam aber leider zu keinem schlüssigen Ergebnis. Wer weiß, mit welchem Taschenspielertrick der Alte mir da etwas vorgegaukelt hatte, womöglich war am Ende doch noch jemand in den hinteren Räumen. Ich würde es höchst wahrscheinlich wohl nie erfahren.
Vielleicht waren es aber auch nur ein paar Halluzinationen, jene sinnestäuschenden Vorboten, einer möglicherweise bereits im Anmarsch befindlichen Fiebergrippe...
***
Kapitel 2
Die Stimme der Französin...
Tage später, ich hatte kein Fieber bekommen und das Büchlein wegen der bevorstehenden Weihnachtsfeiertage beinahe schon wieder vergessen, doch dann fiel es mir plötzlich wieder ein. Ich hatte es eilig in das Schubfach meines Schreibtisches getan und holte es nun hervor, um mir endlich in aller Ruhe einige dieser interessanten Partien anzuschauen. Dieser pausbäckige Weihnachtsmann grinste mich nach wie vor aufdringlich von der goldbraunen Papierverpackung an. Ich riss das stabile Packpapier auf und schälte den
kostbaren, literarischen Schatz heraus. Mit
wachsenden Vergnügen blätterte ich sehr interessiert und hochkonzentriert in dem historischen Schachbüchlein, welches zweifellos aus dem Jahre 1901 stammte. Da, schon die zweite Partie war eine echte Sensation. Im Geiste sah ich sofort das hölzerne Schachbrett mit seinen vierundsechzig Feldern und der vorgegebenen Figurenbelegung vor mir. Weißer Bauer auf c4. Warum nur, dachte ich sofort, das ist doch totaler Schwachsinn. Kein Zweifel, aber aus meiner Sicht ein fataler Fehler, denn der dorthin gezogene Bauer hatte doch auf diesem Feld überhaupt keine Chance. Er würde zweifellos der nächsten Attacke des Gegners zum Opfer fallen. Was also blieb war
nichts weiter, als eine halsbrecherische Unverständlichkeit. Weiter, schwarzer Läufer auf… ? Ups. Keine Ahnung wohin der ging. Diese Information musste mir das Büchlein schuldig bleiben, denn an exakt jener Stelle der ohnehin schon hauchdünnen Buchseite gähnte ein kleines, punktförmiges, schwarzes Loch. Es sah aus, als hätte jemand mit einem Brennglas, ein schwarzes Löchlein in das Papier gebrannt. Aber so was von auf den Punkt genau, dass exakt nur diese eine betroffene Buchstaben-Zahlen-Kombination kreisförmig herausgebrannt worden war. So konnte man textlich leider nicht mehr nachvollziehen, wohin der schwarze Läufer tatsächlich gezogen hatte, noch zumal er ohnehin mehrere Zugmöglichkeiten hatte.
Das war ziemlich ärgerlich, denn wenn Schwarz seinen Läufer im Verlaufe dieses Spiels nicht mehr bewegte, verhielt sich diese Figur auf dem Schachbrett in der Tat, auch wie ein schwarzes Loch im Sternensystem. Man sieht es nicht, weiß aber, dass es mit tödlicher Sicherheit irgendwo da draußen auf einen lauert. Ich wollte gerade die exakte Gegenprobe machen, ob der schwarze Läufer nicht doch noch irgendwann während des Spieles wieder auftaucht, da hörte ich erneut eine sympathisch klingende, weibliche Stimme mit starkem französischen Akzent, »Die schwarze Läufer zieht im fünfzehnten Zug, auf das Feld d4..« Ich schreckte auf. Was war das denn jetzt? Das klang doch genau nach derselben
Frauenstimme, die ich doch schon im Antiquariat gehört hatte. Da war ich mir auf einmal einhundertprozentig sicher. Diese erotische Stimme hätte ich unter Dutzenden anderen zweifellos sofort wiedererkannt. »Wer ist da?«, rief ich etwas verunsichert. Keine Antwort. Nach einer Weile dann ein leises Kichern. Wieder eine Zeitlang tiefste Stille. »Wer zum Donnerwetter fährt mir hier laufend in die Parade?«, rief ich nun schon mehr ärgerlich als neugierig. Wieder ein leises Kichern, das ich nicht orten konnte. Ja, konnte man sich denn überhaupt selbst noch trauen, ohne gleich wahnsinnig zu werden? Ich wusste absolut nicht, was ich davon zu halten hatte und blätterte erneut durch das
schmale Büchlein mit den zweihundertfünf hauchdünnen und zart durchscheinenden Seiten. Diesmal aber erscholl ein ziemlich lautes weibliches Lachen, derselben Stimme. »So wirst du mich sicherlich niemals finden, mon cher...«, sagte die weiche Frauenstimme zärtlich und begann wieder herzlich zu lachen. »Wer bist du und wo bist du?«, rief ich diesmal laut ins Zimmer. »Oh, la la, das sind ja gleich zwei Fragen auf die einmal!«, kam diesmal sofort die prompte Antwort. Danach etwas zögerlicher, »Du wirst es mir so, oder so nicht glauben, wollen, aber ich bin tatsächlich nur eine kleine schwache Frau und zugleich aber auch die schwarze Dame aus dem schmalen Schachbuch, welches du jetzt besitzt. Ich
existiere für dich aber nur da drinnen und wann immer du dich für ein aufgeschriebenes Spiel aus diesem Buch interessierst, bin ich in jeder dieser Partien für dich von die Anfang bis zu die Ende immer mit dabei. Ich begleite dich auf dieser Reise in das Schachabenteuer des 19. Jahrhundert, von die erste bis zu die letzte Seite. Und wenn du mich am Ende noch magst, werde ich dich ganz bestimmt sogar noch etwas weiter begleiten, mon cher«, lachte sie hintergründig. Erst einmal war ich wie vom Donner gerührt und verstand nicht die Bohne von dem, was hier rings um mich herum passierte. Was war das denn? Ein Albtraum, oder eine göttliche Verheißung? Die Haare stiegen mir jedenfalls zu Berge, wenn ich an die erste bewusste
Wahrnehmung dieser unglaublich attraktiven Frauenstimme dachte. Ich schwankte immer wieder zwischen Neugier und Spannung, auf der einen und zwischen Zuneigung und Ablehnung, auf der anderen Seite. Mein inneres Gefühlsleben wechselte deshalb auch ständig zwischen zart bitter nach honigsüß und war geprägt von einer emotionalen Achterbahnfahrt mit dem typischen Schmetterlinge-im-Bauch-Gefühl, bis hin zu einer traumatisch, lethargischen Skepsis. Auch musste ich mich hin und wieder regelrecht zwingen, sehr viel ruhiger zu atmen, um nicht irgendwann einmal in ein unkontrolliertes Hyperventilieren zu verfallen, sobald ich wieder ihre erregende Stimme in meinem Kopf vernahm...
Dem soeben Erlebten stark misstrauend und einer plötzlichen Eingebung folgend, begann ich das Buch nach einer versteckten Elektronik abzusuchen, die manchmal in einer diesen trivialen Klappkarten aus Taiwan oder Hongkong integriert war. Diese Elektronik konnte, wenn auch ziemlich grauenhafte musikalische Töne von sich geben, klappte man die Karte auseinander. Warum also sollte da nicht auch eine zielgerichtete Auswahl von bestimmten Wortfetzten möglich sein. Irgendwo zwischen den Seiten dieses Buches musste sich dann ja mit Sicherheit ein solches Ding verbergen. Das wird sich doch feststellen lassen, dachte ich und ergriff erneut nach dem Büchlein. Nachdem ich es wiederholt Seite für Seite durchgeblättert hatte, stellte ich
enttäuscht und auch ein wenig frustriert fest, dass es so rein gar nichts mit jenen simplen Musikkarten gemein gehabt hatte. Alles wäre dann wenigstens erklärbar gewesen und dieser unheimliche Spuk hätte mit Sicherheit ein Ende gehabt. So war ich zwar einigermaßen ratlos, aber als ich dann erneut das überaus süße Lachen dieser Frau aus dem Buch vernahm, ließ es unweigerlich meinen Adrenalinspiegel schlagartig wieder heftig ansteigen. »Da ist nichts eingebaut, ma chérie. Du wirst nichts Derartiges finden, so glaub es mir doch einfach nur. Sei auch mit den zarten Papierseiten dieses Buches in die Zukunft bitte etwas vorsichtiger, denn wenn du auch nur eine davon beschädigst, oder gar
herausreißt, so würde das für mich in jedem Falle definitiv eine irreparablen Schaden für meine Gesundheit bedeuten«, erklärte mir die nun etwas besorgter klingende Frauenstimme.
Altermirano, dachte ich, was ist das denn. Ich hatte doch überhaupt nichts gesagt, kein einziges Sterbenswörtchen war mir über die Lippen gekommen. Ich hatte einfach nur so für mich selbst nachgedacht, als ich das Büchlein untersucht hatte. Ein fürchterlicher Schrecken durchfuhr mich nachträglich noch siedend heiß. Konnte sie etwa in meinen Gedanken lesen? Das war alles schon äußerst merkwürdig und ich hatte überhaupt keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte.
Gewiss kenne ich etliche Bücher, in denen
Frauen eine höchst wichtige Rolle spielen, aber so real, dass sie sich sogar mit mir unterhalten konnten? Etwas so Unwirkliches hatte ich bislang noch nie erlebt und ließ mich ernsthaft an allem zweifeln, was ich je für möglich gehalten hatte. Ich überlegte auch, ob hier nicht doch bereits schon allererste Fieberphantasien einer versteckten Infektion am Werke waren und befühlte dazu meine Stirn, ja ich zwickte mich sogar nach bekannter Manier kräftig in den Arm um sicherzustellen, dass ich nicht träumte. Der plötzliche Schmerz und der rote Fleck an meinem Bizeps signalisierten mir, dass ich putzmunter war und an heftiges Fieber glaubte ich danach allerdings eher noch weniger. Gleichwohl, der Alte aus dem Antiquariat hätte
mich ja durchaus auch langfristig angesteckt haben können. Eine ziemlich üble Erkältung hatte er auf jeden Fall, das stand schon mal fest. Und mich unwissentlich infiziert haben, das wäre sicherlich auch möglich gewesen. Ganz auszuschließen war es jedenfalls nicht. Da ich mich auch von Drogen jeglicher Art fernhielt, konnte ich das also auch schon mal ausschließen, ebenso wie einen tiefen Alkoholrausch, den ich das letzte Mal erlebt hatte, als ich volljährig wurde. Aller meiner Sinne mächtig, wagte ich mich deshalb noch einmal wenig hervor und stellte laut in den Raum die entscheidende Frage, »Woher weiß ich denn, dass dies nicht irgendein blödsinniger Hokuspokus ist, bei dem anschließend ich auf die Nase falle?«
Schallendes weibliches Lachen, wie aus einer Hexenküche,
»Das weißt du natürlich nicht und da wirst du mir wohl vertrauen müssen.«
Ich schüttelte widerstrebend den Kopf,
»Das ist völlig unmöglich, ich brauche einen wirklich realen Beweis für das alles hier, sonst kann ich es einfach nicht glauben und es fällt mir ehrlich gesagt, jetzt schon ziemlich schwer, dies alles überhaupt für bare Münze zu nehmen«, stieß ich skeptisch geworden hervor und wischte mir inzwischen ein paar Schweißperlen von der Stirn.
»Was glaubst du denn, woher ich wusste, wann die schwarze Läufer auf diese d4-Feld ziehen würde? Denk doch einmal darüber nach«, meinte die im gebrochenen Deutsch
klingende Frauenstimme mit dem französischen Akzent nun leicht verstimmt. »Woher sollte ich denn das alles so genau wissen, wo ich doch selbst noch nicht einmal Schach spielen kann.« Ihre Stimme klang überzeugend und irgendwie auch ehrlich. Die Antwort leuchtete mir nach einem prüfenden Blick auf das Schachpiktogramm des fünfzehnten Zuges auch sofort ein. Spätestens von da an war mir eigentlich klar, dass sie die Wahrheit gesagt haben musste, zumindest was die erwähnte Schachkonstellation anbetraf. Was ich tief in meinem Innersten bereits vermutet hatte, traf also ohne Zweifel zu. Ich erschauderte nun richtiggehend, denn das war mir dann doch etwas zu hastig und vielleicht auch einen
kleinen Tick zu viel, für meine arme genarrte Seele. Danach musste ich jedenfalls erst mehrmals tief und kräftig durchatmen und daran denken, dass es justament möglicherweise also doch weitaus mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben müsse, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Obwohl ich mich eigentlich immer noch wie der ungläubige Thomas verhielt, entschied ich mich dazu, mich dennoch dieser unerwarteten und geheimnisvollen Entwicklung nicht gänzlich zu verschließen. Gerade deshalb wollte ich aber auch trotzdem weiterhin hellwach und auf der Hut zu sein. Dennoch, so ganz allmählich begann ich diese attraktive weibliche Stimme mit dem
liebreizenden Akzent regelrecht zu mögen und ehrlich gesagt, sogar mehr für sie zu empfinden, als gut für mich war. Ich ertappte mich dabei, mich ernsthaft dafür zu interessieren, welches Gesicht sich wohl hinter dieser Stimme mit diesem unglaublich erotischen Timbre verbergen würde. Welche Augenfarbe sie hatte und ob sie hübsch oder eher durchschnittlich ansehnlich war. All dies beschäftigte mich in zunehmendem Maße und ich hoffte insgeheim sogar, dass sie ein sehr hübsches Weib, mit anziehenden Proportionen sein möge, weil mir meine Phantasie vorgaukelte, dass ich in ihr vielleicht die Frau meiner Träume entdeckt haben könnte. Ja und die durfte dann durchaus auch richtiggehend hübsch sein, über Geist,
Witz und Charme verfügen und letztlich sogar verführerisch daherkommen, was meiner ganz und gar beinahe sträflichst vernachlässigten romantischen Seite einen bedeutsamen Vorschub leisten würde.
Erst ganz langsam und allmählich begann sich in winzig kleinen Schritten, so zusagen stufenweise, so etwas ähnliches, wie ein gegenseitiges Vertrauen zwischen uns in den lang andauernden Gesprächen aufzubauen. Mit nicht geringer innerlicher Erschütterung bemerkte ich allerdings, dass diese geheimnisvolle Frau in unglaublicher Weise in der Lage war, meine eigenen Gedanken zu erfassen. Sogar noch bevor ich selbst die passenden Worte dazu formulieren konnte. Und leider auch noch viel eher, als ich sie
denn überhaupt auch aussprechen konnte. Das war mir gelinde gesagt, schon etwas mehr, als nur unheimlich. Das war in vielerlei Hinsicht erschreckend und in gewisser Weise auch furchteinflößend. Aber es machte mich auch wahnsinnig neugierig…
***
Kapitel 3
Charlotte Bonnet...
»Warum fragst du mich nicht, wie ich in diese Buch geraten bin und was ich hier drinnen tue? Das wolltest du doch schon die ganze Zeit wissen. Ich habe diese Frage von dir doch bereits schon anklingen hören. Du hast es nur nicht gewagt, sie bis zu Ende zu denken und dich dann gescheut, sie auch auszusprechen«, fragte sie mich einige Tage später. Nun war ich doch etwas überrascht, weil sie mir peinlich genau auf den Kopf zusagte, was mir eigentlich schon längst auf der Seele brannte. »Das wäre sicherlich eine meiner nächsten
Fragen gewesen«, log ich und begriff im selben Moment, dass ich sie ja nicht anlügen konnte, denn sie hätte an meinen wahren Gedanken sofort erkannt, dass ich die Unwahrheit sagte. Meine Gesichtsfarbe wechselte derweil in ein kräftiges dunkelrot, was sie ja zum Glück an mir nicht sehen konnte. Sie lachte erneut, offenbar hatte sie trotzdem meine Verlegenheit bemerkt und überspielte meine kleine Flunkerei mit einer charmanten Antwort, »Oh, la la la, nicht so schnell, ma cher. Für die Moment nur so viel, es war einer von diese noir magicien. Oh‘ Pardon, aber sehr wahrscheinlich hat mich ein schwarzer Magier vor langer Zeit, sogar auf ewig in dieses Buch verbannt, weil ich ihm vielleicht damals nicht
zu Willen sein wollte. Aber darüber können wir uns später gern noch ausführlicher unterhalten, wenn wir uns erst etwas besser kennengelernt haben. Oder hast du es nun etwa mit der Angst zu tun bekommen und plötzlich kein Interesse mehr an mir?« Was sollte die Frage, natürlich interessierte ich mich für diese Frau, gar keine Frage. Ich hatte nur so überhaupt keine Vorstellung, wo und vor allem, wie das noch enden würde, aber selbst diese Bedenken versuchte ich so gut es eben ging, gedanklich vor ihr zu verbergen. Nachdem ich lange genug mit ihr geplaudert hatte, begriff ich allmählich immer mehr von diesen merkwürdigen Zusammenhängen und langsam begannen sich in meinem Kopf sehr viele winzig kleine Mosaikbausteinchen zu
einem skurrilen, aber immer noch ziemlich unvollständigen Bild formieren. Dennoch kam mir alles ziemlich unheimlich, ja geradezu suspekt, nicht ganz geheuer, aber natürlich auch wunderbar neu und sehr interessant vor. Was konnte mir denn anderseits schon passieren, ich trug doch überhaupt kein Risiko und hatte auch keinerlei Verpflichtungen. Ich hatte nichts mit Blut unterschrieben, mit niemandem einen dubiosen Vertrag geschlossen, ich hatte lediglich nur ein verdammt altes Buch in einem technischen Antiquariat gekauft. Dieses Buch konnte ich zu jeder Zeit immer wieder an jemand anderes verkaufen, oder weiterverschenken, wenn mir danach war. Schlimmstenfalls konnte ich es wegwerfen oder nötigenfalls sogar vernichten.
Dennoch, manchmal machte mir diese ganze, scheinbar so unglaubliche Geschichte immer noch tüchtig zu schaffen und gemahnte mich hinlänglich zur Vorsicht. Eine wichtige Frage beschäftigte mich dabei allerdings pausenlos. Wie weit konnte man in dieser verzwickten Sache gehen? Konnte ich der schwarzen Dame tatsächlich vertrauen, oder wachte ich eines schönen Tages auf und fand mich nun meinerseits in diesem Buch wieder, aus dem ich dann nicht mehr heraus käme. Am Ende hätten wir womöglich nur die Plätze getauscht und ich wäre anstatt der schwarzen Dame dann selber jener unglückselige Gefangene. Ähnlich so, wie einem der Fährmann zur Toteninsel nur wortlos die Stake in die Hand drücken musste und fortan war man selbst der
Fährmann und musste bis in alle Ewigkeiten die Toten auf die Insel übersetzen. Schließlich konnte man ja nie wissen, worauf man sich einließ, wenn man so Knall auf Fall, mit einer völlig neuen und unbekannten Situation konfrontiert wurde. Noch zumal, wenn die einen im Handumdrehen in Teufels Küche bringen konnte, wenn man dabei nicht gar höllisch aufpasste. Das wirklich Kuriose und Ungewöhnliche an der Unterhaltung mit meiner neuen, französisch sprechenden Bekannten war, dass nicht etwa meine Ohren ihre Stimme hörten, sondern mir schien es, als spräche sie mir direkt in meine Gedanken hinein. Ich hörte die phantastische Stimme dieser Frau also nicht über akustische Schallwellen, sondern ich
vernahm lediglich ihre erregende Stimme in meinem Kopf. Was ich ihr auch sagen wollte, ich brauchte es also nur denken. Bei dieser Art Unterhaltung musste man sich allerdings auch sehr auf die richtige Wahl seiner Gedanken konzentrieren, um nicht etwa was Falsches, oder gar Leichtfertiges zu denken. Auch wenn es immer heißt, die Gedanken seien frei, die meinen waren es nach der Erfahrung mit jener unbekannten Dame nicht mehr. Denn auch das nur gedachte Wort kam bei ihr ebenso zielsicher an, wie ein originäres Mahnschreiben von einem Inkassobüro, für eine noch nicht bezahlte Rechnung.
Das klingt im Nachhinein alles etwas verworren, aber so war es nun mal. Ich hatte das Buch gekauft und nun musste ich da auch
durch. Insofern hatte der Alte natürlich Recht, dass dieses Buch etwas ganz Besonderes war. Wusste das alte Schlitzohr etwa von der schwarzen Dame in dem Buch und wollte es nur deshalb schnell loswerden, weil ihm der Besitz des Büchleins Unglück gebracht hatte, oder hatte er einfach nur Angst von dem Unbekannten, dem Außergewöhnlichen? Vielleicht hatte er mir ja nur den Unwissenden vorgespielt und war im Grunde seines Herzens heilfroh, dieses angstmachende Monster endlich losgeworden zu sein. Wie ein abgefeimter Lügner kam er mir allerdings nicht unbedingt vor. Wie dem auch sei, jetzt war ich der neue Besitzer dieses Büchleins und musste mich von nun ab selbst damit auseinandersetzten. Was künftig geschehen
würde, ließ sich nicht immer eindeutig vorhersagen und genau so wenig konnte man auch nicht immer allen noch so ungewöhnlichen Dingen aus dem Weg gehen, nur weil man noch nie von ihnen gehört hatte.
Deshalb nahm ich mir vor, erst einmal alles so wohlwollend, wie möglich anzuschauen und mich später dann zu entscheiden, wie es mit dieser höchst seltsamen Geschichte weitergehen sollte. In meinem Kopf spukte immer noch die lächerlich, abstruse Vorstellung herum, ich verstünde es, jederzeit mit der Situation umgehen zu können und hätte scheinbar alles im Griff. Selbstverständlich ohne natürlich zu ahnen, wie tief ich mittlerweile selbst schon in dieser Geschichte drinnen steckte.
Zu Beginn unserer ungewöhnlichen Bekanntschaft begleitete mich die schwarze Dame lediglich bei den Analysen, der in diesem Büchlein enthaltenen Schachspiele. Wann immer ich das Buch aufschlug, begrüßte mich diese überaus angenehme Frauenstimme stets sehr freundlich. Und wie ein lebendiges Lesezeichen erklärte sie mir jedes Mal, bei welchem Spiel wir unsere letzte rein schachbezogene Zusammenkunft unterbrochen hatten. Oder wenn ich die nächste Buchseite umblätterte und sie mich aufgeregt vor einer dieser heimtückischen Schach-Fallen in diesem aufgezeichneten Spiel warnte, von denen es in diesem Buch nur so wimmelte, obgleich sie ja eigentlich gar kein Schach spielten konnte, wie sie selbst
immer von sich behauptete. Und letztendlich gelang es mir immer besser, mich auf die mir immer sympathischer werdende Frau einzustellen. War es anfänglich nur ihre Stimme, die mich schon beim bloßen Zuhören erregt hatte, kam nach und nach ihr Charme, ihr Witz und ihre ehrliche Art, mit einfachen Worten Wahrheiten zu verkünden hinzu. Eines schönen Tages im Februar des neuen Jahres, begannen wir mit unserer stummen Konversation, die sich weit über das bloße Kommentieren von Schachspielen hinaus erstrecken sollte. Lautlos unterhielten wir uns immer öfter über alle mögliche Probleme miteinander. Dabei sparten wir auch heikle Themen, geheime Wünsche und Träume, ja
sogar erotische Phantasien nicht aus. Lautlose Kommunikation durch diverse Gedankenübertragung. Telepathie nennt man diese unglaubliche und wohl auch außergewöhnliche Form der Unterhaltung. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, derartig skurrile Dinge überhaupt für möglich zu halten. Für Außenstehende musste es immer nur so ausgeschaut haben, als läse ich unablässig in diesem sehr interessanten Büchlein. Beobachtet man jedoch eine Zeitlang jemanden, der intensiv in einem Buch liest, wird man sehr schnell erkennen, dass der aufgeschlossene Leser mit seinen Helden, den Protagonisten aus diesem Buch, quasi mit lebt. Die Protagonisten lassen den Leser
emotional an ihren Abenteuern teilhaben, besonders wenn die Geschichte mit dem Herzen geschrieben ist. Er lacht, wenn er eine Situation in dieser Geschichte heiter findet und bangt mit seinen Protagonisten, wenn ihnen eine ernsthafte Gefahr droht. Manchmal erging es mir nicht viel anders, so musste ich sogar unvermittelt oft lachen, wenn die schwarze Dame, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Namen kannte, übersprudelnd mir ihr Herz ausschüttete und währenddessen dabei mit eloquenter Hochgeschwindigkeit ins Französische abglitt, dessen ich leider nicht mächtig bin. Le bœuf, der Ochs, la vache, die Kuh und raus bist Du. Aber das war‘s dann auch schon beinahe mit meinen bescheidenen
Französischkenntnissen. Als ich ihr das genauso wortwörtlich erklärte, schüttete sie sich förmlich aus vor Lachen.
Hin und wieder lieferten wir uns auf diese Weise gegenseitig und ganz unauffällig einige kleinere Vertrauensbekundungen.
So begannen sich ganz allmählich zwischen uns sogar eine zarte, freundschaftlich liebevolle Bande zu entwickeln, an deren Festigung uns beiden irgendwie doch sehr gelegen schien.
* Die schwarze Dame gestand mir später, dass sie eigentlich mit richtigem Namen, Charlotte Bonnet hieß, in Paris als Tochter einer Pariser
Wäscherin und eines Schreiners geboren wurde, ledig sei und sich bereits seit dem Jahre 1902 in diesem Buch befand. Von Beruf sei sie zwar eigentlich ein Photographenmodell, stehe aber auch bekannten Malern als Akt, Modell. Zuvor war sie aber auch eine Zeit lang als Straßendirne tätig gewesen und das war vielleicht auch irgendwie der Grund, warum sie zwischen den Seiten dieses Buches feststeckte und es nicht verlassen könne. Fest stand nur, dass sie nur solange lebte, wie dieses Buch als Buch, existieren würde. Was immer man dem Buch antat, das würde man im übertragenen Sinne auch Charlotte selbst antun. Jede, aus einer Waffe abgefeuerte Kugel, die alle Buchseiten inklusive der Buchdeckel durchschlagen hätte,
würde ihr sofortiges Todesurteil bedeuten. Die Wirkung käme einer Hinrichtung durch Erschießen gleich. Feuer würde das Buch und damit beide gleichermaßen verbrennen. Im Wasser würde sich das dünne Papier ziemlich schnell auflösen und sie müsste dann elendig ertrinken, noch zumal sie selbst auch niemals richtig schwimmen gelernt hatte. Wenn man aus dem Buch ganze Seiten herausriss, würde sie für jede herausgerissene Seite, ein komplettes Lebensjahr abgezogen bekommen, selbst wenn es ihr jemals irgendwann einmal gelingen sollte, dieses Buch unversehrt wieder zu verlassen. Unter Eselsohren, eingerissene Seiten und Schmutzflecken würde ihre jugendliche Schönheit leiden. Sie würde dadurch einfach
viel schneller altern, tiefe hässliche Falten und eine schlechtere Haut wären die unabdingbaren Folgen. Wenn jemand mit einem Bleistift, oder was noch weitaus schlimmer wäre, mit einem Silberstift in dem Buch herummalen würde und man bekäme das Geschreibsel später dann nicht mehr herausradiert, so wären das quasi bleibende Tattoos, die Charlotte dann auf immer und ewig an ihrem Körper mit sich herumtragen müsste.
Mit zunehmendem Erschrecken vernahm ich ihre Worte und nahm das Büchlein daraufhin ganz vorsichtig in die Hand. Akribisch blätterte ich dann Seite für Seite durch und stellte danach höchst erleichtert fest, dass immer noch alle Seiten des Buches vollzählig
erhalten waren und sich sogar im bibliophilen Bestzustand befanden. Wenn man einmal von den verschmutzten und angesengten Buchdeckeln absah. Aber das wäre nur ihr leuchtend rotes Haar, sagte sie, und das würde ihr später sicherlich auch wieder nachwachsen. Waschen und frisieren würde man es dann bestimmt auch wieder können. Noch niemals zuvor hatte sie je in den vielen Jahrzehnten, einem Besitzer des Buches so viele Details über sich preisgegeben und lebte fortan ständig in der Angst, einfach bei jedem neuen Besitzer in Ungnade fallen zu können, achtlos weggeworfen oder gar vernichtet zu werden. Das alles hatte der noir magicien ihr damals deutlich wissen lassen, als er sie vor über einhundert Jahren in das Buch
eingeschlossen und es anschließend magisch versiegelt hatte. Und nicht bevor mindestens einhundert Jahre vergangen wären, sogar bis auf den Tag genau, sollte sie ihr fragiles papiernes Gefängnis nicht verlassen dürfen, wenn es bis dahin das dünne Buch überhaupt noch geben würde. Nun, die angedrohten einhundert Jahre waren schon lange um und zum Glück existierte das Buch auch immer noch, aber Charlotte wusste beim besten Willen nicht, wie sie es wieder verlassen konnte. Wie das praktisch funktionieren sollte, dass hatte ihr der schwarze Magier natürlich nicht gesagt. Sie wusste lediglich, dass es mit ihrer Person und ihrer eigenen Vergangenheit zu tun haben musste. Und dass eine gewisse anzügliche Nacktphotographie von ihr aus
dem Jahre 1896, darin eine entscheidende Rolle spielen würde... All dies beichte sie mir nach und nach und an manchen Stellen flossen immer dann besonders heftig ihre Tränen, wenn sie sich unmittelbar mit der hoffnungslosen Ausweglosigkeit ihrer Situation konfrontiert sah. Es kostete mich jedenfalls nicht geringe Mühe, sie immer wieder zu beruhigen und erst als sie mir das Versprechen abgerungen hatte, ihr nach Kräften aus diesem merkwürdigen Gefängnis heraus zu helfen, fasste sie wieder etwas mehr Mut und so kehrte gelegentlich sogar ihr süßes Lachen wieder zu ihr zurück. Eines Tages begann Charlotte von sich heraus unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen, die in
weiten Teilen auch zugleich die absurde Geschichte dieses unscheinbaren Büchleins war... * Charlotte wurde an einem Valentinstag, also am 14. Februar des Jahres 1875, an einem sehr kalten Wintertag, als siebentes Kind und einziges Mädchen ihrer Eltern, in äußerst bescheidenen Verhältnissen in Paris geboren. Ein rabenschwarzes Wintergewitter donnerte mit riesigen Hagelkörnern, Unmengen von Schnee und gleißenden Blitzen während ihrer Geburt über Paris herunter, gerade in dem Augenblick, als sie das Licht der Welt erblickte. Es hatte den Anschein, als hätten
sich alle finsteren Mächte gegen das Zustandekommen des neuen Lebens zwar verbündet, aber dennoch vergeblich dagegen angekämpft. Möglicherweise lag ein geheimnisvoller Fluch auf der Geburt des unschuldigen Kindes, der das Leben dieser ohnehin schon gezeichneten Familie restlos zerstören sollte. Das Leben aber obsiegte und das kleine Mädchen war nun auf der Welt. Charlotte, so nannte ihre Mutter sie, war ein Nachkömmling, denn ihre sechs Brüder waren alle schon aus dem Haus und sorgten nur für sich selbst. Von ihrer neuen Schwester wollten sie allesamt nichts wissen und hielten sich darum vom ihrem Elternhaus dauerhaft fern. Sie war ein Nesthäkchen, um das sich ihre Mutter liebevoll kümmerte, solange sie es
jedenfalls noch konnte, denn sie starb bereits, noch ehe das Kind sein erstes Lebensjahr vollendet hatte an der Schwindsucht und das Schicksal nahm seinen Lauf.
Charlotte hatte ihre Eltern so gesehen also niemals richtig kennengelernt, denn dem völlig überforderten Vater, der schon lange Jahre zuvor keinen einzigen Hobel mehr über ein Brett gezogen hatte, wurde das Sorgerecht für seine einzige Tochter entzogen. Er war rettungslos dem Alkohol verfallen und das Kleinkind verwahrloste alsbald zusehends unter seiner fehlenden Obhut.
Jede Menge leere Flaschen Absinth stapelten sich bei einer Kontrolle durch die Behörden in der kleinen Souterrainwohnung des stark alkoholisierten Tischlers bereits zu Hauf und
führten letztlich dazu, dass das kleine Mädchen auf höchstrichterlicher Anordnung in ein Waisenhaus überstellt wurde. Ein paar Wochen später hatte sich ihr armer Vater vor Kummer und Gram bereits totgesoffen, wie sie selbst wortwörtlich berichtete. So wuchs sie in einem Gestrandeten Asyl auf, ohne jemals eine richtige Familie gehabt zu haben. Von fehlender Nestwärme gar nicht erst zu reden. Als Jugendliche entfloh sie zusammen mit ihrer nur wenige Jahre älteren Freundin dem Heim für obdachlose Waisenkinder und schlug sich mit Betteln und Stehlen, mehr schlecht als recht auf den Straßen der Großstadt durch das Leben. Später gingen die beiden jungen Mädchen auf den großen Pariser Boulevards auf den Straßenstrich, um sich auf diese
Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen...
Mit sechzehn machte Charlotte zufällig die Bekanntschaft des bedeutenden Malers, Henri de Toulouse-Lautrec, der sie gegen Bezahlung in seinem Atelier, als einziger Künstler auch nackt malen durfte. Da sie für ihr Alter, rein körperlich gesehen, schon etwas frühreif und überentwickelt war, fiel es auch nicht weiter
auf, wenn er sie mit auf die wöchentlich stattfindenden Bälle und Tanzvergnügen mitnahm. Er führte sie auch in die Gesellschaft der Maler und Photographen ein, die ihr alltägliches Vergnügen in dem Viertel rund um den Montmartre, in der Rotlichtscheune des Moulin de la Galette und dem sündigen Varieté Moulin Rouge suchten, welches gerade erst zwei Jahre zuvor eröffnet hatte. Toulouse-Lautrec, der gern dem Alkohol kräftig zusprach, hielt indes schützend seine Hand über Charlotte und wählte unter seinen zahlreichen Photographenfreunden sorgfältig diejenigen aus, für die sie dann später auch als Nacktmodell arbeiten durfte. Denn einige von ihnen hatten die äußerst schlechte Angewohnheit, ihre Modelle niemals zu
bezahlen und verdienten aber anderseits mit dem Verkauf von erotischen Photographien ihrer Modelle, ein entsprechendes Vermögen. Wiederum andere nutzten schamlos die Unerfahrenheit der vornehmlich jungen Modelle aus und betätigten sich nebenher ebenso als Zuhälter. So gesehen, war es auch natürlich ein großes Glück, dass Charlotte ausgerechnet mit Toulouse-Lautrec bekannt wurde, auch wenn der ein Trinker und kein Kostverächter war, was Frauen anbelangte, so war er dennoch von einer gewissen edlen Gesinnung. Wegen seiner großzügigen Fürsprache musste sie seit dem auch nie wieder als Prostituierte arbeiten. Charlotte bekam nun durch ihre Tätigkeit als Modell regelmäßig einen guten Lohn und konnte sich
sogar eine kleine Wohnung am Montmartre zur Miete leisten. Leider war es von schon je her nicht besonders gut um die Gesundheit von Henri Toulouse-Lautrec bestellt gewesen, dann kam auch noch sein extrovertierter Lebensstil dazu, der ihn zunehmend krank machte und seine ohnehin schon angeschlagene Gesundheit ständig weiter untergrub. Als er dann am 9.September 1901 auf Schloss Malromé dem Landsitz seiner Eltern in der Gironde verstarb, verlor Charlotte, die zu diesem Zeitpunkt sechsundzwanzig Jahre alt war, ihren einflussreichsten Gönner und Förderer. Sie war inzwischen bei den Malern und Photographen der Boheme ein allseits beliebtes und sehr begehrtes Künstlermodell.
Nächtelang zog sie mit ihren vielen Freunden und Modellkolleginnen durch die Varietés und Absteigen des Amüsierviertels rund um den Montmartre und wurde nun selbst zu einer attraktiven Ingredienz jener Zeit, die man später die Belle Epoque nennen würde...
Kapitel 4
Der schwarze Magier...
Eines Tages jedoch, als Charlotte Bonnet auf dem Höhepunkt ihrer Karriere schien, brach das Unglück über sie herein.
Dies geschah ausgerechnet an ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag, am 14. Februar des Jahres 1902 und diesen Tag feierte Charlotte ausgelassen mit ihren Freunden und einigen sehr bekannten Malern und Photographen im Moulin Rouge.
Es wurde laut gelacht, manch derbe, üble Zote gerissen, viel getanzt und ausgiebig dem Champagner zugesprochen.
Zu vorgerückter Stunde wurde das Fest
immer lauter und mit steigendem Alkoholgenuss, einige Herren den anwesenden Damen gegenüber immer zudringlicher. Ein paar der gut situierten Gäste hatten sich bereits in die angrenzenden Séparées mit einigen Damen zurückgezogen, wovon
allerdings nicht alle dem horizontalen Gewerbe angehörten. Tatsächlich war es ein sehr ausgelassenes Fest und es schien, als wollte jeder der noch anwesenden Herren in dieser rauschenden Ballnacht dem Geburtstagskind seine Aufwartung machen. Mindestens aber, um einen Tanz mit ihr zu wagen und um danach wenigstens einen Kuss von ihr zu erhalten. Die illustre Gesellschaft hatte an diesen Abend schon reichlich Champagner fließen lassen, als kurz vor Mitternacht, ein stattlicher Mann mit seinem Spazierstock schwungvoll die Pendeltür zu dem Festsaal aufstieß. Der Unbekannte, der einen grau melierten Kinn, und Backenbart trug, war in einen festlichen schwarzen Frack und Zylinder gekleidet und
hinterließ bei einem oberflächlichen Betrachter den Eindruck eines seriösen Mannes. Scheinbar handelte es sich um einen verspäteten Geburtstagsgast, der sich dem Aussehen nach, schon in einem deutlich vorgerückten Alter befand. Er hatte bereits seinen schwarzen Mantel geöffnet und ihn sich nur lose über seine Schultern gehängt. Schon bei seinem zügigen Eintritt in den Ballsaal zeichnete sich allerdings bei näherem Hinsehen in seinem wutverzerrten Gesicht bereits ein grenzenloser Hass ab. Trotzdem begab er sich weiter schnellen Schrittes zu der launigen, im trunkenen Feierrausch befindlichen Gesellschaft. Er ging direkt auf das schon leicht beschwipste Geburtstagskind zu, packte die junge Frau
brutal bei den Armen und riss sie gewaltsam von ihrem Stuhl empor. Dies alles geschah so überraschend schnell, dass keiner ihrer Freunde überhaupt die Zeit fand, angemessen auf diesen gewalttätigen Übergriff zu reagieren. Der Fremde schrie die völlig verstörte Charlotte lautstark an, die nun schlagartig ernüchterte und beschimpfte sie mit höchst unflätigen Worten, »Ha‘, hier also finde ich dich, Hure. Na schön, dann sollen deine sogenannten Freunde aber auch alle sehen, was für eine Art Dreckstück du bist. Zieh dich aus, ich will, dass du hier für diese voyeuristischen Kerle nackt auf dem Tisch tanzt!« Mit diesen Worten riss er ihr brutal das Oberteil ihres hochgeschlossenen Kleides auf,
sodass die meisten der kleinen messingfarbenen Metallknöpfe von ihrem samtblauen Kleid abrissen und auf dem Parkettfußboden umhersprangen. Die Musik verstummte und alle Gäste starrten fassungslos auf den vornehm gekleideten Mann, dessen wohl situiertes Äußeres überhaupt nicht zu seinem rücksichtslosen und brutalem Benehmen passte. Plötzlich erhob sich einer der Gäste von seinem Stuhl und ging entschlossen auf den rabiaten Eindringling zu. Er zog die vor Entsetzen wie gelähmte und nun gänzlich verstörte jungen Frau von ihm weg und stellte sich entschieden zwischen dem wutschnaubenden Grobian und seinem vor Angst zitternden Opfer. Dann wandte er sich
mit seltsam gelassener Stimme mutig an den brutalen Eindringling. »Monsieur, ich kenne Euch zwar nicht, aber dieses unangebrachte Verhalten gegenüber jener Dame, ist mit Verlaub gesagt, mehr als nur höchst inakzeptabel. Sie beleidigten eine unbescholtene Lady, die zugleich eine gute Freundin von Monsieur Henri de Toulouse-Lautrec war und deshalb haben Sie auch mich zutiefst beleidigt. Mein Name ist, Piotr Graf von Lubomirski. Zurzeit, Rittmeister in der Armee seiner Majestät. Ich fordere von Euch umgehend Satisfaktion. Ihr könnt mir heute Nacht noch Euren Sekundanten in mein Hotel schicken, es ist das Grand-Hotel.« Der Angreifer war zunächst etwas verblüfft, aber seine dunklen Augen funkelten weiterhin
vor übermächtigen Zorn. Dann aber griff er rasch in seine Manteltasche, zog daraus eine chamoisfarbene Photographie hervor und hielt sie dem Grafen unter die Nase. Das Bild zeigte eine etwas jüngere, unbekleidete Charlotte Bonnet in einer charmant gewagten, freizügigeren Aktpose. »Das da, Monsieur, das ist die Hure Bonnet, die Ihr als „Dame“ zu bezeichnen geruht. Und nun könnt Ihr Euch gern selbst einen Reim darauf machen, mit wem Ihr es hier zu tun habt.« Der Graf würdigte die ihm dargebotene, postkartengroße Photographie mit keinem einzigen Blick. Er schaute dem Wüterich nur unablässig fest in die Augen. Unterdessen zog er betont langsam seine weißen
Glacéhandschuhe aus und schlug dem Rüpel damit nonchalant ins Gesicht. Fassungslos starrte der Herausgeforderte den Grafen an. »Das wird Ihnen noch leidtuen, Monsieur, denn ich verfüge über Kräfte, an die Sie nicht einmal in Ihren kühnsten Träumen zu denken wagen. Morgen, nachdem ich Ihnen eine angemessene Lektion, bezüglich Ihrer Freveltat erteilt habe, werde ich dieses widerliche Frauenzimmer auf ewig in Ihr lächerliches Schachbuch verbannen, welches Sie belieben ständig mit sich herumzutragen. Damit werden Sie dann dieses Weibsstück auch jederzeit bei sich haben dürfen, Rittmeister. In Ihrem Sarg, bei Ihnen in der Innentasche Ihres Jacketts, wird das Buch ganz allmählich verfaulen, so wie Sie
verfaulen werden, werter Herr. Und ich schwöre Ihnen, niemals wieder soll dieses Weib Ihr Buch auch nur für eine einzige Sekunde verlassen dürfen«, stieß er Fremde leise und bedrohlich hervor. Dann griff er in gekonnter Taschenspielermanier dem Grafen in die Fracktasche und zog daraus geschwind einen schmalen, blassblauen Bucheinband hervor. Er hielt das Buch mit einem triumphalen Grinsen im Gesicht, wie einen unschlagbaren Beweis für die Wahrhaftigkeit seiner Worte, aufgeklappt und für alle gut sichtbar in die Höhe. Ein Raunen ging durch die Reihen der geladenen Geburtstagsgäste, die bislang mucksmäuschenstill diese höchst ungewöhnliche Auseinandersetzung
mitverfolgt hatten. Er steckte die vermeintlich kompromittierende Photographie von Charlotte in das Buch und klappte es wieder zu. »Damit Sie das infame Weibsstück immer vor Augen haben, Herr Graf, als kleine Grabbeigabe sozusagen«, sagte er grinsend. Dann warf er das Büchlein hasserfüllt auf den Tisch und wandte sich voller Verachtung wieder an Charlotte. Mit seinem Zeigefinger wies er drohend auf das Buch, »Darin wirst du enden, Metze. Voller Qualen sollst du langsam in dem Buch verrotten, an der Seite der Leiche deines Freundes vermodern, so wie auch dieses Buch dereinst in seinem Sarg vermodern wird. Das schwöre ich, so wahr ich der beste schwarze Magier
aller Zeiten bin«, rief er mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht aus. Dann wandte er sich noch einmal an den Grafen, »Heute Nacht noch werde ich Ihnen meinen Sekundanten schicken und morgen schon wird der Herold den Namen eines Lebendigen aus dem Stammbaum Ihres altehrwürdigen Adelsgeschlechtes streichen müssen, Herr Graf. Ich fürchte, es wird der Eure sein. Am Ende werdet Ihr mir gewiss zustimmen, dass dies ein äußerst schlechter Tausch gewesen sein wird. Eine geborene Hure, die auf immer im Tode verbannt ist, gegen Ihr Leben, Monsieur le Capitaine. Wie konntet Ihr Euch nur so billig verkaufen...« Angewidert wandte sich Graf Lubomirski von diesem ungehobelten Flegel ab und ignorierte
ihn, während dieser daraufhin wutentbrannt und mit wehenden Rockschößen den Festsaal des Moulin Rouge wieder verließ.
Noch in derselben Nacht erschien der Sekundant jenes abscheulichen Fremden im Grand-Hotel und man vereinbarte, dass man sich am nächsten Morgen in der neunten Stunde in dem im Westen von Paris gelegenen Stadtpark Bois de Boulogne duellieren würde. Man einigte sich auf Pistolen.
Vergeblich hatte Charlotte noch versucht, dem Grafen dieses unsägliche Duell auszureden. Man werde diesen fürchterlich bösartigen Menschen einfach vergessen und nicht mehr über die vergangene Nacht nachdenken. Dieser ungeschliffene Laffe sei es doch
überhaupt nicht wert, dass man sich seinetwegen einer so unkalkulierbaren Gefahr aussetzte, wie es ein ohnehin sogar verbotenes Duell immer mit sich brächte. Der Graf war jedoch nicht mehr umzustimmen. Er bestand darauf, mit diesem elenden Kerl abzurechnen und kurzen Prozess zu machen. Obwohl Charlotte immer wieder beteuerte, diesen abscheulichen Menschen überhaupt nicht zu kennen und schon gar nicht zu wissen, warum sie sogar an ihrem Geburtstag das Opfer einer solch rüden Attacke wurde. Der Graf gab an, er hätte seine guten Gründe dafür, diesen Banditen zu eliminieren und er gedenke auch nicht, sich jetzt Charlotte umfänglich zu erklären. Morgen, wenn alles geregelt und erledigt wäre, dann würde sie es
gewiss auch verstehen.
*
Stille lag noch über Paris, als am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang drei schwarze Droschken nacheinander aus der Stadt nach Westen, in den Wald von Boulogne fuhren. Es hatte in der Nacht leicht geschneit und die Pferde dampften vor Kälte aus ihren Nüstern. Kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt trafen sich die unversöhnlichen Widersacher in dem menschenleeren Park und die persönlichen Sekundanten vereinbarten die letzten Modalitäten. Geschossen werde von jedem Duellanten aus einer Vorderlader-Duellpistole, wechselseitig jeweils nur einmal und das aus einer Entfernung von zwanzig Schritt. Wobei der Herausgeforderte den ersten Schuss
haben sollte. Sollte allerdings nach einem dreimaligen Schusswechsel keine der beteiligten Parteien getroffen haben, gilt der Händel als erledigt und die verletzte Ehre, als wiederhergestellt. Würde einer der Duellanten bei diesem Schusswechsel verletzt, so kümmere sich der anwesende Doktor Pierre Gache um den Getroffenen. Zugleich kann der Sekundant dann das Duell als für beendet erklären, sollte der Verwundete selbst nicht mehr dazu in der Lage sein. Alles andere liege von nun an allein in Gottes Hand. Rücken an Rücken nahmen die beiden Duellanten Aufstellung und gingen mit gezogener Waffe auf ein Kommando hin, ein jeder zehn Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Dann drehten sie sich zueinander um. Der Fremde
hatte wie vereinbart, den ersten Schuss. Er senkte seine Waffe und zielte auf den Grafen. Der Graf indes stand ruhig und gelassen da, als ergäbe er sich seinem unabänderlichen Schicksal. Ein leichter Wind spielte mit seinem weißen Schal, als der Schuss des Herausgeforderten plötzlich in der Stille des Waldes brach. Erschrocken flatterten ein gutes Dutzend pechschwarzer Rabenvögel von den schneebedeckten Bäumen auf und drehten laut schimpfend ihre Kreise über den ansonsten verwaisten morgendlichen Wald.
Dem Grafen war sein schwarzer Zylinder vom Kopf geflogen und in einer frischen Schneewehe gelandet. Völlig unbeeindruckt nahm Graf Lubomirski die Tatsache zur Kenntnis, dass die Kugel seines Gegners die
Frontseite seines Zylinderhutes durchschlagen hatte, sein Haar gestreift und auf der Rückseite des Zylinders wieder ausgetreten war. Zum Glück blieb der Rittmeister dabei unverletzt. Der Fremde erbleichte zwar etwas, als er sah, dass sein erster Schuss keinerlei Schaden bei seinem Gegner angerichtet hatte, bot aber seinem Widersacher dennoch siegessicher grinsend die Stirn. Der Wind hatte noch nicht einmal den weißen Pulverdampf des abgefeuerten Schusses richtig verweht, als nun der Graf seinerseits die Waffe auf den Fremden richtete. Als erfahrener Offizier war er es gewohnt, dem Feind bewaffnet, Auge in Auge gegenüberzustehen und er sollte sich nicht irren. Er zielte sorgfältig und feuerte nun die
Pistole auf seinen Gegner ab. Einen Augenblick später brach der Magier nach einem kurzen Aufschrei und mit einem verständnislosen Ausdruck im Gesicht zusammen. Der bereitstehende Arzt, Doktor Gache, eilte daraufhin mit seiner braunledernen Instrumententasche zu dem Verwundeten, um ihm Erste Hilfe zu leisten. Mit einem Ausdruck des Entsetzens blieb er jedoch zwei Schritte vor dem am Boden Liegenden stehen und betrachtete aus sicherer Distanz das Sterben, des tödlich Getroffenen. Der Graf begab sich nun ebenfalls zu dem Verwundeten und wollte sich zu ihm hinunterbeugen. Doch der Doktor hielt ihn aber mit einer Armbewegung davon ab, näher an den Getroffenen heranzutreten. Die
Kugel war dem Duellanten die Brust eingedrungen, wo sich das Herz befand. Jene Stelle, die der am Boden liegende Magier nun mit der Breite seiner Handfläche abdeckte. Der Arzt wandte sich an den Grafen, »Hier kommt jede Hilfe zu spät, Herr Rittmeister. So etwas hab ich in meiner gesamten ärztlichen Praxis noch nicht erlebt. Und wissen Sie, was ich überhaupt nicht verstehe? Dieser Mann hatte mich im Augenblick des Todes noch lächelnd angesehen und dabei gemurmelt, »Trotzdem, nicht unter einhundert Jahren!« Graf Lubomirski nickte zustimmend, als hätte er diese Antwort erwartet. Er fragte den Arzt, »Und denken Sie, dass der Kerl jetzt wirklich tot ist, Doktor Gache?«
»Nicht nur das«, antwortete der Doktor rasch erbleichend, »er scheint sich sogar im Tode noch zu verändern…« Nun starrten beide wie gebannt auf die Leiche des Magiers, die innerhalb kürzester Zeit eine erstaunliche Metamorphose durchmachte. Zuerst skelettierte sein Körper in dem schwarzen Mantel, um danach dann schnell zu grauem Staub zu zerfallen. Zurück blieben nur die leere Hülle seiner Kleidung und eine silbrig glänzende Kugel zwischen all dem Staub. Inzwischen war auch der stumme Sekundant des Getöteten lautlos an den Ort des Geschehens herangetreten und hatte mit einem Blick sofort erfasst, was vorfallen war. Er verbeugte sich kurz vor dem Grafen. Zügig raffte er dann mit emotionslosem Gesicht die
wenigen Überbleibsel des Fremden zusammen. Danach trug er alles zu der Equipage des Magiers, stopfte dessen Sachen achtlos in die hintere Gepäckkiste und gab dem Kutscher mit seinem Stock ein Zeichen. Nachdem er selbst die Kalesche bestiegen hatte, lies er sich kommentarlos nach Paris zurück kutschieren. Der Doktor hob inzwischen die im Schnee liegengebliebene Duellpistole auf und betrachtete sie kritisch. Dann er schnupperte am Lauf der zuvor abgefeuerten Waffe, dessen Mündung noch immer nach frischem Pulverdampf roch. Ungläubig schüttelte er den Kopf und übergab sie den Grafen, der sich zuvor schon nach der Kugel gebückt hatte, welche aus den Sachen des Magiers in den
frischen Schnee gefallen war. Gelassen betrachtete er die in der Morgensonne silbrig glänzende Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte sie anschließend in seine Rocktasche. »Ich hatte es geahnt«, sagte der Graf nach sinnend, »ich sah es bereits gestern Abend in seinen Augen, darum habe ich meine Waffe durch meinen Sekundanten auch mit einer echten Silberkugel laden lassen. Eine gewöhnliche Bleikugel hätte ihn niemals verletzen, oder gar töten können. Er war sich seiner Sache sehr sicher, dass ihm nichts geschehen würde. Zu sicher, wie wir jetzt wissen«, betonte Graf Lubomirski überzeugt. Dann hob er seinen durchlöcherten Zylinderhut auf, begutachte den angerichteten
Schaden, schüttelte den Kopf und setzte sich den durchschossenen Zylinder wieder auf.
»Kommen Sie, Monsieur le Doktor, es gibt hier nichts mehr zu tun, diese unsägliche Geschichte ist damit endgültig aus der Welt geschafft«, konstatierte der Graf und wandte sich bereits zum Gehen. Ohne allerdings zu ahnen, wie sehr er sich in seiner Meinung irren sollte.
Der Doktor nickte,
»Sie haben recht, Graf, wir sind hier in der Tat nicht mehr von Nöten.«
Dann stiegen sie beide in ihre Droschken und fuhren durch den frostklaren Morgen in die Stadt zurück. In seinem Hotel bemerkte Graf Lubomirski kurze Zeit später, dass Charlotte auf
merkwürdige Art und Weise verschwunden war. Während sich ihre Tasche, ihr kostbarer Pelzmantel und ihr pelzener Muff, noch immer unter sicherem Verschluss in der Garderobe des Hotelrestaurants befanden, war sie selbst allerdings nirgends wo anzutreffen. Der Graf ließ selbstverständlich im ganzen Hotel überall nach ihr suchen. Vergeblich. Plötzlich keimte ein fürchterlicher Verdacht in ihm auf. Er rannte in sein Hotelzimmer, riss die Schublade seines Sekretärs auf, durchwühlte seine Sachen und suchte nach dem blauen Schachbuch. Als er es gefunden hatte schlug er es auf und sofort vernahm er laut und deutlich Charlottes Stimme, die verzweifelt um Hilfe rief.
Wie vom Donner gerührt, stand der Graf da und begriff mit einem Schlag das gesamte Ausmaß dieses unglaublichen Dramas, welches hinter dieser tragischen Geschichte steckte. Aber diesmal vermochte er ihr nicht zu helfen. Charlotte blieb in dem Buch gefangen. Ganz so, wie es jener schwarze Magier prophezeit hatte. Keiner ihrer Freunde wusste sich das plötzliche Verschwinden von Charlotte genau zu erklären aber in versteckten Andeutungen wurde gelegentlich von geheimer schwarzer Magie gemunkelt. Besser man schwieg jedoch darüber und verbrannte sich nicht die Finger an irgendwelchen heißen Eisen. Graf Lubomirski, der als einziger glaubte, die ganze Wahrheit zu kennen, hüllte sich indes in tiefes
Schweigen. So kam es, dass Charlotte nach und nach, bei den Künstlern in Vergessenheit geriet und bald schon sprach man auch nicht mehr über ihr unerklärliches Verschwinden. Gelegentlich erschienen sporadisch noch einige Wochen nach ihrem rätselhaften Verschwinden in der einschlägigen Boulevardpresse ein paar Zeitungsartikel. Vor allem solche, die sich reißerisch und spekulativ mit der Frage beschäftigten, mit wem, oder wohin denn das überaus attraktive Nacktmodell der Pariser Boheme Szene, so plötzlich verschwunden sein könnte. Der Graf indes, zog sich gänzlich aus der Gesellschaft der Boheme zurück und widmete sich ausschließlich nur noch seiner wertvollen Büchersammlung. Fortab trug er allerdings
jenes blaue Schachbuch nun wirklich ständig mit sich herum. Seine wenigen verbliebenen Freunde betrachteten es als einen besonderen Spleen des Rittmeisters. Sogar wenn er sich zur Nachtruhe begab, legte er das blaue Buch neben sich auf seinen Nachtschrank. Er selbst begründete sein Verhalten mit seiner ungewöhnlichen Leidenschaft für schöne und ausgefallene, meisterlich gespielte Schachpartien. Ebenso gewöhnte sich seine Frau Adele an die skurrile Marotte ihres Mannes und akzeptierte diese, als eine singuläre Kuriosität, deren wahres Geheimnis der Rittmeister allerdings niemals jemanden offenbarte, nicht einmal seiner geliebten Frau... Diese obskure Photographie jedoch, welche ihm der
schwarze Magier in das Buch gesteckt hatte, dunkelte seltsamerweise im Verlauf der Zeit
immer stärker nach, bis das Bild eines Tages nur noch eine einzige schwarze Papierfläche war, die dann irgendwann einmal verloren ging.
***
Kapitel 5
Katastrophen: Wasser, Feuer, Luft... So gingen also die Jahre ins Land und erst zehn Jahre später sollte das Büchlein erneut eine bedeutende Rolle im Leben des Grafen Lubomirski spielen. Im Frühjahr des Jahres 1912 beschloss seine Frau ihre Verwandten in New York zu besuchen, da ihre jüngere und sehr attraktive Schwester Agathe die Absicht hegte, sich im Wonnemonat Mai des Jahres 1912 in New York mit einem wohlhabenden, amerikanischen Geschäftsmann aus der Druckereibranche zu vermählen. Die Hochzeitvorbereitungen waren bereits im vollen Gange, als der Graf Lubomirski die
telegraphische Einladung zur Hochzeit seiner Schwägerin aus dem fernen Amerika erhielt. Adele von Lubomirski ließ sofort zwei Tickets Erster Klasse auf das neuerbaute Schiff der Withe-Star-Line, der R.M.S. „Titanic“ für die Überfahrt von Cherbourg in Frankreich, nach New York buchen. Da kam es ihr nur zu gut zu Passe, dass das Schiff wie geplant, auch via Frankreich nach Amerika fahren würde. Sie waren einen Tag vor Abfahrt des Schiffes in Cherbourg, aus Paris kommend, eingetroffen und hatten zuvor sehr angenehm im Hotel du Louvre übernachtet.
Pünktlich traf unterdessen die „Titanic“ in Frankreich ein und lag nun in der Bucht von Cherbourg auf Reede vor Anker. Denn selbst der an der französischen Atlantikküste gelegene Hafen von Cherbourg war für dieses gigantische Schiff einfach nicht groß genug.
Am frühen Abend des 10. April 1912 gingen
Graf Lubomirski und seine Frau Adele, gemeinsam mit 272 anderen Passagieren in Cherbourg an Bord der "Titanic", um mit dem größten und modernste Schiff der Welt, nach New York zu reisen. Am 11. April ankerte die „Titanic“ noch einmal kurz vor Queenstown, um in Irland definitiv die letzten Passagiere für die Überfahrt nach den Vereinigten Staaten, an Bord zu nehmen und nahm dann mit Volldampf Kurs auf die Ostküste Amerikas, nach New York, der wohl bekanntesten Stadt der Welt. In der Nacht des 14. April kollidierte die „Titanic“ dann 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland gegen 23.40 Uhr mit einem größeren, nach Süden driftenden Eisberg.
Der Graf und seine Frau hatten zu diesem
Zeitpunkt bereits ihr Quartier für die Nacht hergerichtet, als sie durch ein leichtes Rütteln des Vorschiffes beunruhigt wurden. Anfänglich hatte noch niemand ernsthaft damit gerechnet, dass dem Schiff zu diesem Zeitpunkt bereits die Todesglocken geläutet haben und dass bei dieser Katastrophe weit über 1.400 Menschen ihr Leben würden lassen müssen. Bereits nach weiteren fünfundzwanzig bangen Minuten war der Schiffsführung und den verantwortlichen Experten an Bord klar, dass sich das größte Schiff der Welt in einer sehr ernsten Lage befand und die reale Gefahr eines nicht zu verhindernden Untergangs, wie ein Damoklesschwert über der „Titanic“ hing.
Kapitän Edward John Smith ordnete daher
fünf Minuten nach Mitternacht die komplette Evakuierung des Schiffes an. Daraufhin wurden die Passagiere mündlich durch die Besatzungsmitglieder über das sofortige Verlassen des Schiffes informiert. Kaum jemand schenkte diesen Anordnungen am Anfang ernsthaft Glauben, denn bis dato galt die „Titanic“ nicht nur in den Köpfen der Passagiere, sondern in der gesamten Öffentlichkeit als für unsinkbar. Aber die Botschaft war dennoch unmissverständlich und klar, das Schiff würde sinken und zwar innerhalb kürzester Zeit. Deshalb galt von nun ab nur noch der Birkenhead-Grundsatz, »Frauen und Kinder zuerst...«
Graf Lubomirski und seine Frau zogen sich
daher rasch ihre wetterfeste Kleidung über und legten zusätzlich, wie es in der Order festgelegt worden war, ihre Schwimmwesten an. Dann begaben sie sich auf das Oberdeck, wo von einigen Männern der Besatzung bereits die ersten Rettungsboote für die verunsicherten Passagiere klargemacht wurden. Zunächst ließ man tatsächlich nur Frauen und Kinder in den unterbesetzten Booten Platz nehmen. Die ersten Boote wurden bereits hinabgelassen, obwohl noch nicht einmal die Hälfte aller verfügbaren Plätze mit Passagieren besetzt war. Als der Graf sah, dass es keine reale Möglichkeit gab, dass er gemeinsam mit seiner Frau in eines der Rettungsboote würde steigen können, übergab er ihr auf dem
Oberdeck des schwer angeschlagenen Schiffes, das blaue Schachbuch. Er bat sie eindringlich sorgfältig auf das Büchlein zu achten, bis sie beide gemeinsam wieder in Sicherheit wären. Der Graf nahm es ihr als ein Versprechen ab und setzte seine Frau dann eigenhändig, in ein zum Wegfieren bereitstehendes Rettungsboot. Mit vielen beruhigenden Worten versprach er ihr, sobald als möglich nachzukommen, wenn sich nächste Gelegenheit dazu bieten würde. Das Rettungsboot seiner Frau glitt langsam außenbords, senkrecht an der steilen Außenhaut der „Titanic“ in die Tiefe hinab, während der Graf an Deck blieb und ihr so lange nachwinkte, bis das Boot mit seiner Frau die dunkle Wasseroberfläche erreicht
hatte und es buchstäblich von der umgebenden Finsternis verschluckt wurde. Das war das letzte Mal, dass Adele von Lubomirski ihren Mann gesehen hatte. Während sie gerettet wurde, ohne auch nur nasse Füße zu bekommen, hatte ihr Mann es nicht geschafft. Offensichtlich ist er mit dem sinkenden Schiff in die Tiefe gerissen worden und dabei ertrunken, wie so viele Passagiere mit ihm. Das einzige, was der Gräfin von ihrem Mann geblieben war, ist jenes blaue Schachbuch, das ihm selbst so wichtig erschien, dass er es ihr zur sicheren Aufbewahrung übergeben hatte und natürlich die Erinnerung an den letzten Kuss, den er ihr gab, als er ihr das unscheinbare Büchlein in die Hand drückte.
Als es sich bereits deutlich abzuzeichnen begann, dass der Graf von Lubomirski definitiv nicht zu den Überlebenden zählen würde, vergoss Adele bitterste Tränen, denn im Grunde ihres Herzens liebte sie den Grafen sehr. Als sie dann Wochen später in New York jenes Buch erneut in ihren Händen hielt, flossen im Beisein ihrer Schwester ihre Tränen wiederum sehr heftig, denn sie konnte es sich nicht erklären, warum ihrem Mann ausgerechnet dieses Buch so wichtig war. Aber Tatsache war, er hatte sehr daran gehangen und deshalb war es jetzt auch ihr wichtig geworden. Aus genau diesem Grund nahm sie das Schachbuch auch einen Monat später, als sie ihre Heimreise antrat, wieder mit zurück nach
Europa. Es sollte einen würdigen Platz in der erlesenen Bibliothek ihres Mannes bekommen, nahm sie sich fest vor. Als sie wieder daheim in Paris war, stellte sie das Büchlein tatsächlich in die Bibliothek ihres Mannes ein und eine eigens dafür angefertigte, kunstvolle gläserne Vitrine verlieh ihm Würde und einen Hauch von Bedeutsamkeit. Ein Brand, der wenige Wochen darauf völlig unerwartet in ihrem Haus ausbrach, vernichtete beinahe vollständig die kostbaren Werke ihrer Bibliothek. Nur mit Mühe konnte die eintreffende Feuerwehr einige wenige Bestände aus der umfangreichen und wertvollen Bibliothek des Grafen Lubomirski vor der lodernden Gluthölle des Großbrandes
retten. Wen sie allerdings nicht mehr retten konnte, war die Witwe des Grafen selbst. Adele von Lubomirski erlitt durch das Feuer eine derart schwere Rauchgasvergiftung, dass sie noch in derselben Nacht in einem Pariser Krankenhaus, an den Folgen dieser Vergiftung verstarb. Die Hitze, die sich durch diese gigantische Feuersbrunst entwickelt hatte war so gewaltig, dass Charlotte das Gefühl hatte, sie müsse jeden Moment zusammen mit ihrem papiernen Gefängnis verbrennen. Die gierigen Feuerzungen hatten allerdings schon, wenn auch nur kurzzeitig, an dem blauen Einband des Schachbuches geleckt, als das Glas der Vitrine in der Hitze zersplitterte. Dabei hatten sie es an einem der Buchdeckel oberflächlich
angesengt, was auch erklärte, wie jener deutlich sichtbare Brandfleck auf das hellblaue Cover kam. Ein paar Minuten später hätte Adele das Buch nicht mehr aus den Flammen reißen können. Indem sie das geliebte Buch ihres Mannes rettete, opferte sie paradoxerweise zugleich selbst ihr eigenes Leben. Hinter vor gehaltener Hand sprach man damals von einer vorsätzlichen Brandstiftung, was aber trotz des Einsatzes von Spezial-Brandermittlern der Pariser Feuerwehr niemals eindeutig bewiesen werden konnte. Da der Graf Lubomirski und seine Gemahlin selbst keine direkten Nachkommen hatten, kümmerte sich nun ein richterlich eingesetzter Nachlassverwalter um das umfangreiche Erbe
des Grafen. Dieses scheinbar so bedeutungslose blaue Schachbuch wollte allerdings auch niemand der ermittelten Erbberechtigten für sich beanspruchen. Und so kam das leicht feuergeschädigte Schachbuch über vielerlei Umwege von Paris nach Deutschland, wo es in einem technischen Antiquariat der Stadt Köln, zwischen anderen deutschsprachigen Schachbüchern seinen einstweiligen Platz fand. Während des Ersten Weltkrieges im Jahre 1915, hatte ein damals noch völlig unbekannter junger deutscher Offizier das Schachbuch in jener Kölner Buchhandlung gekauft und es mit in seine Ausbildungsbasis genommen. In seiner Freizeit las der Leutnant
viel darin und erfreute sich an den darin enthaltenen Meisterpartien. Charlotte hatte ein paar Mal versucht, zu ihm Kontakt aufzunehmen, aber es ist ihr leider nie so recht gelungen. Später dann wurde der Leutnant, der mit bürgerlichen Namen, Freiherr Manfred von Richthofen hieß, mit seinen Kameraden nach Frankreich an die Westfront verlegt. Er hatte das Büchlein mitgenommen und es anfangs meistens griffbereit bei sich getragen. Größtenteils hatte er aber nachts darin gelesen, wenn die militärischen Aktivitäten des Gegners etwas nachließen.
Er selbst war ein exzellenter Schachspieler und brauchte deshalb auch kein Schachbrett, um sich die Züge der hölzernen Figuren
vorstellen zu können. Einmal hatte er sich beim Lesen im flackenden Schummerlicht einer Kerze, eine Zigarette gedreht und sie angezündet. Plötzlich sei ein glimmender Tabakfunke von der Glut der Zigarette abgesprungen und genau auf der aufgeschlagenen zweiten Seite des Büchleins niedergegangen. Als der Funke hellrotglühend auf dem dünnen Papier landete, brannte er augenblicklich die Ziffer und den Buchstaben zu der Position des Läufers heraus, die ich knapp einhundert Jahre später vergeblich gesucht hatte. Dabei hatte sich Charlotte sogar ziemlich heftig verbrannt und sie würde nach ihrem Dafürhalten, wohl auch eine kleine dauerhafte Brandnarbe auf ihrem linken Oberschenkel zurückbehalten.
Da sie sich aber schon lange in diesem Buch befand, kannte sie mittlerweile schon alle Spielzüge komplett auswendig und konnte mir deshalb auch sofort die ausgebrannte Buchstaben-Zahlen-Kombination benennen, die mich zur Lokalisierung jenes schwarzen Läufers geführt hatte. Der Leutnant, Manfred von Richthofen, machte während des Ersten Weltkrieges eine mehrwöchige Ausbildung zu einem Kampfpiloten. Wegen seiner Erfolge im Luftkampf wurde er zum Oberleutnant, später sogar zum Rittmeister befördert. Er flog noch bis zum Frühjahr 1918 mit seinem signalrot angestrichenen Dreifach-Decker überaus erfolgreich etliche Einsätze gegen die RAF, die britische Royal Air Forces. Aus diesem
Grunde wurde der Pilot von seinen Gegnern besonders im Nachhinein, auch respektvoll „Der Rote Baron“ genannt. Manfred von Richthofen sei zwar in der Tat ein ausgesprochen kühner Krieger und gestandenes Mannsbild gewesen, aber dessen ungeachtet ist er trotzdem im Frühling des letzten Kriegsjahres an der Westfront von alliierten Jagdfliegern der RAF unter mysteriösen Umständen abgeschossen worden und dabei auf höchst dramatische Weise ums Leben gekommen.
Die Tragödie in ihrer sehr einseitigen Beziehung bestand darin, dass der Mann nie wirklich ein Wort mit Charlotte habe wechseln können, weil er an diese Dinge der telepathischen Verständigung nicht glauben wollte, oder konnte und alle
Näherungsversuche ihrerseits, stets nur als Humbug und Unfug abgetan hatte. Dauerhaft kommunizieren konnte Charlotte tatsächlich auch nur mit dem wirklichen Eigentümer des Buches und er selbst müsse es natürlich auch zulassen wollen. Wer sich dem konsequent verweigerte, wie es von Richthofen tat, mit dem würde sie natürlich auch nicht reden können. Nach dem Tode des Piloten wurde seine gesamte persönliche Habe, ebenso wie jenes dubiose Schachbuch, an seine Familie zurückgeschickt. Aber auch hier bekundete wiederum niemand ernsthaftes Interesse an dem Besitz des Büchleins und so wurde es erneut an ein entsprechendes Antiquariat, diesmal nach Berlin verkauft.
***
Kapitel 6
Erde, geliebte Erde...
Die Jahre der Weimarer Republik und die Wirren des Zweiten Weltkrieges überstand das Buch unbeschadet, aber ebenso unbeachtet in einem Lagerhaus eines Antiquariates in Berlin-Zehlendorf. Erst ein eher zufälliger Bombentreffer gegen Ende des Krieges zerstörte das Gebäude und gab einen Blick in das Innere der Ruine frei. Dort standen nun mehrere Hunderte von Büchern in den unversehrt verbliebenen Regalen und waren schutzlos den Unbilden von jeglichen Witterungseinflüssen ausgesetzt. Ein Offizier der US-Armee, ein gewisser Captain Ronald Spears, ein ehemaliger
Fallschirmjägerkommandeur, der schon seit dem D-Day in der Normandie dabei war, fand als erster das zerstörte Lagerhaus, das schon seit langem keinen Besitzer mehr hatte. Als cleverer Geschäftsmann erkannte er sofort den Wert des kostbaren Bücherschatzes, den er in Berlin gefunden hatte. Da sein Bruder Andrew in Houston/Texas selbst ein Antiquariat mit deutschsprachigen Büchern betrieb, ließ er die unbeschädigt gebliebenen Bücher in massive Holzkisten verpacken und verschickte sie via Hamburg mit dem Schiff in die Vereinigten Staaten. Ein paar Wochen später trafen die Kisten dann in Houston ein, wo die alten Bücher in den gut sortierten Regalen von Buchhändler Mr. Andrew Spears erneut ihren geordneten Platz fanden.
Während Captain Ronald Spears, als amerikanischer Kommandant in Berlin, in der Festung Spandau den letzten deutschen Kriegsverbrecher des Dritten Reiches, Rudolf Hess bewachte, verkaufte sein älterer Bruder Andrew, daheim in Houston schon fleißig die alten Bücher, die ihm aus Berlin zugesandt wurden. Später, wenn Ronald aus dem fernen Deutschland zurückkehrte, wollte er mit ihm den Erlös aus dem Verkauf der Bücher teilen. Aber wie der Zufall es wollte, kaufte lange Zeit kein einziger Interessent mehr das blaue Schachbuch, das dadurch mehr und mehr in Vergessenheit geriet... Eines Tages, im schwülwarmen Spätsommer des Jahres 1969, stürzte ein sportlicher Mann
mittleren Alters in das Antiquariat, um sich vor einem kräftigen Gewitterguss zu schützen, der von Galveston herüber kommend, heftig über Houston niederging. Der Mann hatte schon die ersten fetten Regentropfen abbekommen. Schnell schloss er hinter sich die alte Ladentür, als kurz darauf bereits ein heftiger Sturzregen gegen die Scheiben des Antiquariates prasselte. Lachend bedeutete er dem Buchhändler, dass er es gerade noch so bis in seinen Laden geschafft habe, bevor er noch völlig durchnässt wurde. Der alte Buchhändler lächelte, »Selbstverständlich können Sie hier im Geschäft solange abwarten, bis das Gewitter vorbei ist, Mister. Sie könnten die Zeit aber
auch nutzen und sich gern ein wenig bei mir umsehen. Vielleicht gefällt Ihnen ja ein Buch und wenn Sie sogar eines kauften, so sollte es Ihr Schade gewiss nicht sein.« Der Mann mit den grau melierten Haaren und dem militärischen Kurzhaarschnitt hob abwehrend die Hände und lachte erneut, »Der Regen, Sir, nur der Regen. Ich hab‘ leider nur sehr wenig Zeit und komme wegen des Studiums eigentlich kaum zum Lesen, geschweige denn zu etwas anderem.« »Verstehe«, meinte der Buchhändler, »jetzt, wo Sie hier aber witterungsbedingt einen kurzzeitlichen bildungstechnischen Leerlauf haben, da könnten Sie sich doch auch bei mir einmal umschauen. So kommen Sie erstens nicht aus der Übung und zweitens, sich nur
etwas umzusehen, das kostet Sie auch garantiert nichts, Mister.« Der Mann nickte, »Sie haben völlig recht, was soll’s, umschauen kann man sich ja mal.« Dann begann er durch die Regalreihen zu schlendern und betrachtete die alten Bücher. »Verkaufen Sie nur deutschsprachige Bücher, oder auch amerikanische?«, fragte er den Alten interessiert. »Vorrangig deutsche Literatur, aber ich hab‘ natürlich auch englische und amerikanische Bücher«, antwortete der Buchhändler. Der Mann nickte erneut, »Deutsch war nämlich auf dem College meine erste Fremdsprache, deswegen frag‘ ich nur.« Dann blieb er plötzlich vor einem kleinen
Regal stehen. »Donnerwetter, Sie haben ja sogar auch Schachbücher, wie ich sehe.« Hocherfreut nickte der Händler über das plötzlich erwachende Interesse seines zufälligen Besuchers.
»Ja, einige interessante Exemplare sind wohl auch darunter und wenn ich mich recht entsinne, sogar auch eines aus der Zeit kurz um die Jahrhundertwende, gespickt mit Schachmeisterpartien vom Allerfeinsten. Warten Sie mal, ich such‘ es rasch für Sie heraus. Wollen Sie sich nicht einen Moment an den Tisch setzten und aus der Thermoskanne dort einen Becher Kaffee trinken? Bedienen Sie sich doch bitte, ich komme dann gleich zu Ihnen.«
Der Grauhaarige stimmte zu und setzte sich
an den Tisch, während der Alte schwer auf seinen Stock gestützt, zu dem Regal mit den Schachbüchern schlurfte. Das Gewitter hatte nun seine volle Wucht entfaltet und wahre Sturzbäche von Regen ergossen sich über die Dächer der Stadt. Unentwegt zuckten grellweiße Blitze durch die Wolken und schlugen mit ihren vielfältigen Verästelungen in den Boden der Umgebung ein. Schwerer Donner rollte mit mehrfachem Echo über die Galveston Bay bis nach Houston hinüber. Das gewaltig ausgedehnte Tiefdruckgebiet hatte sich über dem Golf von Mexiko entwickelt und war nun landeinwärts gezogen. Mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn schaute der Mann durch das Schaufenster des Antiquariates auf den
strömenden Regen, der sich inzwischen zu einem wahren Wolkenbruch entwickelt hatte. Zum Glück war dies hier nur ein schweres Sommergewitter und kein Hurrikan, denn der hätte ihm womöglich richtig Kopfzerbrechen bereiten können. Während er noch darüber nachdachte, klopften drei Finger seiner linken Hand auf der hölzernen Tischplatte den exzellent simulierten Rhythmus eines rasch vorbeigaloppierenden Rennpferdes. Urplötzlich brach er dann das Hufgetrappel ab und goss sich einen Becher Kaffee aus der Thermoskanne ein. Vorsichtig nippte an dem schwarzen Gebräu. Der Alte hatte inzwischen gefunden, was er suchte und legte dem Besucher lächelnd das blassblaue Büchlein auf den Tisch neben seinen Kaffeebecher.
»Ah‘, die Meisterpartien aus der Zeit der Jahrhundertwende, zeigen Sie her, Mister«, rief der Fremde enthusiastisch aus. »Das ist so ziemlich das Einzige, was mich im Moment neben meinem Beruf noch interessiert. Schach. Na dann lassen Sie mal sehen«, sagte er und begann interessiert in dem Büchlein zu blättern. Plötzlich öffnete sich unerwartet die Tür zu einem Nebenraum. Ein Deutscher Schäferhund stürmte laut bellend in den Raum und sprang munter an dem Alten empor. Freudig leckte er ihm die Hand. Der Buchhändler drückte den Hund an sich und tätschelte ihm den Hals. »Bei Gewitter mag er nicht gern allein sein«, sagte er entschuldigend, »da ist er doch lieber immer bei mir, der Rex.«
Der alte Mann lächelte und versuchte seinen Hund etwas zu beruhigen. Der aber war durch das Gewittergrollen richtig aufgedreht und nachdem er dem Alten die Hand genug geleckt hatte, drehte er sich herum, hob seine Nase an den Tisch und roch eine Sekunde intensiv an den Schachbuch. Unvermittelt jaulte er auf und wich einen Schritt zurück. Dann lief er in einem kleinen Bogen auf den Besucher zu. Dort nahm er dessen Geruch auf und machte auf der Stelle abrupt wieder kehrt. Unglücklicherweise erwischte er mit seiner wedelnden Schwanzspitze den Kaffeebecher des Besuchers und warf ihn um. Die schwarze koffeinhaltige Flüssigkeit ergoss sich mit einem kräftigen Schwall über das Cover des Buches und zum Teil auch über die hellen
Hosen des Besuchers.
»Rex!«, rief laut mahnend der Alte, als er sah, welchen Schaden sein Hund angerichtet hatte. »Oh‘, das tut mir jetzt aber wirklich leid!«, bedauerte er das impulsive Verhalten seines Hundes. »Selbstverständlich werde ich für den Schaden aufkommen und Ihnen die Reinigung Ihrer Hose bezahlen. Mister …?«, meinte der Alte und reichte dem Besucher ein sauberes Papiertaschentuch. Der Mann hatte sich inzwischen erhoben, nahm das Tuch und tupfte erst seine Hosen und danach die Oberfläche des Buches damit ab. Ein brauner Kaffeefleck hatte sich aber bereits schon auf dem Oberschenkel ausgebreitet. Ein weiter sich auf dem blauen Buchdeckel verewigt. »Swigert, Jack Swigert«, sagte er und reichte
dem Alten die Hand. »Und das mit der Hose ist halb so tragisch, die kann man wieder waschen. Aber leider hat es auch Ihr schönes Buch erwischt und das wird man nicht so schnell herauswaschen können.«
Der Alte drückte die Hand von Swigert und winkte ab, »Andrew Spears, ...Buchhändler. Tja ich würde sagen, Pech gehabt, Jack, dann war das eben nicht zu ändern. Wissen Sie was, ich lass‘ Ihnen das Buch für einen Dollar, den muss ich nehmen, weil das Geschäft zur Hälfte meinem jüngeren Bruder gehört und für die Unannehmlichkeiten bekommen Sie meine Hälfte das Buches von mir geschenkt. Einverstanden, Jack?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber es ist
wirklich nicht nötig, Sir.«
Der Alte ließ sich jedoch nicht abbringen, »Mein Rex hat Ihnen Ihre Hose eingesaut und es ist an mir, dafür gerade zu stehen. Wenn mir der Laden allein gehörte, würde ich Ihnen das Büchlein jetzt kostenlos überlassen, aber so, … so bekommen Sie für einen Dollar, ein Büchlein mit wunderbaren Schachmeisterpartien aus dem letzten Jahrhundert, Jack.« Swigert lachte, »Wenn das so ist, Mister Spears…« Er griff in seine Hosentasche und zog von einer Rolle Dollarscheine, die mit einer Geldklammer zusammengehalten wurde, eine graugrüne Ein-Dollar-Note ab und reichte sie dem Buchhändler. Der legte sie in die Lade seines Verkaufstresens und entschuldigte sich
noch mehrmals für den Fauxpas. Inzwischen war das Gewitter weitergezogen und der Regen hatte beinahe schon aufgehört. Es tröpfelte nur noch von den Dächern und Bäumen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich bereits wieder ihren Weg durch die Wolkenfetzen. Swigert bedankte sich noch einmal bei dem Alten, steckte das Buch ein und verließ die Buchhandlung. Durch die regennasse Schaufensterscheibe beobachtete der alte Mann nachdenklich den Fußgänger noch eine Weile, bis dieser endgültig aus seinem Sichtbereich verschwunden war. *
11. April 1970, ...19.13.00 GMT
Cape Canaveral, Florida…
…Zündung! Nach dem Countdown vom Kontrollzentrum donnerten brüllend und fauchend, meterlange Flammen aus den fünf mächtigen Triebwerken der gigantischen Saturn-V-Trägerrakete... Sie sollte die drei Männer, die an der Spitze der Rakete zusammengepfercht, in einer winzigen Kommandokapsel saßen, in den Weltraum befördern. Zwischen riesigen Feuer, und Rauchsäulen hob die kolossale, 110 Meter hohe, weiße Rakete langsam vom Startplatz ab und schob sich sukzessive immer schneller werdend, in den azurblauen Himmel von Florida. Im Orbit sollte dann das Triebwerk noch einmal gezündet werden und unter dem Missionsnamen "Apollo 13" wollten die drei
Männer von dort aus dann Kurs auf den Mond nehmen. Zu Anfang schien auch alles gut zu laufen, aber nach einer simplen technischen Routineschaltung, bei der ein Ventilator den flüssigen Sauerstoff im Bordtank verwirbeln sollte, explodierte plötzlich einer der beiden Sauerstofftanks. Was den Raumschiff-Piloten von "Apollo13" dazu veranlasste, der Bodenstation den alarmierenden Funkspruch: »Houston, wir haben ein Problem...« zu senden... Durch diese Explosion wurde auch der zweite Tank arg beschädigt und ein großer Teil des lebensspendenden Gases verflüchtigte sich innerhalb weniger Stunden in den Weltraum. Danach schien nach Lage der Dinge die Mission gescheitert und es war sogar fraglich,
ob die drei Männer je wieder lebendig zur Erde zurückkehren würden.
Das Wasser ging ihnen aus und der verbliebene Sauerstoff wurde knapp. In einer spektakulären Rettungsaktion wurde in Windeseile die Mondlandefähre von der Besatzung zu einem funktionsfähigen 'Rettungsboot' umgebaut und das schwer beschädigte Raumschiff mit dem noch funktionierenden Triebwerk noch einmal kurzzeitig gezündet. Mit der dabei erreichten Beschleunigung wurde das schadhafte Raumschiff auf eine halbe Mondumrundung geschickt. Die Beschleunigung durch die Anziehungskraft des Mondes reichte nun aus, um "Apollo13" wieder auf einen erdnahen Rückkehrkurs zu bringen. Zu allem Übel
musste aber noch für viele Flugstunden der Strom abgeschaltet werden, sodass die Heizung ausfiel und die Temperatur in dem Mondlandemodul auf etwa 0°C sank. Auf so einen extremen Kälteausflug waren die Männer der Besatzung um Kommandant Jim Lovell, nicht gerade gut vorbereit worden und es kostete sie schon allerhand Mühe und Überwindung, dabei nicht den Lebensmut zu verlieren. Zumal sich noch ein weiteres gravierendes Problem einstellte, welches unbedingt behoben werden musste. Da die Mondlandefähre nur für maximal zwei Astronauten gebaut wurde, begann bald der Kohlendioxydfilter zu versagen und das anfallende Gas drohte nun die Atmosphäre im 'Rettungsboot' zu vergiften. Auf den intakten
Filter im Raumschiff konnte man nicht zurückgreifen, denn während der im Landemodul über eine runde Bauform verfügte, besaß der äquivalente Filter im Raumschiff, eine eckige Bauform. Eine Katastrophe bahnte sich an, denn die beiden Filter passten nun nicht ineinander und waren somit untereinander auch nicht austauschbar. Wenn man nichts unternahm, drohte der Besatzung in Kürze der Erstickungstod, hervorgerufen durch die eigenen Ausatmungsgase. Es wurde die Reservecrew auf der Erde alarmiert und die puzzelte aus eben diesen Teilen, welche auch im Raumschiff zu finden waren, unter Hochdruck und in mühseliger Kleinarbeit, einen funktionierenden Adapter zusammen. Dieses
Prozedere wurde dann per Funk an die Besatzung von "Apollo13" übermittelt. Im Raumschiff baute man dann im Heimwerkerstil, nach den Vorgaben der Bodencrew diesen Adapter erfolgreich nach, sodass eine Übersättigung der Atemluft mit giftigem Kohlendioxyd, gerade noch rechtzeitig verhindert werden konnte. Durch die kondensierende Atemluft hatte sich aber infolge der stark abgesunkenen Innentemperatur, eine Eisschicht an den Bullaugen der Landekapsel gebildet. Kommandant Jim Lovell rieb mit der Hand an dem Glas, um wenigstens für einen Augenblick freie Sicht auf den Weltraum zu haben. Die Erde konnte er zwar aus dieser Position nicht sehen, aber vielleicht reichte ja
schon ein Blick auf den sich entfernenden Mond.
»Tja, da fliege ich als einziger Mensch der Welt nun schon das zweite Mal zum Mond und wieder ist es Essig mit der Landung«, beklagte er sich etwas mit einem wehmütigen Blick auf den im leeren Weltraum immer kleiner werdenden Mond. Die beiden anderen Astronauten wussten, dass ihr Kommandant zwei Jahre zuvor mit "Apollo 8" schon einmal den Mond umkreist und nun natürlich auf eine Landung mit "Apollo13" gehofft hatte. Der Traum blieb jedoch eine Illusion. Man konnte von großem Glück reden, wenn man heil und in einem Stück, die Erde wiedersehen würde. Fred Haise, der Pilot des Mondlandemoduls nickte zustimmend, auch er hatte sich seine
Reise zum Mond anders vorgestellt. Nun kam er nur noch dazu, die Mondfähre zur Erde zurückzusteuern, gefesselt an ihr waidwundes Mutterschiff. Da die Anzahl der Mondmissionen begrenzt war, sah er für sich überhaupt keine Chance, noch einmal auch nur ansatzweise in die Nähe des Mondes zu gelangen. Der dritte Mann der Besatzung saß ebenfalls wie die beiden anderen, zitternd vor Kälte in seinem Sitz. Er war der Pilot des Raumschiffes und wäre ohnehin nicht auf dem Mond gelandet. Das Raumschiff hätte, solange die Landemission andauerte, im Mondorbit gekreist und auf die Rückkehr der beiden anderen Astronauten gewartet. Nun war er zur Untätigkeit verdammt und wartete, wie die anderen, auf die
Annäherung an die Erde. Wo man kurz vor dem Wiedereintritt in den Erdorbit das gestorbene Mutterschiff abkoppeln und den Rest des Weges in der Landekapsel zurücklegen würde, wenn überhaupt alles noch gut funktionierte. So saß er zähneklappernd, angeschnallt auf seinem Sitz und las mit zitternden Händen in einem schmalen blassblauen Büchlein. Ein entsetzliches Durstgefühl plagte sie alle ohnehin heftig. Allmählich begannen auch die Batterien in Haises Kassettenspieler zu versagen und die Musik der Rolling Stones fing an zu leiern. Kurz darauf verstummte auch der Lautsprecher des Abspielgerätes endgültig.
In die plötzlich eingetretene Stille hinein fragte
Lovell seinen Piloten, »Sag mal Jack, was liest du da eigentlich? Für eine Bibel ist das Buch zu klein, ebenso für einen Roman. Also was zum Teufel, liest du da?« Jack Swigert konnte sich trotz der Kälte ein Grinsen nicht verkneifen und antwortete zähneklappernd, »Was ich da lese Jim, ist das Allerschönste, was ich je in meinem ganzen Leben gelesen habe. Aber ich fürchte, du würdest es mir sowieso nicht glauben, selbst wenn ich es dir halbwegs verständlich erklären könnte.« »Es kommt auf einen Versuch an, Jack, erklär' es uns doch. Ich bin sicher, Fred hier, würde es auch gern wissen wollen«, sagte Lovell mit bereits blau gefrorenen Lippen. Dabei presste er die vor der Brust verschränkten Arme fest
an seinen Oberkörper, um so langsam wie möglich seine Körperwärme an die allmählich immer kälter werdende Umgebung abzugeben. Haise nickte trotz der extremen Kälte ebenfalls interessiert. Wieder grinste Swigert, »Weißt du Jim, das kann man nicht so einfach erklären, das ist genau so wunderbar und verrückt, als wenn man mit einer wunderschönen Frau zusammen wäre.« Lovell und Haise sahen sich verständnislos an. Wussten doch beide, dass Jack Swigert der einzige Junggeselle unter allen Apollo-Astronauten der NASA war. »Zeig sie doch mal her, deine hübsche Braut«, sagte er lächelnd und streckte die Hand nach dem Buch aus. Swigert klappte das Buch zu
und reichte es seinem Kommandanten. Der schlug es auf und begann nach einem anfänglichen Interesse, immer ungläubiger darin zu blättern. Dann stutzte er. »Du liest in einem Schachbuch, in einem deutschen gar noch dazu?«, rief Lovell überrascht aus. Swigert nickte verschmitzt lächelnd, »Siehst du Jim, ich wusste, du würdest mich nicht verstehen, es ist ja auch schwer zu begreifen.« Mit einem entgeisterten Seitenblick auf Haise, gab der Kommandant von "Apollo13" dem Piloten dessen blaues Schachbuch wieder zurück. »Du hast recht, Jack, Schach ist wirklich nicht leicht zu verstehen, aber jetzt wird es höchste Zeit, dass wir alle gesund wieder nachhause
zurückkehren.«
Dann wandte er sich an seine Kollegen, »Gentleman, es war mir eine Ehre, mit Ihnen gemeinsam diesen Flug gemacht zu haben und ich bin stolz darauf, Ihr Kommandant gewesen zu sein.« Daraufhin drückte er jedem der beiden völlig unterkühlten Männer fest und freundschaftlich die Hand. Kurze Zeit später kletterten die drei Astronauten in die Landekapsel und nach einem letzten langen Bremsimpuls des Triebwerkes, dockten sie vom Mutterschiff ab. Die Batterien wurden wieder zugeschaltet und auch der unterkühlte Bordcomputer konnte zum Glück aus seinem eisigen Tiefschlaf hochgefahren und reaktiviert werden. Eine halbe Stunde später dann tauchte die Landekapsel von "Apollo13" mit
einem hellrot glühenden Schutzschild in die Erdatmosphäre ein und begann mit dem Landeanflug auf die Erdoberfläche.
Die Besatzung von "Apollo13" konnte gerettet werden, nachdem die Kapsel erfolgreich im Pazifik gewassert hatte und bei der NASA sprach man über die Apollo-13-Mission fortan nur noch von einem...
"erfolgreichen Fehlschlag"... * Zwölf Jahre später jedoch, verstarb der Pilot von "Apollo13", John Leonard Swigert, genannt ‚Jack‘ in Washington an unheilbarem Knochenkrebs. Einige sehr persönliche Dinge von Swigert wurden im Museum aufbewahrt
und ausgestellt.
Eines Tages aber wurde in dem Museum eingebrochen und etliche unwiederbringliche Ausstellungsstücke gestohlen, darunter auch jenes blaue Schachbuch. Die Diebe öffneten nicht einmal das Buch und so hatte Charlotte nicht die mindeste Ahnung, wo und wie das Buch die nächsten Jahre verbracht hatte.
Nur, dass sie sich irgendwann im Jahr 2004 in Deutschland wiederfand. In schneller Folge wechselten von nun an die Besitzer des Buches, von denen kaum jemand mit Charlotte kommunizieren wollte. Die meisten waren alle nur auf sich selbst bedacht und folgten anderen Intentionen, als sich mit dubiosen Frauenstimmen aus Schachbüchern auseinanderzusetzen.
Aber ihre ungewöhnliche Begegnung mit dem Astronauten Jack Swigert, die würde Charlotte nie in ihrem Leben vergessen.
Mit einem charmanten Hinweis, dass sie ja im Grunde somit auch die erste französische Astronautin wäre und zugleich auch die Frau, die sich jemals am weitesten von der Erde entfernt hätte, beendete sie ihre unglaubliche Geschichte, die im wahrsten Sinne des Wortes, immer mehr einer Odyssee glich.
Aber trug denn nicht auch das Raumschiff "Apollo13" den Namen "Odyssey"?...
***
Kapitel 7
Die mörderische Suche
nach dem Schlüssel... Nachdem ich den letzten Teil der Geschichte von Charlotte vernommen hatte, mischte sich mein Stolz über den Besitz des Buches mit einem zunehmend bangeren Unbehagen, je mehr ich über die Konsequenzen nachdachte. Würde ich der Logik folgen, könnte ich zu der Schlussfolgerung gelangen, dass jeder rechtmäßige, ehemalige Besitzer dieses so unscheinbaren Büchleins eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Kaum hatte ich diese Gedanken zu Ende gedacht, da meinte ich auch Charlottes Lachen zu vernehmen.
»Du bist ein erstaunlich guter Beobachter«, äußerte sie mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme, der mich erschaudern ließ. »Niemals zuvor hat auch nur einer der Vorbesitzer einen Zusammenhang zwischen dem Besitz des Buches und dem unnatürlichen Tod seines Vorgängers hergestellt. Du bist wirklich der erste, der eine entsprechende Frage danach gestellt hatte. Aber du hast recht, es gibt da tatsächlich einen sogar ziemlich deutlichen Zusammenhang.« Sie schwieg und aus trockener Kehle brachte ich kaum mehr, als ein scheinbar alles verstehendes »Aha...« heraus. Wenn das wirklich der Fall war, dann konnte ich mir an fünf Fingern abzählen, was mein Leben noch
wert war und wie lange es zudem noch dauern würde, denn nur die allerwenigsten Leute kennen schließlich ihr eignes Verfallsdatum. Es kann ja kaum jemand an sich selbst lesen,
...Haltbarkeitsdatum bis, siehe …
Diese ungeheuerliche Erkenntnis ließ mich wahrlich erschaudern, denn schließlich bin ich bislang der letzte Besitzer jenes absolut tödlich wirkenden Büchleins, dessen unsäglicher Fluch aus dem 19. Jahrhundert noch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein zu reichen schien.
Aber diesmal war es Charlotte, die ein beruhigendes Wort in die angespannte Unterhaltung einbrachte, als sie meine Gedanken zu diesem Thema erfasste.
»Du kannst dich doch bestimmt noch erinnern,
was der schwarze Magier zu dem Doktor sagte, kurz bevor er starb?« »Ich glaube, er sagte so etwas wie, nicht in, oder nicht vor einhundert Jahren«, antwortete ich nachdenklich. »Gut aufgepasst, mein Freund«, lachte Charlotte, »und ich glaube, da liegt auch der wahre Schlüssel zu der Geschichte. Denn seit dem Jahre 2002, seit dem die prophezeiten, unheilvollen einhundert Jahre vorbei sind, stirbt auch keiner der Vorbesitzer des Buches mehr eines unnatürlichen Todes. Im Gegenteil, alle die das Buch nach dem 14. Februar 2002 je ihr Eigen nannten und es besessen hatten, leben heute noch und erfreuen sich bester Gesundheit«, erklärte sie mir erleichtert. »Nun ja«, sagte ich etwas nachdenklich
geworden, »2002 ist ja auch noch nicht so wahnsinnig lange her und vielleicht sind ja doch noch einige etwas später deswegen umgekommen?«
»Das glaube ich eher nicht«, meinte Charlotte leichthin, »denn alle Besitzer nach diesem ominösen Datum haben das Buch persönlich verkauft, oder es einfach nur weiter verschenkt, was früher ja völlig unmöglich war. So gesehen, ist das ist auch für mich bestimmt sehr gut, denn es gibt vielleicht doch noch eine realistische Chance, aus diesem papiernen Gefängnis zu entkommen. Nur, ich weiß nicht wie das überhaupt funktionieren soll. Aber vielleicht werden wir das sogar gemeinsam herausfinden und mich retten können. Glaubst du, dass es eines Tages
möglich wäre?«
»Möglich scheint mir jetzt vieles, nachdem ich dies hier erlebt habe. Ich denke dabei nur an eine einzige Logik, man hat dich in diese Lage hineingebracht, so wird man dich auch wieder da herausholen können. Auf jeden Fall müssen wir unbedingt diese verhängnisvolle Photographie von 1896 auftreiben, welche der Magier dem Grafen damals gezeigt hatte. Dieses Bild scheint mir in der Tat eine wichtige Schlüsselrolle zu spielen. Was war darauf zu sehen, Charlotte? Du musst dich unbedingt zurückerinnern. Es musste den schwarzen Magier besonders tief getroffen haben, denn er berief sich doch bei dem Grafen ganz genau darauf«, appellierte ich an ihr treffliches Erinnerungsvermögen.
»Man hat in diesen Jahren etliche solcher Bilder von mir gemacht, woher soll ich denn wissen, welches davon gemeint war? Fast alles waren erotische Bilder, denn sie verkauften sich einfach viel besser und ich bekam immer zehn Prozent vom Erlös. Davon konnte man damals schon halbwegs gut leben. Aber dieses besagte Bild hatte damals keiner der Anwesenden zu Gesicht bekommen, auch ich nicht. Alle haben nur die bedrohlichen Worte gehört, die dieser grauenerregende, schwarze Magier wütend ausgesprochen hatte. Sie alle, die damals diese Worte hörten, sind nun schon lange tot und niemand weiß mehr etwas davon«, erwiderte Charlotte wieder einmal ziemlich deutlich geknickt.
»Nun mach dir bitte keine Sorgen, erinnere dich lieber, ob es nicht einmal eine besondere Situation gab, unter welcher ein solches Bild entstanden sein könnte. Ein scheinbar zufälliger Besucher im Atelier, eine Polizeirazzia, ein besonders ausgefallener Wunsch eines Kunden, ein Voyeur, der vielleicht sogar beim Entstehen der Aufnahme im Atelier unbedingt dabei sein wollte. Oder sonst irgendwie eine ungewöhnliche Situation, an die du dich erinnerst, die im Zusammenhang mit einer von deinen erotischen Photographien stehen könnte. Was ist mit dem Kerl, der dich zwingen wollte, mit ihm zu schlafen?«, lieferte ich ihr die Stichworte und versuchte sie zu motivieren, intensiver darüber nachzudenken.
Aber Einhundertzehn Jahre sind natürlich auch eine sehr lange Zeit und in den Jahrzehnten der Einsamkeit, in welchen das Buch unbeachtet in irgendeinem Bücherschrank stand, in feuchten Kellern, oder auf staubigen Dachböden sein Dasein fristete, kann auch vieles in Vergessenheit geraten. Darum war es auch so wichtig, dass sich Charlotte deutlich an die aktive Zeit davor erinnerte und damit wir vor allem diese obskure Photographie von ihr wiederfanden, die immer wahrscheinlicher auch der Schlüssel zu ihrer Befreiung zu seien schien. Ein paar Tage danach klappte ich das Büchlein auf und hörte sie sofort laut und deutlich jubilieren. »Möglicherweise hab ich es jetzt gerade
herausgefunden, zumindest glaube ich es«, sagte sie und lachte. Nun war ich natürlich auf die Geschichte gespannt und bat sie, mir alles so ausführlich, wie nur irgend möglich darüber zu berichten, denn auch das kleinste Detail konnte überaus wichtig sein. So begann sie ihren dramatischen Bericht damit, dass sie im Sommer des Jahres 1898 eine Session bei Monsieur Auguste Belloc, Junior in dessen Atelier, in der Rue de Lancry 16 hatte. Schon Auguste Belloc, Senior war damals ein bekannter Pariser Photograph jener Zeit und nun hatte sein Sohn das Geschäft des Vaters übernommen und die Tradition erfolgreich fortgeführt.
Bereits im Vorfeld zu dieser Session wurde vereinbart, eine Serie von erotischen
Aufnahmen zu erstellen, die höchsten technischen und künstlerischen Ansprüchen genügen sollten. Belloc meinte, Charlotte sollte dazu zwei oder drei ihrer schönsten Kleider mitbringen und sich auf einen längeren Arbeitstag einstellen, denn diese Session würde wohl auf Grund der geplanten Aufnahmen, eine geraume Menge Zeit in Anspruch nehmen. So traf Charlotte denn auch schon am frühen Vormittag im Atelier des Meisters ein, der allerdings noch unterwegs war, um aus dem Lager ein paar unbelichtete Platten zu besorgen. Diese photographischen Platten hatte Belloc in seiner Werkstatt eigens für diese Session vorbereitet. In dem geräumigen Atelier war also nur sein langjähriger Geselle Gustave
anwesend, der Charlotte wie stets auf seine besonders liebenswürdige Weise empfing. Er mochte die junge Frau, weil sie ihm immer stets freundlich gesonnen war und ihm gelegentlich sogar auch mal ein paar Centime extra zusteckte. Gustave war nämlich taubstumm und der Meister hatte ihm eine Anstellung als Photographengesellen gegeben, weil er sich in jeder Situation bedenkenlos auf ihn verlassen konnte. Zudem war Gustave ein sehr geschickter Handwerker und außerdem haftete ihm quasi ein angeborener Hang zu einer äußerst verschwiegenen Diskretion an.
Charlotte saß in ihrem aufregendsten Kleid auf der neu angeschafften Chaiselongue im Atelier des berühmten Photographen und
wartete mit Ungeduld auf die Rückkehr des Maestros. Gustave hatte inzwischen die großen Fensterflügel zu der riesigen Veranda hin geöffnet und ließ das milde Pariser Sommerlicht in ganzer Breite und Schönheit in das Atelier hereinfluten. Gleichzeitig wehte von den Ufern der Seine eine erfrischende Briese durch das geöffnete Atelierfenster herüber.
Die Zeit vertrieb sich die junge Frau, mit einer Tasse frisch gebrühten Kaffees, die Gustave ihr unaufgefordert auf den Tisch gestellt hatte und mit einigen aktuellen Modejournalen, welche der Maestro für seine attraktiven Modelle immer bereithielt.
Plötzlich betrat ein sommerlich, elegant gekleideter Mann ziemlich hastig das Atelier.
Seinen hellen Zylinderhut hatte er so tief ins Gesicht gezogen, sodass sein Gesicht im Gegenlicht unmöglich zu erkennen war. Er warf die schwere, metallene Ateliertür kräftig hinter sich ins Schloss und stand völlig überraschend in einer wahrlich bedrohlichen Haltung vor Charlotte. Dann richtete er seinen schwarzen Spazierstock auf die junge Frau. Er drückte auf einen verborgenen Knopf im Griff des Stockes und ließ eine stilettartige Klinge aus der Spitze herausspringen, die er ihr aus sicherer Entfernung an den Hals hielt. Dann zog er eine Photographie aus seiner Tasche und zeigte sie Charlotte.
»Das bist du doch, du Hure, oder etwa nicht?«, stieß er gehässig hervor. Vor Angst wie gelähmt, starrte sie auf die Photographie
und nickte. »Zieh dich aus, ich werde dich jetzt so nehmen, wie du den Betrachter mit dieser Photographie provozierst, denn dies hier ist dein wahres Spiegelbild. Du bist so, wie diese aufgeilende Photographie. Du bist widerlich, obszön, verrucht und verdorben obendrein. Und noch eins, wage nicht zu schreien, es wäre dein letzter Schrei, Hure!«
Seine drohende Haltung unterstrich seine unmissverständliche Forderung und ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte aufkommen. Noch während Charlotte scheinbar wie fassungslos auf das postkartengroße Bild starrte, welches er ihr vors Gesicht hielt, folgte sie ihrer inneren Stimme. Und die flüsterte ihr zu, dass sie unbedingt handeln müsse, wenn
sie jetzt nicht sterben wollte. Noch nie fühlte sie sich dem Tode so nahe. Hilfesuchend wanderte ihr Blick zu der geschlossenen schweren Eisentür des Ateliers. Wo war Gustave? Aber sie hatte keine Zeit mehr auf ihn zu warten, konnte ihn auch nicht um Hilfe anrufen, da er sie ohnehin nicht hören würde. Sie war also gezwungen, sich selbst zu verteidigen. Instinktiv schüttete sie blitzschnell dem Banditen den kochend heißen Kaffee aus ihrer frisch aufgebrühten Tasse ins Gesicht. Der Fremde schrie vor Schreck und Schmerz auf und ließ völlig überrascht von einer derartig heftigen Gegenwehr seinen zur Waffe umfunktionierten Spazierstock auf den Tisch fallen. Soviel Courage hatte er der jungen Frau offensichtlich doch nicht zugetraut.
Geistesgegenwärtig ergriff Charlotte den Spazierstock und stieß ihm die ausgefahrene Stilettspitze durch seinen Oberarm hindurch. Der Unbekannte, der immer noch mit den Händen sein verbrühtes Gesicht abdeckte, brüllte erneut auf. Erst jetzt registrierte ihr Unterbewusstsein ein kleines, aber äußerst merkwürdiges Tattoo auf seinem rechten Handrücken. Es war eine Art winziger Kreis, der gevierteilt war. Wahrscheinlich ein Symbol, das sie aber an irgendetwas erinnerte, sie wusste nur nicht an was. Während der Angreifer vor Schmerz schrie, kippte Charlotte den Tisch vor ihm um und raffte in aller Eile ihr weites Kleid zusammen. Nun stürzte sie Hals über Kopf durch die aufgerissene eiserne Feuertür des Ateliers hinaus in das
Treppenhaus und versuchte möglichst schnell den Ausgang des Hauses zu erreichen. Das Blut pochte ihr im Hals und die Todesangst saß ihr im Nacken. Sie versuchte auf dieser Flucht nichts anderes, als nur ihr nacktes Leben vor den mörderischen Attacken dieses völlig unberechenbaren Wahnsinnigen zu retten und stolperte die Treppen hinab. Unterdessen befreite sich der Übeltäter mit einem wütenden Schmerzensschrei von der Spitze des eigenen Stiletts, welches bei Charlottes Gegenangriff abgebrochen und in dessen Bizeps steckengeblieben war. Es gelang ihm, sich die Spitze aus seinem stark blutenden Oberarm zu ziehen. Dann setzte er der jungen Frau ins Treppenhaus nach und warf aus der oberen Etage die Stilettspitze wie
ein Wurfmesser nach Charlotte, die inzwischen die massive Holztür zur Straße geöffnet hatte und mit einem Schritt bereits schon in der Freiheit stand. Der metallene Messerrest zischte durch das Treppenhaus, verfehlte sie allerdings knapp und blieb aber mit einem tief schwingenden Brummton, in dem hölzernen Querbalken über der Eingangstür stecken, wo er zur Überraschung der Polizei dann später auch gefunden wurde. Unverletzt gelang Charlotte die Flucht auf die Straße. Eine eher zufällig vorbeifahrende, schwarzlackierte Droschke hielt auf ihr aufgeregtes Winken auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Kurz darauf schlüpfte sie rasch durch die geöffnete Tür ins Innere der Kutsche. Der Kutscher ließ
die Peitsche in der Luft knallen und die Pferde zogen das Gefährt schnell wieder an. Nachdem die Droschke an der nächste Ecke abgebogen war, unterschied sie sich bereits nicht mehr von den anderen Kutschen und verschwand im dichten Pariser Verkehrsgewimmel. Später hatte Charlotte durch die Gazetten erfahren, dass Gustave, der stets freundliche Geselle des Photographen, tot in den hinteren Räumen des Ateliers aufgefunden wurde. Brutal mit einem Stilett erstochen, wie die gut informierten Boulevardblätter zu berichten wussten. Man vermutete einen dreisten Raubüberfall auf das renommierte Künstleratelier. Allerdings konnte von Beutemachen nicht groß die Rede sein, denn
es fehlte genaugenommen eigentlich nichts. Außer von dem Mörder und von dem fehlte selbstverständlich jede Spur. Obwohl man annehmen konnte, dass er bei dieser Attacke sogar selbst ziemlich schwer verletzt worden sein musste. Denn er hatte während seiner Flucht bereits jede Menge Blut verloren und diese blutige Spur zog sich durch das ganze Treppenhaus des Photographenateliers und verlor sich anschließend auf der belebten Straße. Trotz der Schwere der Verletzung war es ihm gelungen, unerkannt zu entkommen. Die abgebrochene Spitze des Stiletts konnte später nur äußerst mühselig aus dem Holzbalken entfernt werden. Eine spätere polizeiliche Untersuchung ergab, dass die abgebrochene Spitze exakt zu der
heimtückischen Tatwaffe passte, die als Spazierstock getarnt, in dem Atelier gefunden wurde. Die Polizei vermutete zum Tatzeitpunkt eine weitere Person in dem Atelier, die mit dem Mörder gekämpft haben musste, denn der Photographengeselle konnte gar keinen Widerstand leisten, er wurde mit dem Stilett meuchlings ermordet. Er hatte seinen Mörder nicht einmal kommen gehört. Belloc jun. hielt sich mit seinen Vermutungen der Polizei gegenüber deutlich zurück, auch von der vereinbarten photographischen Sitzung mit Charlotte Bonnet erwähnte er nichts. Da sie offensichtlich nicht getötet und von niemand gesehen wurde, wie sie sein Atelier betreten oder verlassen hatte, hielt er es wohl angesichts der Umstände für besser,
keinem von der geplanten Session mit dem stadtbekannten Modell zu erzählen. Dass Charlotte es fertig bringen würde, seinen langjährigen Gesellen Gustave, zu dem sie sonst im Übrigen ein sehr gutes Verhältnis hatte, heimtückisch mit einem Stilett zu ermorden, hielt er für ausgeschlossen, wie er ihr später, einige Monate nach der Bluttat zu verstehen gab. Auf Grund der Dramatik der Situation ist ihr aber das Bild, welches ihr der Mörder gezeigt hatte, deutlich in der Erinnerung geblieben. Es konnte also nur das Original, oder eine Kopie jener relevanten Photographie sein, die jener schwarze Magier Jahre später in das Schachbuch des Grafen getan hatte...
***
Kapitel 8
Die Amerikanische- Gedenk- Bibliothek
in Berlin...
Als Charlotte mir ihre haarstäubende Mörder-Geschichte zu Ende erzählt hatte, schwiegen wir beide erst eine ganze Weile. Dann fragte sie mich, ob ich noch da sei, oder womöglich schon in Ohnmacht gefallen wäre. Ich musste trotz aller Dramatik in ihrer Erzählung lächeln, denn Charlotte hatte mir diese abstruse Mordgeschichte in so lebendigen Farben geschildert, dass ich glaubte, vor meinen Augen liefe ein Actionfilm aus Hollywood ab.
Zudem meinte sie sich jetzt auch erinnern zu können, um welche Photographie es sich sehr wahrscheinlich gehandelt haben könnte. Zwar
habe sie den Angreifer von damals nicht wiedererkannt und sie konnte auch nicht beschwören, ob es sich um denselben Mann handelte, der sich vier Jahre später mit dem Grafen Lubomirski duelliert habe. Aber wenigstens glaubte sie mir jetzt, jenes ominöse Bild erklären zu können.
Bei dieser Photographie handelt es sich um ein Bild aus einer Serie, die 1896, also zwei Jahre zuvor in einem kleinen unbedeutenden Pariser Atelier entstanden ist. Den Namen des Photographen habe sie vergessen, dafür war es auch nur eine einzige Sitzung, aber die Bilder hatten es in sich und verkauften sich dementsprechend gut. Wie allerdings der Verbrecher an dieses Bild gekommen ist, konnte sie ebenfalls nicht sagen. Bestimmt
aber hatte er es illegal erworben, von jenem Photographen unter der Hand gekauft, wie es damals zu jener Zeit durchaus üblich war.
Soweit wie sie sich erinnere, sei es eine hochformatige, postkartengroße Photographie, in der Farbe von Chamois gewesen, aufgezogen auf festem Karton, was dem damaligen Zeitgeschmack entsprach.
Dieses Bild, es zeigte sie aufrecht stehend vor einem Sofa mit einer gehäkelten Tagesdecke, inmitten ihres, wie zufällig fallengelassenen weißen Kleides. Sie trägt auf dem Bild weiße Seidenstrümpfe und die helle Miederhose würde nur noch von ihren Oberschenkeln gehalten, ansonsten sei sie darauf unbekleidet gewesen. Jener Photograph hatte sie damals gewissermaßen in einer pikanten Pose etwas
aufreizend dargestellt. Es sei ihr allerdings ziemlich peinlich, jetzt darüber so detailliert zu berichten. Heute, wo sie doch schon eine Dame im gesetzten Alter wäre und nun nach so langer Zeit, sogar ihre Jugendsünden zum Gegenstand einer detektivischen Ermittlung würden. So etwas schicke sich nicht für eine erwachsene Frau, schon gar nicht für eine, die inzwischen schon das 137ste Lebensjahr vollendet hat. Aber was sollte sie machen, meinte sie, damals wäre sie jung gewesen und brauchte das Geld. Andererseits sei sie zum Zeitpunkt der Entstehung dieser pikanten Aufnahmen, erst knackige einundzwanzig Lenze alt gewesen und damit auch wohl im reizvollsten Alter, welches sich ein Mann nur wünschen könnte. Sie lachte zwar über die
Geschichte, aber dennoch konnte ich aus ihrem Lachen eine leichte Verlegenheit heraushören.
Es lag mir allerdings auch tatsächlich fern, mit erhobenem Zeigefinger den Moralapostel zu spielen, denn dass Charlotte ein bewegtes Vorleben hatte, lange vor meiner Existenz, war mir ja bestens bekannt. Mir ging es allein nur um die Fakten zu dieser alten Photographie und das, was ihr dazu eingefallen ist. Das war etwas Substanzielles, etwas Greifbares, womit sich auch etwas Handfestes anfangen ließ.
Ich begann also intensiv im Internet zu recherchieren und wurde schon nach relativ kurzer Zeit fündig, auch wenn es dem alten Buchhändler aus dem Berliner Antiquariat nicht passte. Wenn man gezielt nach etwas
suchte, hat man im Internet immer noch die größten Chancen zu einem Erfolg zu gelangen.
Ich hatte das Schachbuch aufgeschlagen neben meinem PC zu liegen. In Gedanken erklärte ich Charlotte jeden einzelnen meiner Schritte. Gleichzeitig informierte ich sie ausführlich und bildbeschreibend über die gefundenen Suchergebnisse. Nach etwa zwei Stunden hatten wir die Suche auf drei sehr ähnliche Bilder eingrenzen können, die aber offensichtlich alle zu ein und derselben Serie um die gesuchte Zeit herum angehörten die höchstwahrscheinlich alle das gleiche Modell zeigten, nämlich... ...Charlotte Bonnet.
Auch wenn unter allen Bildern, unbekanntes Modell und unbekannter Künstler stand. Was
mich jedoch zusätzlich in meiner Auffassung bestärkte, war die merkwürdige Tatsache, dass sich die gefundenen Bilder nicht aus dem Netz herunterladen ließen. Irgendjemand wollte anscheinend mit Macht verhindern, dass man an die materielle Form der Bilder gelangte. Komischerweise konnte man aber ähnliche Bilder auf den anderen Seiten problemlos downloaden. Demzufolge war mir schon klar, dass wir einen andern Weg finden mussten. Viel wichtiger aber war, dass unter den gefundenen Bildern auf den Webseiten immer der Ort und die passende Jahreszahl stand, nämlich Paris 1896...
Das allein war ein schon ein Grund zum Feiern und ich hatte Charlotte das allererste Mal sehen dürfen, auch wenn es nur auf einer
alten chamoisfarbenen Photographie aus dem späten 19. Jahrhundert war. Sie sah trotzdem so unvergleichlich liebreizend auf diesem 'antiken' Lichtbild aus. Es bedurfte längst nichts mehr weiter, als nur noch dieses einen Blickes auf diese alte Photographie und ich hatte mich unsterblich in die Frau aus dem 19. Jahrhundert verliebt. Nun, da ich jetzt sogar ihr Abbild in Form eines alten Lichtbildes gesehen hatte, war ich ohnehin restlos überzeugt von dem, was ich tat und verdoppelte meine Anstrengungen, sie aus diesem papiernen Gefängnis zu befreien.
»Was denkst Du, mon cher, wie geht es jetzt weiter mit uns?«, fragte mich Charlotte mit brüchiger Stimme, nachdem wir unseren Teilerfolg ein wenig gefeiert hatten. Dazu hatte
ich eine Flasche Sekt geöffnet, symbolisch zwei Gläser gefüllt und konnte aber leider nur mit mir allein auf diesen Erfolg anstoßen.
In Gedanken erklärte ich ihr die Situation, in welcher ich mich befand und wonach mir gefühlsmäßig diesem Augenblick der Sinn stand. Die verführerische Antwort, die sie mir gab ließ mich durch und durch, lustvoll erschaudern. Aber wir versprachen einander zärtlich zuflüsternd, uns die reale Erotik für später aufzuheben, bis wir wahrhaftig in der Lage waren, sie auch wirklich ausleben zu dürfen. Aber im Geiste, da gaben wir uns bereits den wildesten Ausschweifungen hin und zelebrierten in Gedanken eine Orgie der Gefühle.
Trotzdem saß ich, nachdem der Rausch
verflogen war ziemlich melancholisch vor meinem Rechner denn Charlotte befand sich immer noch in der fesselnden Enge ihres Gefangenendaseins, meines geliebten und auch so gefürchteten blauen Schachbuchs.
Waren wir am Ende womöglich doch zwei Königskinder, die nicht zueinander finden konnten?
Darauf konnte es an diesem Tag natürlich noch keine verbindliche Antwort geben, stattdessen versuchte ich ihr die aus meiner Sicht notwendigen, nächsten Schritte zu erläutern.
»Als Nächstes müssen wir an die materielle Form der Bilder herkommen, erst danach können wir uns dann an ein weiteres Experiment wagen. Ich glaube, der schwarze
Magier selbst hatte damals schon den entscheidenden Hinweis auf deine Befreiung gegeben, natürlich nur nicht so direkt und wortwörtlich, sondern eher durch die Blume gesprochen. Er hat es verpackt in eine Art Ränkespiel, auf ein Puzzle auf welches wir uns einlassen sollen. Aber die Lösung kann nicht aus der unendlichen Ferne unserer Galaxie kommen, sondern sie liegt hier, direkt vor unserer Nase. Wir sehen sie zwar noch nicht, aber sie ist zweifelsohne vorhanden und bereits in eine fast schon greifbare Nähe gerückt. Ich denke, wir müssen nur genauso alles das wiederholen, was der schwarze Magier euch allen am Abend des 14. Februar im Jahre 1902 im Moulin Rouge vorgemacht hat«, antwortete ich sehr zuversichtlich.
Ich vernahm ein lautes Schluchzen und mit bebender, tränenerstickender Stimme flüsterte Charlotte,
»Oh, ich liebe dich, mon amour. Es musste so viel Zeit vergehen, die größten beiden Kriege dieser Welt musste ich in die Gefangenschaft dieses Buches überdauern, um dir endlich begegnen zu können. Viele, die in diesen Zeiten um mich gerungen hatten und mich befreien wollten sind deswegen ums Leben gekommen. Der Fluch hatte sie alle getötet und nun habe ich das Gefühl, dass ich bald wieder frei sein werde und mit dir ein neues Leben anfangen kann.« Ich war ergriffen und seltsam berührt, von dem was ich aus Charlottes Gefängnis vernahm. Es kam direkt aus dem Herzen dieser Frau, die aber immer
noch mit allen Fasern ihres Lebens in diesem verdammten Buch feststeckte. Also noch kein Grund zu triumphieren, kein Grund in helles Jubilieren zu verfallen, denn alles war Theorie, eine Annahme, eine Hoffnung. Zugegeben, eine begründete Hoffnung, aber auch nicht mehr. Darüber hinaus war alles ein waghalsiges Experiment, mit einem äußerst ungewissen Ausgang.
»Du glaubst nicht wirklich daran, dass es gelingen wird, mich aus diese Buch zu befreien?«, fragte sie mit Enttäuschung in der Stimme. »Lüge mich nicht an, ich kann es spüren, wenn du lügst, mon cher.«
»Ich lüge nicht«, sagte ich, »ich mache mir nur Sorgen, ob das alles auch wirklich so funktioniert, wie ich mir das vorstelle. Was ist,
wenn irgendetwas schiefgeht und das ganze Gegenteil eintritt, denn es kann hierbei alles Mögliche schiefgehen. Ich kenne niemand, der vor uns schon einmal ein solches Experiment gewagt hätte. Das einzige, was wir machen können, ist unser Herz befragen, wie es weitergehen soll und nur das kann uns hierbei die Antwort liefern, wie es weitergeht«, versuchte ich sie gedanklich aufzumuntern.
»Ja, das werden wir«, sagte sie, »wenn ich dich jetzt küssen könnte, würde ich genau das jetzt aus tiefsten Herzen tun wollen.«
»Wir holen es nach, meine Liebste«, antwortete ich und es schnürte mir dabei die Kehle zu. »Lass uns erst mit dem richtigen Bild fertigwerden und das andere, was danach kommt, das wird sich alles finden«, versprach
ich ihr.
»Ich vertraue dir und akzeptiere alles was du unternehmen wirst, um unser großes Ziel zu erreichen. Ich lege mein Leben in deine Hand, mon amour. Tu, was du tun musst, ich bin mit allem einverstanden, was dazu nötig ist. Aber lass uns endlich damit beginnen«, sagte Charlotte mit tränenerstickter Stimme.
Nachdenklich klappte ich das Buch zu und strich zärtlich mit den Händen über den vom Alter gezeichneten, leinernen Buchdeckel.
»Du hast recht, es ist an der Zeit, das Richtige zu tun«, sagte ich leise und schob das Buch entschlossen in meine lederne Umhängetasche, packte meinen neuen mobilen Scanner noch mit ein und machte mich auf den Weg nach Berlin-Kreuzberg, in
die Amerikanische-Gedenk-Bibliothek.
Wo anders sonst konnte man auf eine solch große Auswahl an Büchern zurückgreifen, als dort. Da ich wusste, wonach ich suchen musste, war ich mir ziemlich sicher, auch das Passende dort in einem dieser Bücher zu finden. Es zu scannen und mit nachhause zunehmen, das war dann hoffentlich nur noch eine einfache technische Angelegenheit.
*
Im Lesesaal der Bibliothek suchte ich mir dann mehrere Bücher heraus, die sich alle mit dem Thema, alte historische, erotische Fotografien beschäftigten und türmte mir sie links und rechts auf dem Schreibtisch neben meinem Leseplatz auf. Den Leseplatz hatte ich so
gewählt, dass hinter mir niemand saß und die Leseaufsicht sich erst von ihrem Platz erheben musste, um mich überhaupt ins Visier nehmen zu können.
Bei der Leseaufsicht handelte es sich um eine spillrige, ältere Dame in einem grauen Kostüm. Sie trug eine große Brille und hatte ihre Haare zu einer grauen Haarzwiebel hochgesteckt. Sie sah wie ein jungfräulich, altbackenes gestrenges Fräulein Lehrerin aus. Noch drohte keine Gefahr, denn solange sie hinter ihrem Schreibtisch saß, konnte sie mich nicht einmal sehen. Außerdem hatte ich ja nicht die Absicht die Bücher zu beschädigen, oder zu verunstalten. Ein kleiner harmloser Scann und die Sache war erledigt. Zu diesem Zweck angelte ich meinen mobilen Scanner
aus der Tasche und legte ihn offen neben den Bücherstapel auf den Schreibtisch.
Irgendjemand hatte mir mal geraten, wenn du etwas wirklich geheim halten willst, dann hefte es mit einer Reißzwecke einfach an das schwarze Brett, da wäre es dann sicherer aufgehoben als im Fort Knox.
Den Speicher hatte ich allerdings zuvor aus dem Gerät entfernt und wollte ihn erst dann wieder einsetzen und aktivieren, wenn ich das richtige Bild gefunden hätte.
So vergingen die Stunden und ich blätterte ein Buch nach dem anderen bis zum Ende durch. Vor mir tauchten die hübschesten jungen Frauen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts auf und viele dieser erotischen Bilder waren sogar farbig
gestaltet und durch die Photographen nachträglich mit großem Aufwand von Hand nachkoloriert worden. So waren damals bereits ganz eigenständige kleine Kunstwerke entstanden, die alle Unikate waren und einen enormen Seltenheitswert besaßen. Aber hier in den Büchern waren sie für alle aufbewahrt und man konnte sie darin bestimmt noch in weiteren einhundert Jahren bewundern. Kaum vorstellbar, dass all die hübschen jungen Frauen auf den Bildern schon tot und begraben sein sollten. Aber leider war es tatsächlich so. Schon rein rechnerisch mussten sie alle schon ihr Leben gelebt haben. Bis auf eine, eine einzige, deren chamoisfarbene Lichtbilder ich immer noch suchte. Jedes Buch, welches ich mittlerweile
durchgesehen hatte legte ich wieder auf einen Stapel, nachdem ich mir zuvor den entsprechenden Buchtitel und das jeweilige Erscheinungsjahr auf einen extra Zettel notiert hatte. So musste ich später wenigstens nicht doppelt suchen, wenn ich heute noch keinen Erfolg haben sollte.
Noch knapp zwanzig Minuten, bis der Lesesaal schließen würde, als es mir plötzlich siedend heiß den Rücken herunter lief...
Da war sie...
Ich hatte tatsächlich gefunden wonach ich suchte. Charlotte Bonnet, auch wenn dort wieder nur unbekannter Künstler, wie auch unbekanntes Model stand. Aber ich besaß ein fotografisches Gedächtnis und das Bild welches die Aufschrift, Paris 1896 und die
Bildnummer 7-27 trug, hatte ich sofort wiedererkannt. Ich allein wusste, wer sie war und dass sie jetzt noch lebte. Irgendwie jedenfalls. Drei Bilder dieser Siebener Serie befanden sich von Charlotte in diesem Buch, wovon aber sehr wahrscheinlich nur das Bild mit der Nummer siebenundzwanzig infrage kam. Sicherheitshalber wollte ich jedoch alle drei Abbildungen speichern und griff nach dem mobilen Scanner. Ich schob die Speicherkarte in das Gerät und schaltete es ein. Für den Scan dieser drei Buchseiten im A4-Format hatte ich keine zehn Sekunden gebraucht.
Ein Knopfdruck und ich hatte den winzigen Datenspeicher mit den gesammelten Bilddateien unauffällig aus dem Gerät entfernt und ihn wieder sicher in meine Jackentasche
gleiten lassen.
Plötzlich stand hinter mir die Leseaufsicht, jene graue Eminenz, die mich schon zuvor so verdächtig gemustert hatte, als ich mehrere Stapel großformatiger Bücher zu meinem Leseplatz geschleppt hatte.
»Junger Mann, was tun Sie da?«, fauchte sie mich wütend an. »Wollten Sie etwa die Seiten aus dem Buch herausschneiden mit Ihrem Messer, oder was, Sie Flegel, Sie !«, donnerte sie nun lautstark los.
»Das liegt mir absolut fern, Verehrteste, außerdem ist dies kein Messer, sondern das ist ein elektronisches Präzisionsgerät. Zudem verbitte ich mir Ihren völlig unangemessenen Ton«, gab ich genervt zurück. »Ich habe auch nicht die Absicht, irgendetwas aus Ihren
exorbitanten Büchern herauszuschneiden, sondern ich suche lediglich nach etwas ganz Bestimmtem.«
»Das glaube ich Ihnen sogar aufs Wort, denn dazu reicht meine Phantasie gerade noch aus, um genauestens feststellen zu können, wonach Sie hier suchen, Sie… Sie…«
Sie schien förmlich außer sich vor Zorn und fand keine Worte. Schließlich hatte ich mich erhoben und schaute ihr von oben direkt in ihre stechenden Augen und dabei es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.
»Sie... was?«, fragte ich kühl, als ich ihre Augen gesehen hatte. Zwei winzige gelbliche Flämmchen züngelten in der Iris ihrer Augen.
Nun wusste ich, dass alles was mir Charlotte erzählt hatte, wahr gewesen ist und begriff
augenblicklich, was der Graf Lubomirski in der Nacht vor dem Duell mit dem schwarzen Magier, in dessen Augen gesehen hatte. Er hatte genau das Richtige getan. Ich hielt ihr den Scanner nun direkt vor ihr Gesicht.
»Im Innern dieses Gerätes befindet sich ein mächtiger Silberkontakt, der …«
Die Leseaufsicht riss die Arme hoch und hielt sie schützend vor ihr Gesicht,
»Sie lügen, Sie verdammter Bastard, verschwinden Sie von hier, verlassen Sie augenblicklich die Bibliothek, oder ich hole die Polizei!«, zischte sie leise. Ich lachte kalt.
»Ich gehe, aber wenn ich nicht das Richtige gefunden haben sollte, dann komme ich wieder und schreibe mit meinem Silberstift eine gepfefferte Beschwerde über Sie, die sich
gewaschen haben wird…«, postulierte ich frohlockend. Sie trat einen Schritt zurück hielt sich ihre Ohren zu und ihre Augen verdichteten sich zu schmalen Sehschlitzen. Die kleinen gelben Flammen in ihren Augen wurden eine Spur rötlicher.
»Verschwinden Sie«, fauchte sie mich wie eine wütende Katze an, »oder ich vergesse mich...«
Ich packte dem Scanner wieder in meine Tasche und ohne die Dame aus den Augen zu lassen, verließ ich den Lesesaal der Gedenkbibliothek.
Draußen auf dem Flur atmete ich erst mal kräftig durch. Altermirano, noch einmal Glück gehabt. Das hätte aber auch richtig ins Auge gehen können, dachte ich erleichtert. Denn die
Sache hatte sich also leider nicht damit erledigt, dass der Graf Lubomirski damals diesen schwarzen Magier im Duell getötet hatte. Die schwarzen Magier waren noch aktiv, wie ich soeben feststellen konnte. Aber irgendwie schien ihre Macht mit dem Tode des mächtigsten aller schwarzen Magiers angeknackst zu sein. Dennoch, ungefährlich waren sie deshalb bestimmt nicht. Silber schien auf jeden Fall das probate Mittel, sie im Zaum zu halten. Vor dem Silber fürchteten sie sich, es machte sie schwach und verwundbar. Ja man konnte sie mit Silber sogar töten, wie das Duell des Grafen bewies. Die Frage war nur, was machte sie stark? Das musste ich allerdings noch herausfinden. Zu meinem persönlichen Schutz beschloss ich daher mir
eine wirksame Waffe gegen die schwarzen Magier besorgen. Leider gab es keine solchen Messerklingen aus Silber, denn das machte natürlich auch überhaupt keinen Sinn. Wohl aber gab es silberne Brieföffner. Sicherlich würde sich ein entsprechendes Instrument in einem gut sortierten Antiquitätengeschäft vermutlich irgendwo auftreiben lassen. Ein silberner Brieföffner war kein Messer und daher auch relativ unverfänglich. Für Charlotte und mich aber konnte ein solcher silberner Brieföffner eines Tages unter Umständen vielleicht sogar überlebenswichtig sein. Mit diesen recht hilfreichen Überlegungen im Kopf verließ ich sogleich die Bibliothek und machte mich auf den Weg zum nächsten U-Bahnhof, um dann direkt nachhause zu fahren. Noch
während der Heimfahrt wollte ich Charlotte über meine neusten Erkenntnisse so schnell wie möglich informieren. Ich spürte beinahe körperlich, wie sich unsere eigentlich minimalen Chancen, den schwarzen Magiern zu entkommen, geradezu rapide verbessert haben mussten.
Als ich in der U-Bahn saß, nahm ich das dünne Schachbuch heraus und klappte es auf. Sofort vernahm ich Charlottes aufgeregt klingende Stimme in meinem Kopf.
»Jean, mon cher, pass auf, sie sind hier. Sie müssen hier ganz in der Nähe sein. Ich habe dasselbe Gefühl, als mich jener schwarze Magier in das Buch verbannt hatte. Jemand muss also da sein, der dich jetzt in diesem Augenblick beobachtet. Ich glaube, sie wollen
das Buch zurückholen um mich zu vernichten, gib auf dich Acht. Ich habe Angst um unser Leben.« Erschrocken klappte ich das Buch zu und schob es rasch zurück in meine Tasche. Ich hob den Kopf, um einen Rundumblick im Waggon zu nehmen. Dabei schaute ich mir die Fahrgäste in meiner unmittelbaren Umgebung doch etwas genauer an. Da war eine junge Frau mit pinkfarbenen Haaren, die ihre Augen geschlossen hielt. Sie hatte einen kleinen silberfarbenen Pircingring durch eine Augenbraue gezogen und trug einen dicken silbernen Ring durch einen ihrer Nasenflügel. Ganz offensichtlich lauschte sie den Klängen von Punkmusik, die leise aus ihren Ohrstöpseln drangen, während ihre Beine den Musikrhythmus mitwippten. Sie schied für
mich sofort aus. Silber an dieser Frau, das geht gar nicht, dachte ich. Eine ältere Frau saß mir gegenüber und schaute gelangweilt auf den Fahrgastmonitor, wo gerade ein Werbespot abgespielt wurde. Auch sie trug einen breiten Silberring an ihrem Finger.
Ein langer Mittdreißiger in Jeanshosen und schwarzweiß karierter Italo-Jacke stand in der Nähe der Wagentür und las im Innenteil einer reißerisch aufgemachten Tageszeitung. Hin und wieder warf er einen unkonzentrierten Blick über den Zeitungsrand auf die mitfahrenden Fahrgäste. War er derjenige? Das konnte ich nur herausbekommen, wenn ich an der nächsten Station ausstieg und darauf achtete, ob er mit mir den Zug verließ.
Die nächste Station war das Kottbusser Tor in
Kreuzberg. Der Kotti also, ein Bahnhof, auf dem ich mich fabelhaft auskannte, ebenso in der Umgebung. Während der Zug in den zuvor genannten Bahnhof einfuhr, hatte ich schon meine Tasche umgehängt und blieb aber noch sitzen, als der Zug anhielt. Der Typ in der karierten Jacke blieb weiter stehen und las in seiner Zeitung. Eine Sekunde bevor der Zug abfuhr, sprang ich auf und drängelte mich durch die bereits hinzugestiegenen Fahrgäste hinaus auf den Bahnsteig und rannte die Treppe hinab auf die Straße. Denn die U-Bahn fährt auf der Linie1 in dieser Gegend als Hochbahn auf dem Straßenviadukt. Während sich die Türen schon wieder schlossen, quetschte sich im letzten Moment doch noch jemand hindurch nach draußen auf den
Bahnsteig.
Der Kerl mit der karierten Jacke...
Charlotte hatte also recht. Ich musste ihn unbedingt loswerden. Da ich jedoch in dieser Kreuzberger Gegend recht gut Bescheid wusste, beschloss ich dem karierten Typen eine Falle zu stellen. Ich rannte etwa gute einhundert Meter die Skalitzer Straße entlang und stürzte dann in einen dunklen Hausflur mit einem langen Durchgang, von dem ich sichere Kenntnis hatte, dass der Hofausgang auf drei verschiedene Straßenzüge hinausführen würde. Alle Ausgänge durch einen einzigen Verfolger gleichzeitig kontrollieren zu können, schien mir unmöglich. Er würde sich schon für einen von diesen drei Ausgängen entscheiden müssen. Außerdem wollte ich nicht einfach so
verschwinden, ohne zu wissen, wer genau mir da folgte. Deshalb benutzte ich zunächst erst einmal keinen der erwähnten Ausgänge, sondern hielt mich im Treppenhaus hinter einem breiten Stützpfeiler verborgen.
Ich hatte keine Sekunde zu früh meinen gut gewählten Beobachtungsposten bezogen, als sich tatsächlich die schwere Eingangstür knarrend öffnete und eine großgewachsene Gestalt rasch den abgedunkelten Flur betrat.
Der Anblick dieses Mannes allerdings ließ mich doch heftig erschaudern. Es war tatsächlich jener suspekte Kerl in der karierten Jacke, den ich zuvor schon in der U-Bahn wahrgenommen hatte. Als er den schweren Torflügel wieder geschlossen hatte, flammten urplötzlich seine Augen gespenstisch auf und
verbreiteten in der Dämmerung des alten Hausflures eine extrem grelle Helligkeit. Mit diesem gleißenden Licht suchte er den Flur nach meiner Person ab. Ich wagte kaum zu atmen und quetschte mich dicht an den massiven Pfeiler. Langsam kam er näher und leuchtete dabei mit seinen brennenden Augen den gesamten restlichen Flur aus. Ganz dicht ging er an dem Pfeiler vorbei auf den Hofausgang zu. Am Tor verlosch das Feuer in seinen Augen und er zog nun die schwere Flügeltür zu dem Hof mit den drei Ausgängen auf. Nach einem Rundumblick verschwand er im Hinterhof. Erleichtert atmete ich auf. Niemals zuvor hatte ich ein solch schauriges Erlebnis. Was hatte ich überhaupt für eine Möglichkeit, mich gegen diese schwarzen
Magier und ihre Helfer zu schützen? Mir blieb vorerst nur der Gedanke an das blanke Silber. Eine halbe Stunde später verließ ich mein sicheres Versteck. Ich lief durch die inzwischen eingetretene schützende Dunkelheit, wie ein Hase Haken schlagend, über Schleichwege und Nebenstraßen zu Fuß nach Hause zurück. Unterwegs machte ich jede Menge Umwege und kontrollierte sicherheitshalber mehrmals, ob mir irgendjemand auf meinem Heimweg nachfolgte. Die Lust am Bahnfahren war mir jedenfalls erst einmal gründlich vergangen...
***
Kapitel 9
Die chamoisfarbene Photographie... Wieder daheim, ließ ich sofort meinen Computer hochfahren und machte mich im World Wide Web auf die Suche nach den schwarzen Magiern. Ich musste herausfinden, wer sie waren und was sie in dieser Welt trieben. Vor allem aber, wie man sich vor ihnen schützen konnte. Ich war mir sicher, es würde genügend Hinweise geben. Bei meiner Suche hatte ich verstärkt auf Zusammenhänge mit dem Element Silber achten. Dass Silber sie schwächen konnte, das war mir inzwischen klar, aber was machte sie stark, was brauchten sie für den Erhalt und die Ausweitung ihrer Macht? Es musste ein
Pendant geben, was auch immer es war. Es dauerte auch gar nicht lange und schon verdichteten sich die ersten Erkenntnisse. Auf einer merkwürdigen südafrikanischen Website fand ich das Symbol der schwarzen Magier welches mir Charlotte beschrieben hatte, als sie in Paris von dem Mörder mit dem Tattoo auf dem Handrücken gejagt wurde. Den geschlossenen Kreis mit den vier gleichgroßen Tortenstücken. Der geviertelte Kreis bedeutete, die Einheit aller vier Elemente, des Feuers, des Wassers, der Erde und der Luft. Der Kreis symbolisiert darüber hinaus den Planeten Erde, über welche die schwarzen Magier mit Hilfe dieser vier Elemente herrschen wollten. Zu ihrem Pech endeten ihre Machtbestrebungen gar zu
rasch, als der oberste der schwarzen Magier in maßloser Selbstüberschätzung von dem Grafen Piotr von Lubomirski zufällig von einer silbernen Kugel während eines Duells tödlich getroffen wurde. Der Graf war nämlich irrtümlich der Meinung, es handele sich bei dem schwarzen Magier um einen bestimmten Typ Wolf. Solche Wölfe hatte er schon Jahre zuvor in den finsteren dichten Wäldern Polens, mit Silberkugeln erfolgreich gejagt. Dieser schwarze Magier aber hatte erst kurz zuvor von den mächtigsten schwarzen Dämonen den Status als oberster schwarzer Magier erhalten und wähnte sich daher in maßloser Selbstüberschätzung bereits als unschlagbar, was er unter normalen Umständen auch gewesen wäre. Wenn sich
sein Duellant fatalerweise nicht so geirrt hätte. Ironie des Schicksals, nennt man im Volksmund einen solchen Fauxpas. So starb dieser schwarze Magier, ohne seine Aufgabe erfüllt zu haben. Was allerdings seine Aufgabe war, konnte nicht geklärt werden. Und ein neuer oberster schwarzer Magier würde nicht vor hundert weiteren Jahren in diese bedeutsame Position gelangen können. Während diese 100 Jahre allerdings jetzt schon längst wieder um waren. Sehr viel mehr verriet diese Seite über die schwarzen Magier nicht und die Übersetzung aus Afrikaans war auch nicht gerade sehr hilfreich, so dass ich von dieser Seite leider nur den Kern halbwegs sinnverstehend übersetzen konnte. Viele seltsame
Randbemerkungen blieben zum Teil unberücksichtigt, weil bei der wortwörtlichen Übersetzung nur ein einziges Kauderwelsch herauskam, mit dem auch Charlotte nichts anfangen konnte, als ich sie danach befragte. Glücklicherweise fand ich dann später noch eine isländische Web-Site, in der sich ein bekannter isländischer Autor über Sagen und Geschichten mit Trollen und Kobolden äußerte. Nebenbei widmete er in diesem Artikel auch ein ganzes Kapitel ausschließlich den schwarzen Magiern. Darin hieß es, dass die schwarzen Magier das geviertelte Erdsymbol benutzen um ihre Macht überall auf dem ganzen Planeten auszubreiten und nur aus zwei Elemente des Periodensystems ihre Kraft bezögen. Zum
einen durch die Anwesenheit von Kohlenstoff in jeglicher Erscheinungsform und zum anderen, aus der Abwesenheit von Silber. Je mehr Kohlenstoff, umso stärker und größer die Macht der schwarzen Magier. Kommt allerdings Silber ins Spiel, schwindet ihre Macht. Ein Gehilfe der schwarzen Magier, oder dessen unterste Kaste muss sich mit simpler Kohle, oder Anthrazit begnügen. Während schwarze Magier mit viel Macht, auf Kohlenstoff in seiner reinsten Form zurückgreifen können, zum Beispiel auf den Besitz von Diamanten. Nun war mir auch klar, warum die Photographie von Charlotte mit der Zeit so extrem nachdunkelte und am Ende gar verschwand. Die schwarzen Magier haben
alles darangesetzt, um wenigstens die optische Erinnerung an Charlotte Bonnet auszulöschen. Niemand sollte sie jemals wiedererkennen oder auch sich ihrer erinnern. Deshalb nutzten sie ihre noch verbliebene Macht und wandelten die Brom-Silberhaloide, die in jenem Foto enthaltenen sind, welches auf chemischem Wege entstanden ist, durch chemische Reduktion in metallisches Silberoxyd um. Sie aktivierten diesen Umwandlungsprozess, bis das ehemalige Bild komplett geschwärzt worden ist und somit verschwunden war. Danach ist ein solches Bild für den Besitzer im Grunde genommen eigentlich wertlos. Die modernen digitalen bildgebenden Verfahren benötigen kein Silber mehr, um farbige Fotografien oder auch nur
monochrome schwarzweiß Bilder detailgetreu darzustellen. Sie werden nur noch mittels Pixel erstellt und darauf haben die schwarzen Magier keinen Einfluss. Also konnte ich die gescannten Bilder aus der Amerikanischen Gedenkbibliothek problemlos in meinen Computer einspeisen und die ehemaligen, auf Silber basierenden Fotos in den digitalen Modus übertragen. Es war mir mit Hilfe eines modernen Laserdruckers und den erhalten gebliebenen Originalmaßen sogar möglich, diese uralten Schwarz-Weiß-Fotos wieder komplett neu entstehen zu lassen. Ein Kinderspiel, wenn man weiß wie es geht...
Charlotte war völlig aufgedreht, weil doch bald ihre Fotos von vor über 116 Jahren wieder sichtbar gemacht werden sollten. Ich konnte sie kaum beruhigen und immer wieder fragte sie nach, ob denn nicht schon längst etwas von ihr zu sehen sei Aber noch war ich nicht so weit. Auch ein technisch berechenbarer Weg braucht halt seine Zeit. Fünfzehn Minuten später geschah dann ein kleines Wunder, zumindest für Charlotte. Nach dem letzten Zuschnitt entstand auf dem Monitor ein hochformatiges, postkartengroßes, chamoisfarbenes Foto, welches ein attraktives Erotikmodel aus dem späten 19.Jahrhundert in einer erstaunlich guten Bildqualität zeigte.
Da war sie, jene Charlotte Bonnet in jungen Jahren. Nun galt es nur noch das Bild auf
einen festen Karton auszudrucken und wir hatten den bildtechnischen Zustand vom Abend des 14.Februars aus dem Jahre 1902, dem 27. Geburtstag von Charlotte Bonnet wieder hergestellt. Ich berichtete Charlotte gleich darüber und beschrieb ihr das Bild ausführlich in allen Details.
Dann hörte ich sie aufschluchzen, »Bis heute hat es niemand geschafft, auch nur halb so weit zu kommen, um mich aus diesem Gefängnis zu befreien, mon cher. Ich weiß, dass es dir bestimmt gelingen wird, ich bin mir dessen nun sicher.« So sehr ich sie auch verstehen konnte, aber wir waren keine schwarzen Magier, die sich darauf verstanden, bestimmte Dinge zu ihren Gunsten zu gestalten. Ich wünschte, ich
könnte Charlottes Optimismus teilen, denn noch war leider gar nichts gewonnen. Nicht einmal der Weg war uns klar, wie wir ihre Flucht aus diesem Buch gestalten wollten. Es war alles ein bisschen wie „Blinde Kuh“ zu spielen und immer mit dem Risiko im Nacken, dass sich ein vermeintlicher Erfolg durch einen fatalen Unwissenheitsfehler justament in sein genaues Gegenteil verkehren kann. Aber immer schön eins nach dem anderen. »Lass uns doch zuerst einmal das Bild ausdrucken, damit hätten wir erst einmal etwas in der Hand, als Basis sozusagen. Der nächste Schritt will dann auch ebenso gut überlegt sein, denn noch wissen wir nicht, wo wir das fertige Bild in dem Buch deponieren müssen und für wie lange es dort verbleiben
muss. Also wenn du einverstanden bist, drucke ich nun das Bild aus. Ich tue es nicht, wenn du anderer Meinung bist. Wenn du Angst hast, dass etwas schief gehen könnte, dann lassen wir es«, gab ich zu bedenken. »Tu es, mon cher, es macht keinen Sinn mehr, nach so langer Zeit noch vor Versuchen Angst zu haben, die mir die Freiheit bringen könnten. Zum Angsthaben hatte ich lange genug Zeit. Ich hätte bereits aufgelöst auf dem Grund des Atlantiks liegen können, oder wäre mit dem Flugzeug des Rittmeisters in der Luft explodiert, oder ich wäre im Höllenfeuer der brennenden Bibliothek des Grafen zu Asche verbrannt. Genauso gut hätte das Raumschiff nicht zur Erde zurückkehren können und ich wäre für alle Zeit im Weltall verschollen. Jetzt
werden wir den Weg zu Ende gehen, mon cher«, meinte Charlotte und ihre Stimme klang dabei fest und sicher. »Das wollte ich hören, mon chérie«, sagte ich leise lächelnd und küsste sanft den blassblauen Buchdeckel meines Schachbuches. Ein Knopfdruck und der Laserdrucker führte präzise den ihm gegebenen Befehl aus. Zehn Sekunden später hielt ich jenes ominöse Foto in den Händen, welches vor über 116 Jahren dazu diente, Charlotte in das Schachbuch zu verbannen. Der Grund, warum diese verbrecherische Tat geschah, war mir zwar immer noch nicht klar, aber wir waren nahe dran, diesen unglaublichen Vorgang wieder rückgängig zu machen. Aus meiner Sicht sah
es jedenfalls so aus. Ich klappte das Schachbuch auf und berichtete meiner unsichtbaren Geliebten, was ich auf dieser Photographie sah... Ihre Gedanken sprudelten nur so aus ihr heraus. Deutsche und französische Brocken überschlugen sich und gingen ineinander über, womit sie mir eigentlich nur mitteilen wollte, wie glücklich sie über diesen Erfolg war. Ich dämpfte ihren Optimismus ein wenig, da es ja noch einiges zu klären gab. Zum Beispiel, wie wichtig es wäre, wo wir ihr Foto zwischen welchen Seiten des Buches platzieren müssten, um den Prozess erfolgreich umzukehren. »Ich denke, einiges wird relativ einfach sein«,
sagte ich, »zum Beispiel, wie lange das Bild da drinnen bleiben muss. Das werden wir spätestens wissen, wenn es geklappt hat. Wir sollten nur die Bedingungen so genau wie möglich einhalten, wie sie am späten Abend des 14. Februars 1902 durch die Situation im Moulin Rouge vorgegeben waren. Es war dein siebenundzwanzigster Geburtstag, also genau genommen, der Übergangstag von deinem 26. zum 27. Da ein Buch immer mit einer geraden Zahl auf der linken Seite beginnt und die rechte Seite immer eine ungerade Seitenzahl anzeigt, kommt für mich nur der Platz zwischen den Seiten 26 und 27 in Betracht. Ich denke, dass dein Bild genau dort zwischen ebendiesen Seiten platziert wurde«, erklärte ich ihr. »Wenn du eine gegenteilige Ansicht
vertrittst, oder der Meinung bist, dass ich etwas übersehen habe, musst du es mir sofort sagen. Fehler können wir uns nicht erlauben, da wir absolut nicht wissen, was passieren wird. Über die angedrohten einhundert Jahre, brauchen wir uns wohl keine Sorgen zu machen, denn die waren ja schon am 14. Februar 2002 um. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde diese magische Versiegelung schon längst aufgehoben, denn jener schwarze Magier deutete es bereits im Sterben schon an... Wenn du mich fragst, klingt das alles ziemlich deutlich nach dem Dornröschen-Effekt. Denn genau einhundert Jahre nach dem Stich an der Spindel, der die junge Königstochter in einen komatösen Dauertiefschlaf versetzt
hatte, öffnete sich bei Dornröschen die Dornenhecke von allein, die zuvor ein ganzes Jahrhundertlang angeblich undurchdringlich war und in der so viele edle Ritter einen furchtbaren Tod fanden. Du erinnerst dich?«, fragte ich Charlotte. Sie lachte, »Selbstverständlich erinnere ich mich an dieses französische Märchen, mon cher. Im Kinderheim für Waisenkinder wurde es uns immer von den Nonnen vorgelesen. Diese Märchen waren für uns immer das schönste, was uns dort überhaupt geboten wurde. Wir konnten dabei für einige Zeit unser trauriges Zuhause vergessen und lauschten atemlos den phantastischen Geschichten der Nonnen, in denen meistens das Gute siegte und das
Böse bestraft wurde.«
»Nun, ich dachte dabei mehr an die deutschen Gebrüder Grimm, die dieses Märchen in ihrem Buch aufgeschrieben hatten«, erwähnte ich mit einem Quäntchen Stolz auf die beiden Märchenbrüder aus Hanau. Charlotte lachte wieder, »Das glaube ich, dass du das denkst, aber die Originalform kommt aus Frankreich und heißt, "La belle au bois dormant". Was übersetzt so viel bedeutet, wie, „Die schlafende Schöne im Wald“. Ich glaube, es stammt von Charles Perrault und ist bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich erschienen.«
Ich war verblüfft über ihre profunde Kenntnis der Märchenwelt und zollte ihr meinen Respekt.
»Weißt du, mon cher, wenn man die meiste Zeit seines Lebens in Bibliotheken und Bücherschränken verbringt und das meine ich wörtlich zu verstehen, da bekommt man im Verlauf von vielen Jahrzehnten, so manches mit«, erklärte sie mir lachend. »Okay, dann hätten wir das auch geklärt, meine erwachte Schöne aus dem Buch. Dornröschen wurde also nur wachgeküsst und damit war für sie die Sache erledigt, fuhr ich fort, aber bei uns, da liegt der Fall ein ganz klein wenig anders. Wir müssen ein paar Bedingungen mehr einhalten, obwohl ich dich auch gern wachgeküsst hätte«, schmunzelte ich und griff nach dem Schachbuch. Wissbegierig schlug ich die Seite 26 auf. Auf dieser Seite wurde die siebente Partie der
Schach-Weltmeisterschaft von 1889 zwischen dem russischen Herausforderer Tschigorin und dem deutschen Weltmeister Wilhelm Steinitz in Havanna wiedergegeben, welche der Russe am Ende gewann. »Da hast du es, sagte ich triumphierend, die siebente Partie. Auf deinem Foto steht 7-27. Das Bild zeigt exakt dich als Person und bist du nicht auch als das siebente Kind in deiner Familie geboren worden? Das alles kann doch kein Zufall sein, diese spezielle Auswahl galt meines Erachtens nur dir. Vielleicht gibt es sogar noch mehr Verweise, die zu dir führen, die wir nur noch nicht kennen. Außerdem der mörderische Angriff im Jahr 1898 auf dich in dem Atelier von Belloc jun., wo dir der Mörder von Gustave das betreffende Foto vorgehalten
hatte. Das passt doch alles zusammen wie ein Puzzle, man muss es auch nur so lesen können«, frohlockte ich. Mir war, als hörte ich Charlotte kurz ganz leise aufstöhnen. Ich konnte mich aber auch geirrt haben, deshalb fragte ich sie, »Was meinst du, cheri, sollen wir es wagen, heute Nacht das Bild in das Buch zu tun und auf den morgigen Tag warten?« Erleichtert atmete sie auf. »Jean, mon amour, du hast bis jetzt immer gute Argumente gefunden, unsere Geschichte voranzutreiben, ich glaube du liegst auch jetzt mit deine Vermutungen bestimmt richtig. Ich denke, wir sollten es versuchen«, meinte Charlotte vorsichtig, als wiege sie im Geiste das Für und Wider gegeneinander ab. Ich hatte diese Antwort irgendwie erwartet und
musste ihr zustimmen. Außerdem gab es immer ein ‚Und wenn‘. Man kann niemals immer allen möglichen Unwägbarkeiten ausweichen, oder immer alles im Voraus so gründlich kalkulieren, bis es kein ‚Und wenn‘ mehr gibt. Ein gewisses Restrisiko ist unvermeidlich. Was man aber machen kann, ist im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten, dieses Risiko zu minimieren. Die Entscheidung ist gefallen und heute Nacht wird es sich erweisen, ob wir richtig lagen, oder ob es ein böses Erwachen gibt, denn diese Geschichte ist nicht nach unserem Willen entstanden. Sie begann so geheimnisvoll bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts und wir hofften, dass sie wenigstens Anfang des 21.Jahrhunderts für
uns glimpflich zu Ende gehen würde.
Wir hatten das Unsrige dazu getan, diesen unnatürlichen Zustand zu beenden aber ob wir letztendlich auch Erfolg haben würden, das war noch immer ziemlich ungewiss. Wir wissen nur, was geschehen ist. Kennen aber weder den Zweck, noch die Ursachen der Verkettung dieser unglücklichen Umstände, die uns in diese Situation gebracht haben. Wir beide versuchten lediglich aus diesem fatalen Teufelskreis auszubrechen. Nüchtern betrachtet, ist und bleibt es ein Spiel mit dem Feuer, das uns am Ende unter Umständen auch verzehren konnte. Natürlich haben wir noch lange an diesem Abend geredet, uns Mut gemacht, ja sogar wie Robinson Crusoe, das Gut und Böse immer
wieder gegeneinander abgewogen. Kurz vor Mitternacht sind wir dann zu dem Ergebnis gekommen, wir tun es und wir tun es gemeinsam, weil wir an die Hoffnung glauben, in der Zukunft über unser Leben selbst bestimmen zu können. Nachdem ich mich noch einmal ausdrücklich Charlottes Zustimmung versichert hatte, verabschiedete ich mich von ihr. Beinahe konnte ich ihre Tränen spüren, denn das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre dass wir uns niemals wiedersehen würden. Oder uns überhaupt je in der realen Welt begegnen würden, nämlich dann, wenn unsere verschiedenen Ebenen nicht zueinander fänden. Ich steckte das chamoisfarbene Foto von
Charlotte in das Buch zwischen die Seiten Nummer 26 und Nummer 27 und klappte es zu. Fortab war auch jede Kommunikation mit Charlotte unmöglich geworden. Eine eiskalte Hand griff plötzlich nach meinem Herzen und ich fragte mich, ob ich nicht gerade jetzt, in diesem Moment ihr Leben ausgelöscht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich wild entschlossen und wollte die Fotografie wieder aus dem Buch herausreißen und alles wieder rückgängig machen. Aber dann kamen mir starke Bedenken, wenn ich jetzt unentschlossen versagte, könnte ich sie unter Umständen damit erst recht töten. Schweren Herzens besann ich mich und nahm Abstand von meinem Vorhaben. Mit zitternden Händen und bangem Herzen
legte ich das dünne Buch danach auf den Fußboden. Falls das große Experiment am Ende doch noch gelingen würde, dann sollte Charlotte wenigstens nicht auch noch von meinem Schreibtisch herunter fallen müssen. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, zu aufgeregt saß ich auf meinem Bett und hoffte auf ein Wunder. Dieses Wunder wollte ich miterleben, dabei sein, wenn es passierte. Die Befreiung Charlottes aus ihrem papiernen Gefängnis... So starrte ich unentwegt auf das am Boden liegende Buch, bis dutzende von regenbogenfarben Ringe vor meinen Augen entstanden, die sich immer schneller zu drehen begannen und zu tanzen anfingen, ja, die am Ende sogar miteinander zu wunderschönen farbigen Kristallen
verschmolzen. Je intensiver ich auf das Buch starrte, umso schneller schien sich dieser Prozess zu vollziehen. Eine bleierne Schwere kam urplötzlich über mich, ließ mich meine Augenlider schließen. Diese unglaubliche Müdigkeit befiel mich so rasend schnell, dass es mir völlig unmöglich wurde, die Augen offenzuhalten. Ich dachte, dass ich mich aber zumindest immer noch auf mein intaktes Gehör verlassen könnte, welches aber auch bald darauf versagte...
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Kapitel 10
Das Symbol... Die Sonne hatte knapp den Horizont überschritten, als ich auf den Fußboden liegend, mit einem wahnsinnig schmerzenden Schädelbrummen wieder zu mir kam. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich gestern Abend zwei Liter Portwein getrunken und hinterher noch eine Flasche billigsten Fusel-Whisky als Absacker nachgefüllt. Mir war, als würde mir jeden Moment der Schädel explodieren. Ein Gefühl, als hätte sich ein gigantisches Nilpferd auf meinen Kopf niedergelassen. Als ich mich stöhnend aufrichtete und mich mit dem Rücken gegen mein unbenutztes Bett lehnte, gesellte sich zu dem Nilpferd noch eine
permanent wippende Elefantenkuh. Der Schmerz in meinem Kopf schien allmählich unerträgliche Ausmaße anzunehmen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht registrierte ich lediglich, dass der neue Tag soeben mit einem phantastischen Sonnenaufgang begonnen hatte. Mit viel Mühe konnte ich mich an die Umgebung in meiner Wohnung erinnern und noch etwas später dann, an den Verlauf des gestrigen Abends. Sofort fiel mein Blick auf das am Boden liegende blassblaue Schachbuch. Es hatte sich kein bisschen verändert. Es lag noch genauso da, wie ich es gestern auf dem Boden hingelegt hatte und zwischen den Seiten schaute auch noch immer das chamoisfarbene Bild von Charlotte heraus. Mühsam krabbelte ich zu dem Buch
hin, nahm es zur Hand und schlug es auf. Normalerweise hörte ich sofort Charlottes Stimme in meinem Kopf, diesmal fühlte ich außer einigen irrsinnigen Kopfschmerzen gar nichts. Keine Charlotte weit und breit zu vernehmen, keine Begrüßung und auch klein süßes weibliches Lachen, was ich so an ihr lieben gelernt hatte. Ein ungewohntes Gefühl, welches mir panische Angst machte. War unser gemeinsames Experiment vielleicht schiefgegangen und ich hatte sie womöglich umgebracht mit meiner unkontrollierten Experimentierfreude? Im Geiste rief ich laut und deutlich ihren Namen. Keine Antwort. Allein unbeschadet in die Senkrechte zu gelangen, war schon ein kleines Kunststück. Ich schleppte mich in die Küche und kramte in
meinem Küchenschrank nach einem alten Schuhkarton. In dem Karton befanden sich einige abgelaufene Tüten für Puddingpulver neben italienischen Tomaten-Crem-Suppen. Ich aber suchte nach ein paar hochwirksamen Kopfschmerz-Tabletten. Nachdem ich alle diversen Tütensuppen rausgeschmissen hatte, fand ich zum Glück auf dem Boden dieses alten Kartons noch einen einzelnen silberfarbenen Blister-Streifen, halbvoll mit Kopfschmerz-Tabletten. Ich knackte zwei der ebenfalls abgelaufenen Brummschädel-Killer durch die Alufolie und spülte sie mit einem halben Liter eiskaltem Leitungsheimer hinunter. Nun musste ich nur noch ein Weilchen warten, bis sich das Nilpferd und die wippende Elefantenkuh endlich trollen. In der
Zwischenzeit versuchte ich mir vorzustellen, was alles passiert sein könnte. Vielleicht war ja der Ansatz falsch gewählt, oder der Weg der Befreiung aus diesem papiernen Gefängnis war einfach nicht der Richtige gewesen. Sorgen hingegen machte mir viel mehr, dass ich Charlotte nicht mehr hören konnte. Ich bemerkte nur so ganz nebenbei, dass das Nilpferd soeben verschwunden war und die Elefantenkuh auf meinem Kopf mit dem Wippen aufgehört hatte. Ich stand auf und suchte in den verbleibenden Räumen meiner Wohnung nach Charlotte, immer in der Hoffnung, dass ich sie noch finden würde. Fehlanzeige. Charlotte war und blieb unerklärlicherweise verschwunden. Ich war verzweifelt. Was hatte ich falsch gemacht? In
meiner puren Verzweiflung brüllte ich plötzlich einfach ziemlich laut ihren Namen, auch wenn mich meine Nachbarn um diese Zeit dafür ganz bestimmt hassen würden. Aber das war mir im Moment völlig egal, Charlotte war weg und nur das zählte. Plötzlich hörte ich eine Frauenstimme leise meinen Namen rufen...
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und lauschte mit angehaltenem Atem auf die rufende Stimme. Da war sie wieder, aber sie kam nicht aus meiner Mansarde, sie kam aus dem Treppenhaus. Mit einem Satz war ich an der Tür und riss sie auf. Da war sie...
Charlotte... Eine Aura aus dem einfallenden Sonnenlicht der eben aufgehenden Sonne umgab sie und sie saß in einem grünen Kleid und mit einem klassischen Hut auf dem Kopf, lächelnd auf den Stufen meiner hölzernen Treppe. Sie wirkte ein wenig älter und gesetzter als auf der Photographie, aus dem Jahr 1896. Kein Wunder, war doch dieses alte Lichtbild auch schon sechs Jahre vor ihrer Verbannung aufgenommen worden. Als sie mich erblickte, stand sie auf und die Tränen liefen ihr in Strömen nur so über das Gesicht, während es ihren Körper vor Schluchzen schüttelte. Minutenlang brachte sie keinen einzigen Ton heraus. Als sie sich etwas beruhigt hatte schaute sie mich mit einem immer noch
tränenverschmierten Gesicht an, »Ich weine vor Glück, Jean. Ich weine, dich endlich sehen zu dürfen. Sag es mir, sind wir nun endlich frei, mon amour?«, fragte sie mich und streckte ihre Hände nach mir aus. Ich stand immer noch da, wie vom Donner gerührt und hatte einen dicken Kloß im Hals. Ich war zugleich unfähig, mich zu äußern und kam erst wieder zu mir, als sie mir um den Hals fiel und mich zärtlich küsste. Wir standen eine gefühlte Ewigkeit lang auf der Treppe zu meiner Mansardenwohnung und küssten uns unentwegt, während ihre heißen Tränen immer wieder mein Gesicht benetzten. Wir brauchten einander nichts zu sagen, diese Erlösung von dem Fluch kam uns beiden wie
ein Geschenk des Himmels vor. Wir hatten uns beide gesucht und gefunden, während sich die verschiedenen Ebenen unseres bisher sehr verschiedenen Seins sich zu einer gemeinsamen Ebene verbunden hatten. Scheinbar schien Charlotte nun befreit, erlöst und wohl auch geschützt vor der Macht der schwarzen Magier. So empfanden wir es jedenfalls und wir glaubten auch für alle Zeit diesen bösen Zauber gebannt zu haben. Wir waren einfach nur glücklich über die Befreiung von Charlotte aus ihrem papiernen Gefängnis, indem sie unschuldiger Weise einhundertzehn Jahre verbracht hatte, die wohl längste Zeit, die je ein Mensch in einer Einzelzelle inhaftiert war. Allein ihre Befreiung daraus war schon als ein kleines Wunder
anzusehen. Ich trug sie auf meinen Armen über die Türschwelle in meine Wohnung und küsste sie dabei unentwegt. Unsere gemeinsame, neu entstandene Welt hatte sich gerade der Sonnenseite des Lebens zugewandt und wir kosteten diese unsere soeben gewonnene Glückseligkeit geradezu gierig aus. Ich trug die junge Frau, die ich im Verlaufe der Zeit so sehr lieb gewonnen hatte in das Schlafzimmer und legte sie sanft auf mein Bett. Anschließend rissen wir uns einander die Kleider vom Leib und stürzten uns in einen nie erlebten Liebesrausch. Wir gaben uns wild und leidenschaftlich unseren Gefühlen hin und genossen hemmungslos die Küsse und Liebkosungen das anderen. Ich hatte das Gefühl, wir zelebrierten ausgelassen
eine Orgie menschlicher Emotionen und wir verschenkten uns gegenseitig weit ausschweifend, an die körperlichste Liebe, die ich jemals erfahren durfte, in der uns beiden nichts Menschliches fremd war. Wir genossen einfach nur einander das Salz auf der ganzen Haut des jeweils anderen. Wir versanken förmlich ineinander und gingen ineinander auf, wir gaben uns bedingungslos hin und wir eroberten einander. Die nach Leben gierende Frau aus dem 19. und der leidenschaftlich liebende Mann aus dem 20. Jahrhundert. Diese beiden verloren sich geradezu in unersättlicher Wollust und grenzenloser Leidenschaft, im Hier und Heute des 21. Jahrhunderts. Unterschwellig bemerkte ich zwischen zwei
langen sinnlichen Küssen, dass wir die Fähigkeit verloren hatten, lautlos miteinander zu kommunizieren. Ich konnte Charlottes Gedanken nicht mehr vernehmen und sie nicht mehr die meinen. Aber das war uns alles egal, wir liebten uns und nur das war uns wirklich wichtig.
Ob der Prinz, der sein Dornröschen mit einem Kuss aus ihrem Tiefschlaf befreit hatte, die Prinzessin je so geliebt hatte, wie ich Charlotte liebte, wagte ich zu bezweifeln. Aber es war so unglaublich schön, mit dieser Frau zusammen zu sein, dass ich dieses Schmetterlingsgefühl um nichts in der Welt mehr eintauschen würde...
Erst sehr spät in der Nacht ließen wir etwas nach in unserem enthemmten Treiben. Dann
erst fanden wir die Zeit uns endlich etwas näher kennenzulernen und nach zwei schier endlos langen Küssen, wurden endlich auch die ersten Worte gewechselt. Ich holte aus dem Kühlschrank eine gut gekühlte Flasche Champagner und schenkte uns zwei Gläser ein. Wir stießen auf uns und unsere befreite Liebe an.
Danach entzündete ich eine Kerze und ein romantisches Schummerlicht erhellte das kleine Mansardenschlafzimmer. In dieses Licht gehüllt, erschien mir Charlotte so schön, wie ein gesandter Engel aus einer anderen Welt. Ich strich ihr durch das Haar und bemerkte die Stelle, wo das Feuer in der Bibliothek des Grafen sie angesengt hatte.
Charlotte lachte,
»Das wächst wieder, ma cher, mach dir deshalb keine Sorgen. Das ist das Wenigste. Aber sieh nur hier, die Innenseite meines Oberschenkels.« Sie hob ihr schlankes weißes Bein aus den Kissen heraus und streckte es in die Höhe. »Siehst du dort das Kreuz? Jemand hatte 1914 in dem Kölner Antiquariat in diesem Schachbuch gelesen und sich eine Partie mit einem Bleistift angekreuzt. Dieses kleine Kreuzchen wird mich jetzt wohl ein Leben lang begleiten. Ich hoffe, es stört dich nicht allzu sehr, mon amour«, lachte sie. »Nein, es stört mich nicht im Geringsten, Geliebte. Wenn ich dort das nächste Mal mit meinen Lippen vorbei komme, dann werde ich eben auf eine erregende Kreuzfahrt gehen,
um später dann in deinem süßen kleinen Hafen, am Ende der Bucht sicher zu ankern«, antwortete ich schmunzelnd und küsste ihre reizenden Brüste. »Oh‘, ich kann nicht mehr, mon cher, ich habe zwar über einhundertzehn Jahre lang nicht mehr mit einem Mann geschlafen, aber jetzt bitte ich dich, sei so lieb und gönne einer alten Frau eine einzige kleine Verschnaufpause, damit ich wieder zu mir kommen kann«, sagte Charlotte lachend und drehte sich auf den Bauch. »Wenn es weiter nichts ist, ein schöner Frauenrücken kann mich auch bei einer älteren Dame noch entzücken«, gab ich über den kuriosen Reim selber lachend zurück und küsste zärtlich ihren Nacken.
Plötzlich stutzte ich und betrachtete im flackenden Kerzenschein ihre Rückenpartie. Auf dem rechten Schulterblatt entdeckte ich es dann. Ein kleines, aber dennoch ziemlich deutlich sichtbares Muttermal. Einen Kreis mit einem Kreuz darinnen…
Ich erschrak und Charlotte hatte es sofort bemerkt.
»Hast du es also entdeckt, das Muttermal«, sagte sie leise. Ich nickte stumm. »Ich hatte Angst es dir zu sagen, ich dachte, du würdest mir dann nicht mehr helfen wollen, dieses papierne Gefängnis zu verlassen. Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen, mon cher, aber versuch mich bitte zu verstehen...«
Ihre Stimme versagte ihr plötzlich den Dienst. »Ich nehm‘ es dir nicht übel, Liebste«, sagte
ich schnell, damit sie mich nicht missverstand. »Aber es stimmt natürlich, du hättest es mir sagen müssen, vielleicht wären wir dann schneller zu einem Ergebnis gekommen, als wir der Geschichte mit den schwarzen Magiern nachgingen. Spätestens aber, als ich dir das Symbol der schwarzen Magier erklärt hatte«, sagte ich ein wenig nachdenklich geworden. Charlotte drehte sich zu mir herum und schon wieder standen Tränen in ihren Augen. »Es tut mir so unendlich leid, aber du musst mir glauben, ich hatte einfach nur Angst dich zu verlieren, wenn ich dir sofort die Wahrheit gesagt hätte und danach war es dann zu spät. Danach dann konnte ich es dir nicht mehr sagen«, flüsterte sie leise und umarmte mich.
»Denkst du, dass es uns nun wieder auseinander bringen wird, weil ich dieses Muttermal auf der Schulter habe, mon cher?« Ich küsste sie zärtlich auf ihre weichen Lippen, »Wo denkst du hin, Geliebte, niemals würde ich dich verlassen wollen, im Gegenteil ich bin so wahnsinnig froh, dich gefunden zu haben, warum sollten wir uns denn jetzt wieder verlieren?«, flüsterte ich zurück und streichelte ihr Gesicht. »Weil ich denke, dass es immer noch nicht vorbei ist, Jean. Ebenso, wie die Gefahr durch die schwarzen Magier noch immer nicht gebannt ist, denn ich trage nach wie vor, ihr Symbol auf meiner Haut. Ich wurde damit geboren und ich glaube, das ist auch der Grund, warum sie mich bis in alle Ewigkeit
verfolgen werden, geliebter Jean, und ich weiß auch nicht was wir dagegen tun könnten«, antwortete Charlotte traurig. »Was genau wir dagegen tun können, weiß ich im Moment eben so wenig. Ich weiß aber, dass wir nun über eine beschränkte Möglichkeit verfügen, sie uns etwas vom Halse zu halten, bis wir zu einer dauerhaften Lösung kommen. Das Zauberwort heißt Silber und an dieser Stelle werden wir geschickt ihre Schwäche ausnutzen. Zunächst aber, müssen wir uns erst einmal um dich kümmern, denn du brauchst unbedingt neue, zeitgemäße Kleidung und du musst so einiges neu und wenn es geht, unbedingt ganz schnell hinzulernen«, erklärte ich ihr. »Gleich morgen früh werde ich dir ein paar neue Sachen zum
Anziehen besorgen, damit wir uns überhaupt auf die Straße trauen können, ohne gleich aufzufallen. Denn in meinem Innersten ahne ich ebenfalls, dass sie weiterhin hinter dir her sind und dir nachstellen werden«, erwiderte ich und ließ es mir aber gern gefallen, dass sie mich wieder umarmte und zurück ins Bett zog. »Du denkst gleich in so pragmatischen Dimensionen, aber bevor wir das alles in Angriff nehmen, lass uns erst noch den Rest dieser Nacht miteinander verbringen, denn ich habe trotzdem immer noch einen enormen Nachholbedarf, gerade was das anbetrifft«, sagte sie leise flüsternd und küsste mich wieder leidenschaftlich. Viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht ...
Kapitel 11
Gediegenes Silber... Als wir am nächsten Morgen wach wurden, inspizierte Charlotte mit einem umgehängten Laken bereits meine Wohnung und fragte mich tausend Löcher in den Bauch. Wozu dies, warum das und weshalb jenes, und, und, und… Das meiste konnte ich noch abblocken, dann aber verfrachtete ich sie zunächst ins Bad. Dort erklärte ich ihr die Dusche und die anderen Sanitäreinrichtungen, allerdings ohne ihr lang und breit zu erläutern, wie es das Wasser schafft, bis in die sechste Etage meiner Mansardenwohnung zu gelangen. Ich versprach, erst einmal etwas zu Essen und ein paar passende Sachen einzukaufen, frische
Croissants und eine Jeanshose für Charlotte und so Kram eben. Danach instruierte ich sie, auf gar keinen Fall irgendwelche elektrischen Geräte anzufassen, oder sie gar in Betrieb zunehmen. Aus Sicherheitsgründen sprachen wir dann noch einmal kurz über ein weiteres Märchen, nämlich über jenes, wo sich ein wirklich übler Mistkerl mit einer weißen Pfote und einer weichen Stimme tarnt und die späteren Opfer ihm dann nach mehreren vergeblichen Anläufen trotzdem Zutritt zu ihrer Wohnung gewähren. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellen sollte... Charlotte lachte, »Ich weiß Bescheid, weil sie dann alle doch von ihm aufgegessen werden, stimmt’s?« »Nicht alle«, widersprach ich, »das siebente wohl nicht, aber leider besitze ich keinen
Uhrkasten, in welchem du dich verkriechen könntest. Also versprich mir, niemanden einzulassen. Und wenn ich sage 'Niemanden', dann meine ich es auch so, denn ich habe einen Schlüssel zu dieser Wohnung und werde ihn auch benutzen. Egal, wer da schellen sollte. Du stellst dich tot, verhältst dich mucksmäuschenstill und öffnest niemals die Wohnungstür. Ich muss mich auf dich verlassen können, sonst kann ich dich hier nicht allein lassen.« Charlotte hob lächelnd zwei Finger in die Höhe, »Ich schwöre, Monsieur le Commissaire...« Ich nickte erleichtert,
»Gut so und denke bitte immer daran, mit diesen üblen Gesellen ist nicht gut Kirschen
essen. Sie werden uns töten, wenn sie können«, mahnte ich sie eindringlich. Dann küsste ich sie noch einmal und schlich mich anschließend leise aus dem Haus. Gegen Mittag war ich zurück und hatte bekommen, was ich wollte. Ich hatte für uns im Supermarkt etwas zum Essen eingekauft und für Charlotte ein paar Klamotten zum Anziehen besorgt. Charlotte hatte sich in meiner Wohnung unterdessen die Zeit mit dem Entdecken von Neuigkeiten vertrieben. Entgegen meinen Anweisungen hatte sie es geschafft, das TV-Gerät einzuschalten und starrte nun wie gebannt auf die sich bewegenden, farbigen Bilder des großen Flachbildschirms. In dem eingestellten TV-Programm lief gerade eine dieser geistig völlig
unterbelichteten Doku-Soaps, wo man gegenseitig übereinander herzog und den jeweils anderen beschuldigte, den Grund für die Trennung geliefert zu haben. Mehrmals war Charlotte aufgestanden und hatte schier fassungslos hinter das Gerät geschaut. Sie konnte offenbar nicht verstehen, wie diese kleinen, 'lebendigen Zwerge' in das dünne Gerät gekommen waren. »Das Ganze nennt sich Fernsehen«, erklärte ich ihr. »Dabei werden mit einer Kamera, ganz ähnlich der, die Monsieur Belloc, jun. damals für deine Aufnahmen benutzt hatte, nur dass diese hier unglaublich viele farbige Bilder wahnsinnig schnell hintereinander aufgezeichnet und zusammen mit dem Ton abspeichert. Danach verschickt man diese
umgewandelten Bilder und Töne als winzige Signale über lange Drähte zu den Leuten in ihre Wohnungen, wo sie dann in so einem TV-Gerät wieder in richtige Bilder und hörbare Töne zurückverwandelt werden...« »Aha«, meinte Charlotte mit offenem Mund, »das klingt ja wirklich toll...« Ich winkte ab und versprach ihr vielleicht später etwas mehr darüber zu erzählen, schließlich hätten wir jetzt erst einmal etwas Wichtigeres zu tun. Dann drückte ich ihr die braune Papiertüte mit den für sie eingekauften Sachen in die Hand. »Für den Anfang, etwas zum Anziehen, später können wir ja immer noch etwas anderes für dich dazukaufen, wenn du das möchtest.« »Neue Kleider für mich? Du bist wirklich lieb zu mir, mon cher«, sagte Charlotte lächelnd
und gab mir einen Kuss. Freudig packte sie die Sachen aus. Zuerst förderte sie den Slip und einen BH zutage.
»Das ist alles?«, fragte sie sichtlich enttäuscht und wedelte mit den spärlichen Dessous hin und her.
»Natürlich nicht, dazu gehört noch eine Hose, ein schicker dünner Pullover, ein T-Shirt und ein paar Schuhe, Größe 37, aber probier‘ es doch bitte erst einmal an, ich muss nämlich wissen, ob wirklich alles passt«, Charlotte ließ das Laken fallen und schlüpfte in die neuen Sachen. Die Unterwäsche passte schon mal, sie sah darin verführerisch und todschick aus. Als nächstes fand sie die Hose. Sie klappte die funkelnagelneue Blue Jeans auseinander und schaute mich fragend an,
»Was ist das denn, etwa eine Hose, wie sie die Arbeiter in einer Fabrik tragen? Das ist doch nicht dein Ernst, chéri, so etwas kann ich nicht anziehen...« Die pure Enttäuschung stand ihr plötzlich im Gesicht geschrieben. Ich versuchte sie etwas aufzumuntern, »Das ist jetzt hochmodern und wird dir wunderbar stehen. Das ist eine Levi Strauss Blue Jeans, eine Levi’s 501, was soll ich sagen, es ist ein absolutes Spitzenmodel. Diese Hose wird heutzutage in aller Welt von Künstlern, Schauspielern und sogar selbst von den größten Modedesignern getragen, die Zeiten haben sich halt geändert.« Charlotte blickte mich immer noch skeptisch an, »Du meinst wirklich, ich sollte diese blaue Fabrikarbeiterhose anziehen?« Ich nickte,
»Unbedingt, denn außerdem ist diese Uniformierung deine beste Tarnung und ganz nebenbei du wirst zudem recht fabelhaft darin aussehen und alle Männer werden sich sogar nach dir umschauen«, schmeichelte ich ihrem Ego. Offenbar mit Erfolg, denn danach zog sie die Hosen über. Sie saßen absolut perfekt, ihr praktisch wie angegossen. »Wie für dich gemacht«, schwärmte ich und freute mich, über die kompetente Beratung der Verkäuferin in dem Jeans-Laden. Charlotte sah in den Blue Jeans und dem BH so sexy aus, wie eine moderne junge Frau von heute. Kleider machen eben doch Leute, dachte ich grinsend und reichte ihr die hochhackigen schwarzen Pumps. Sie schlüpfte in die die Schuhe und ging im Wohnzimmer ein paar Schritte auf und
ab. Charlotte sah absolut hinreißend in ihrem neuen Outfit aus. Sie lächelte mich noch etwas unsicher an, aber ich hob voller Enthusiasmus beide Daumen in die Höhe. Super, es schien alles zu passen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Frauen und Klamotten. Es hatte sich jedenfalls doch noch gelohnt, als ich zuvor noch einmal alles am lebendigen Corpus nachgemessen und alle ihre Maße akribisch exakt aufgeschrieben hatte.
Nachdem wir das also auch zu einem glücklichen Ende gebracht hatten, bereitete ich uns ein kleines Mahl zu. Charlotte staunte nicht schlecht, über all die praktischen Dinge in meiner winzigen Küche, den Elektroherd, den Kühlschrank und die Spülmaschine. Aber das nur nebenbei.
Am Nachmittag saßen wir dann zusammen und berieten gemeinsam über die nächsten wichtigen Schritte in unserer neu begonnenen Beziehung. »Als nächstes müssen wir versuchen, dich zu legalisieren. Denn noch bist du eine Persona non grata, also ohne jeglichen Schutz. Wenn wir zufällig mal in eine Kontrolle geraten sollten, dann hast du keinerlei Papiere und da nützt es dir wenig, wenn du einem Beamten erklärst, dass du Französin bist, oder warst. Wer sollte dir glauben wollen? Du besitzt nicht einmal eine Geburtsurkunde, kein Nichts, kein gar Nichts. Niemand kennt dich, oder hat dich je gesehen. Es gibt niemanden, der für dich bürgen könnte, oder wollte. Du hast hier keine lebenden Verwandten in Deutschland und
selbst in Frankreich kennt dich auch niemand. Genau genommen existierst du eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht für die Behörden. Das ist nur ein Fall für den französischen Botschafter, den wir bis zu einem gewissen Grad in unser Geheimnis einweihen sollten. Denn ich weiß, dass der französische Staatspräsident garantiert eine Möglichkeit hat, dich als Person zu legalisieren und aus dir wieder eine normale französische Staatsbürgerin zu machen. Und nur der Präsident kann überhaupt unser einziger kompetenter Ansprechpartner in dieser heiklen Angelegenheit sein. Der Weg zu ihm, führt aber nur über seinen Botschafter und der sitzt vis-à-vis vom Brandenburger Tor in der französischen Botschaft am Pariser Platz.
Eine andere Möglichkeit sehe ich auch nicht, denn wem sollten wir was erklären? Man würde uns beide gewiss ruck, zuck in Bonny’s Ranch, einer geschlossenen Anstalt für Geisteskranke in Berlin unterbringen, noch ehe wir überhaupt einen weiteren Mucks von uns geben könnten, dreist wenn wir mit der lauteren Wahrheit herausrückten. Um aber erfolgreich zu sein, müssten wir eine raffinierte Geschichte erfinden, die glaubhaft ist und zudem auch in gewissen Grenzen einer historischen Überprüfung standhält. Ich dachte da so an ein unbekanntes wissenschaftliches Experiment, welches französische Forscher, oder Wissenschaftler, von mir aus auch Erfinder, allein oder gemeinsam mit deutschen Forschern hier in Berlin im Jahre 1902
durchgeführt haben. Später ist dann das Langzeitexperiment in Vergessenheit geraten, oder man dachte es sei gescheitert und hat danach nicht mehr weiter daran gearbeitet. So oder so ähnlich stelle ich mir eine halbwegs plausible Erklärung vor«, erläuterte ich Charlotte meinen Schlachtplan. »Wer sollte denn so ein Experiment gemacht haben?«, fragte Charlotte. »Ach, das ist relativ unproblematisch. Wir schauen einfach nach, wer im Jahre 1902 als bedeutender Wissenschaftler in Frankreich und im damaligen Preußen aktiv tätig war und vor allem auch dafür in Frage kommen könnte. Und wenn es uns nach Prüfung der Sachlage als machbar erscheint, benutzen wir sein, oder ihr Avatar, um deine Legalität wieder zu
erlangen«, grinste ich. »Mon chérie, die Welt ist voll von Lügnern und Betrügern, da kommt es auf eine wilde Story mehr oder weniger, nicht an. Noch zumal das ja nicht einmal eine echte Lüge wäre, sondern mehr nur eine, sagen wir mal, verbogene Wahrheit. Denn die tatsächliche Wahrheit ist so phantastisch und auch abenteuerlich, dass sie uns garantiert niemand glauben würde, vertrau mir darin. Ein bekanntes Sprichwort sagt, wer die Wahrheit geigt, dem schlägt man die Fidel auf den Kopf. Die Welt will einfach betrogen sein, nach dieser absoluten Binsenweisheit funktionieren so ziemlich alle gültigen Prinzipien, welche jedoch auch niemand ungestraft verletzt.«
Charlotte schaute mich zweifelnd an,
»Wie bekommen wir denn überhaupt heraus,
wer damals ein Wissenschaftler oder Forscher war, aus deiner amerikanischen Bibliothek?« Ich schüttelte den Kopf, »Das können wir hier von zu Hause aus im Internet erledigen, da werden uns alle erforderlichen Daten zur Verfügung gestellt. Das werden wir nachher sofort in Angriff nehmen, denn unsere Legende muss stehen, noch bevor wir damit zum Botschafter gehen.« Charlottes Augen verschwammen schon wieder, als sie stumm meine Hand ergriff. Danach presste sie meine Hand an ihr Herz und küsste sie anschließend. Noch am Nachmittag hatten wir beide uns eine akzeptable Legende, die scheinbar auf einer wissenschaftlichen Basis fußte, geschickt zusammengebastelt. Darin sollte Charlotte nur
als ahnungslose Testperson fungieren und später dann gut dafür bezahlt werden. Das geheime Experiment sollte von Pierre und Marie Curie von französischer Seite und von der damals erst Neunundzwanzigjährigen, ersten deutschen promovierten Physikerin, Elsa Neumann, in Berlin durchgeführt werden. Elsa Neumann hatte bei Emil Warburg und Max Planck studiert und damit einflussreiche Förderer gewonnen. Da Frauen in Preußen zu diesem Zeitpunkt ein Universitätsstudium noch generell untersagt war, erhielt sie 1898 mit spezieller Erlaubnis des preußischen Kultusministeriums die Genehmigung zur Promotion, die sie noch im selben Jahr cum laude abschloss. Ihre Arbeit „Über die Polarisationskapazität umkehrbarer
Elektroden“ wurde 1899 in der angesehenen Fachzeitschrift: 'Annalen der Physik' veröffentlicht. Soweit das Internet. Diese junge Wissenschaftlerin aus Preußen erschien uns hervorragend geeignet, das Bindeglied zu sein, zwischen Charlotte und dem an der Radioaktivität forschenden Ehepaar Pierre und Marie Curie aus Frankreich. Dabei nutzten wir geschickt den Fakt, dass Elsa Neumann plötzlich und unerwartet im Sommer des Jahres 1902, im zarten Alter von nur neunundzwanzig Jahren bedauerlicherweise verstarb. Das geheime Experiment, wovon Charlotte Bonnet rein technisch gesehen, natürlich überhaupt keine Ahnung hatte, geriet mit dem Tode der preußischen Physikerin in Vergessenheit und
irgendwann sei Charlotte in einem ihr völlig unbekannten Kellerraum einer alten Berliner Ruine erwacht, irgendwie auf die Straße gelangt und in einem völlig verwahrlostem und vor allem in einem lebensbedrohlichen Zustand von mir rein zufällig aufgegabelt worden. Selbstverständlich könne sich Charlotte nur noch bruchstückhaft an die Vorgänge von damals erinnern, außerdem sei sie völlig im Unklaren darüber gelassen worden, welcher Art das Experiment gewesen sei. Sie erinnere sich nur, dass sie in diesem stickigen und staubigen Kellerloch erwacht sei und vor Hunger und Durst beinahe verschmachtet wäre. So die Legende, die wir benutzen wollten, um Charlotte anschließend wieder ihre eigene Identität zurückzugeben.
Noch am selben Tag rief ich in der Botschaft der Republik Frankreich an, stellte mich mit meinem Namen vor und wollte ein kurzes Vier-Augen-Gespräch mit dem Botschafter anmelden. »In welcher Angelegenheit wollen Sie denn den französischen Botschafter sprechen, Monsieur Sommerfeld?«, fragte mich dessen Sekretär mit monotoner Stimme. »Es geht um ein deutsch-französisches Experiment, welches vor geraumer Zeit hier in Berlin gemacht wurde und bei welchem auch französische Staatsbürger betroffen sind«, antwortete ich prompt. »Ich wollte natürlich zuerst mit dem Botschafter Ihres Landes darüber sprechen, bevor ich damit an die Öffentlichkeit gehe. Es könnte von Vorteil sein,
dass der offizielle Vertreter Frankreichs vorher Kenntnis über die komplizierte Sachlage besitzt«, erklärte ich mit fester Stimme. Im Hintergrund hörte ich mehrere Stimmen leise miteinander flüstern und einiges Getuschel. Nach einer Weile meinte der Sekretär, dass mir der Botschafter morgen um zehn Uhr eine Audienz gewähren würde und ich bekäme lediglich zehn Minuten Zeit, um ihm mein Anliegen vorzutragen. Mehr könne er für mich nicht tun. Ich war hocherfreut und bedankte mich für das Entgegenkommen.
»Au revoir, Monsieur Sommerfeld, bis morgen«, unterbrach mich der Mann am anderen Ende der Leitung kalt und beendete abrupt das Telefonat.
»Meine Güte, so ein Laffe«, rief ich empört
aus, »ich wollte ja den Kerl nicht gleich heiraten«, sagte ich ehrlich erbost über die Unhöflichkeit des Sekretärs und stellte mein Mobiltelefon aus. »Ein erster Erfolg, Charlotte, morgen darf ich ein paar Minuten mit dem Botschafter Frankreichs reden. Aber zunächst werde ich allein mit ihm sprechen und wenn das gut läuft, dann sehen wir weiter. Heute muss ich noch mal los und noch etwas besorgen. Ich möchte, dass du mich dabei begleitest, aber auch, dass du dich so normal wie möglich verhältst. Wirst du das können, Charlotte?« Sie machte große Augen und nickte freudig überrascht. Nachdem wir Charlotte entsprechend modern eingekleidet und angezogen hatten, verließen wir unser Quartier.
»Wir werden meinen Wagen nehmen und du wirst ganz still und brav an meiner Seite sein. Du darfst alles anschauen, auch mich auch alles fragen, aber um Himmels Willen, bitte nichts anfassen, wir dürfen einfach nicht auffallen. Alles klar, Süße?«, fragte ich sie und nahm sie bei der Hand. »Oui, ma cher, ich mache alles, was du willst«, sagte sie mit einem Brustton der Überzeugung. Ich musste grinsen. Wenn Frauen sagen, ich mach alles was du willst, dann muss man einfach nur höllisch drauf aufpassen, was man selber will. Kurz darauf betraten wir die am Vormittag nur wenig belebte Straße. Meinen Wagen hatte ich in der Seitenstraße um die Ecke geparkt. Wir blieben vor dem Auto stehen und ich
deaktivierte mit der Fernbedienung die Zentralverriegelung. Dann gingen wir um den Wagen herum und ich öffnete für Charlotte die Beifahrertür.
»Wenn ich bitten darf, Gnädigste.« Und dann hielt ich ihr ganz Gentleman like die Tür auf. Sie schaute mich fragend an. Ich nickte überzeugend und machte eine einweisende Handbewegung, damit sie sich erst einmal in das Fahrzeug hineinsetzte.
»Oh, la, la, das ist deine Kutsche, ma cher?« Ich nickte erneut,
»Sogar von euren Leuten gebaut, Mademoiselle, gab ich zurück, aber bitte trotzdem nichts anfassen...« Ich klappte vorsichtig die Beifahrertür zu, stieg von der anderen Seite ein und setzte mich hinter das
Lenkrad. »Bitte jetzt noch anschnallen und das geht so...« Ich beugte mich mit meinem Gesicht zu ihr hinüber, küsste sie dabei auf ihren Busen, zog an ihrem Sicherheitsgurt und rastete die Verriegelung in das Gurtschloss ein. Charlotte musste lachen, »Machen wir das jetzt immer so?« »Wenn wir Auto fahren, ja«, griente ich zurück. Dann nahm ich den Zündschlüssel und schob ihn in das Zündschloss. »Moment und wo sind die Pferde und der Kutscher, ma cher?«, fragte sie entgeistert. »Pferde haben wir eingespart und Kutscher bin ich selber«, sagte ich und ließ den Motor an. Gehorsam brummte der robuste Sechs-Zylinder-Motor auf und schon legte ich den
ersten Gang ein. »Ich denke, du bist sogar schon mit "Apollo 13" zum Mond geflogen und kennst ein Automobil nicht?«, fragte ich lachend und fuhr zügig los. Charlotte schlug sich die Hände vor das Gesicht und hielt den Atem an, als ich Gas gab. Nachdem wir eine Weile gefahren waren beruhigte sie sich wieder etwas, als sie sah, dass alles geregelt ablief und wir nicht mit den vielen, uns entgegenkommenden Autos zusammenstießen. »Jack Swigert hatte mir nie etwas von einem Automobil erzählt und für ihn gab es nur das Raumschiff«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens. »Aber es ist schön, mit einem echten Automobil zu fahren und es macht sogar richtig Spaß. Wirklich phantastisch, was
meine Landsleute für schöne Automobile bauen können«, freute sie sich. »Na, wie man es nimmt, wenn man auf der Autobahn in einem Stau steht und wenn dann stundenlang fast nichts mehr geht, da hat der Spaß auch ganz schnell ein Ende und außerdem mein Schatz, andere können auch Autos bauen, nicht nur die Franzosen«, erwiderte ich abermals grinsend. Aber ich glaube, sie hatte schon gar nicht mehr richtig zugehört. Sie genoss einfach nur noch die Autofahrt und bestaunte die riesige Metropole mit ihren vielen Straßen und Geschäften, den gigantischen Baustellen und den quirligen, nimmermüden Passanten. Im vornehmen Berliner Wilmersdorf suchten wir ein renommiertes, stadtbekanntes
Antiquitätengeschäft auf. Noch bevor wir überhaupt das Geschäft betreten hatten, machte mich Charlotte auf einige antiquarische Auslagen im Schaufenster aufmerksam, indem sie aufgeregt mit dem Finger darauf zeigte,
»Sieh nur chéri, diese Tellern kenne ich aus meiner Zeit, auch diese Messern und Gabeln und…«
»Charlotte«, mahnte ich leise, »du kennst hier besser nichts von alledem. Ich möchte nicht, dass der Verkäufer erfährt, dass du ganz offensichtlich fachkundig bist, wir dürfen auf keinen Fall auffallen. Wir sind hier nur an einem alten silbernen Brieföffner interessiert. Als Geburtstagsgeschenk für einen guten Freund. Mehr nicht. Verstehst du?«
Charlotte winkte spitzbübisch lächelnd ab.
Ich drückte die auf Hochglanz polierte Messingklinke nieder und öffnete die schwarzlackierte Tür des noblen Geschäftes. Drinnen erklang das Geläut einer Türglocke.
Ein seriös aussehender älterer Herr in einem dunklen Anzug begrüße uns freundlich,
»Guten Tag, die Herrschaften, womit kann ich Ihnen dienen? Haben Sie vielleicht einen besonderen Wunsch?«, betonte er in recht eleganter Manier die geschäftsmäßige Höflichkeit.
»Ja, vielleicht können Sie das wirklich«, nahm ich den Gesprächsfaden auf. »Wir sind an einem Brieföffner interessiert, möglichst an einem gut erhaltenen antiquarischen Stück. Es sollte ein attraktives Geschenk werden.«
»Oh natürlich, einen Brieföffner, gewiss. Einen Moment bitte, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir haben da einige sehr hübsche Exemplare. Wenn Sie gestatten, schau‘ ich doch gleich mal für Sie nach«, beeilte er sich zu sagen. »Sie können sich ja derweil ein wenig in meinem Geschäft umschauen, wenn es Ihnen beliebt…« Ich nickte verbindlich, »Gerne doch...« Der Mann verschwand in den hinteren Geschäftsräumen und Charlotte lächelte ganz verzückt über einige uralte Möbelstücke, die sie ganz gut zu kennen schien. Kurz darauf kam der Verkäufer zurück und breitete auf seinem Glastisch ein dünnes hellbraunes Leder aus. Darauf legte er vorsichtig drei unterschiedliche Brieföffner, die
offenbar allesamt in ziemlich aufwendiger Handarbeit hergestellt worden waren.
»Wenn Sie einmal schauen wollten, der Herr? Das ist, was ich Ihnen anbieten kann. Antik und handgefertigt, spätes neunzehntes Jahrhundert.«
»Schön, sehr schön, all diese Stücke, aber haben Sie nicht zufällig auch einen Brieföffner aus massivem 925ziger Sterlingsilber?«, fragte ich den Antiquitätenhändler. Der stutzte,
»Aus Sterlingsilber? Hm, da müsste ich… nun ja, ich habe auch ein ausgesprochen schönes Stück aus Sterlingsilber, aber der ist natürlich, wie soll ich sagen… der ist dann aber auch deutlich preislich... Allerdings, wenn Sie sich das außergewöhnliche Unikat trotzdem einmal ansehen wollten?«
»Das könnte für mich unter Umständen interessant werden, denn es handelt sich um das Geburtstagsgeschenk für einen Freund, wie gesagt, für einen ausgesprochen guten Freund«, betonte ich mit gewichtiger Mine mein Anliegen. Der Alte nickte,
»Ich verstehe, einen Moment bitte.« Dann verschwand er wieder und kann gleich darauf mit einem Brieföffner zurück, den er zu den anderen auf das Leder legte. »Einen Brieföffner handgefertigt. Mit einer Schneide aus reinem Sterlingsilber und der Griff ist schwarzes afrikanisches Eisenholz, zu einem Teufelskopf geschnitzt. Südafrika, Anfang des 20. Jahrhunderts, bitte sehr.«
Ich nahm den Teufelskopf vorsichtig in die Hand und schaute Charlotte an, die nickte. Auf
der gut fünfzehn Zentimeter langen silbernen Schneide sah ich die bewussten drei Ziffern eingestempelt. Der Feingehaltsstempel attestierte mit den eingeprägten Ziffern 925 den Reinheitsgrad dieses edlen Metalls. In der Tat, echtes Sterlingsilber und was für eine wunderschöne Arbeit, dachte ich entzückt. »Was soll er kosten?«, fragte ich den Alten. Der lächelte smart, »Nun ich denke, wenn es für einen guten Freund ist, werden wir und schon einig werden. 650 Euro, der Herr«, meinte er entschieden. »Dafür bekommen Sie aber zum Schutz der silbernen Schneide eine elegante, dazu exakt passende, Lederscheide. Sozusagen als ein Geschenk des Hauses.«
Die Entscheidung war gefallen,
»Okay, den nehmen wir«, erwiderte ich nun meinerseits fest entschlossen.
»Wie wollen die Herrschaften bezahlen, in bar oder mit Kreditkarte?«
»Ich zahle in bar, wenn es Ihnen recht ist«, bestätigte ich und zückte meine Brieftasche. Der Alte lächelte,
»Kein Problem, ganz wie Sie wollen, mein Herr. Wünschen Sie eine angemessene Geschenkverpackung für das edle Stück?«
»Das ist in der Tat eine ausgezeichnete Idee«, pflichtete ich scheinbar beeindruckt bei, um nur keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Der Antiquitätenhändler nickte freundlich,
»Selbstverständlich, unser Haus bietet Ihnen jederzeit einen guten Service, mein Herr.«
Er lief nach hinten und kam mit einer braunen
Lederscheide und einem passendem Holzkästchen zurück. Danach ging alles sehr schnell. Er verpackte den sterlingsilbernen Brieföffner kunstvoll in einem mit teurem Edelfurnier versehenen Holzkästchen, welches er anschließend noch in eine hauchdünne Folie aus Goldpapier einschlug. Ich zahlte ihm daraufhin umgehend den geforderten Geldbetrag sogleich passend in die Hand. »Wünschen Sie eine Quittung, oder irgendeinen Beleg?« Ich verneinte und bemerkte, dass es sei nicht nötig sei, da es sich ja ohnehin um ein Geschenk handele. Wieder nickte der Alte erfreut. »Also dann, viel Freude mit dem Geschenk und beehren Sie uns bald wieder.«
Er nickte Charlotte und mir noch einmal freundlich zu und bedankte sich bei uns für den Besuch. Selbstverständlich hatte er an diesem Tag ein wirklich sehr lukratives Geschäft getätigt, aber wir waren nun im Besitz einer wirksamen Waffe gegen einen möglichen Angreifer aus den Reihen der schwarzen Magier. Sicherheit gibt es halt eben nicht für lau...
***
Kapitel 12
Die Macht des Symbols...
Pünktlich fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit traf ich am nächsten Tag in der französischen Botschaft ein. Der Botschafter, ein überaus smarter Mann im vorgerückten Alter, gab mir schnell die Hand und verzog sich aber wieder hinter seinem Schreibtisch. Dann schaute er mit wichtiger Miene auf seine goldene Rolex-Armbanduhr und sagte, »Monsieur Sommerfeld, Sie haben genau zehn Minuten, mir Ihr Anliegen vorzutragen. Sollte es mich allerdings nicht tangieren, ist dieses Gespräch augenblicklich beendet.«
»Selbstverständlich, Herr Botschafter.«
Dann berichtete ich ihm in ausgewählten und wohldurchdachten Worten von der ziemlich geheimnisvolle Geschichte mit dem geheimen wissenschaftlichen Experiment seiner Landsleute im preußischen Berlin des Jahres 1902. Geduldig hörte mir der Botschafter bis zum Schluss zu und als ich mit meiner Geschichte zu Ende war, beugte er sich vor und sah mir unverwandt in die Augen, »Monsieur Sommerfeld, was glauben Sie, wen Sie vor sich haben, einen Volltrottel? Wen glauben Sie mit diesem Quatsch beeindrucken zu können? Das glaubt Ihnen doch kein Mensch!« Er sprach die Worte ruhig und gelassen aus, er wurde nicht wütend und hatte sich vollkommen im Griff. Ich hatte mit einer weitaus heftigeren Reaktion gerechnet. Sogar
mit einem Rauswurf. Nichts dergleichen jedoch geschah, er sprach weiterhin in einem sehr ruhigen Tonfall mit mir, aber… ...er beendete dieses Gespräch auch nicht. »Nun, Herr Botschafter, lassen Sie uns doch nur für einen Moment von der Hypothese ausgehen, ich hätte recht und diese ganze abenteuerliche Story entspräche im vollen Umfang, in allen Punkten der Wahrheit. Was glauben Sie, würde die Presse und die Medien dazu sagen, wenn ich neben dieser handfesten Story zugleich auch einen glasklaren und unwiderlegbaren Beweis für meine These präsentieren würde. Was glauben Sie, würde das für ein Licht auf die Republik Frankreich werfen? Einige der berühmtesten Wissenschaftler Frankreichs
haben im Jahr 1902 in Berlin ein Experiment mit lebenden Menschen durchgeführt und sie dann über 110 Jahre lang lebendig begraben. Was glauben Sie, welche der großen deutschen Boulevardgazetten würde sich am meisten darüber die Hände reiben und mir einen Millionenhonorar für diese phantastische Geschichte bieten?«, bluffte ich. Der Botschafter erhob sich aus seinem Sessel, ging zum Fenster, kehrte mir den Rücken zu und schaute hinunter auf die Straße. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen stellte er mir nach einer Weile eine bedeutsame Frage, »Nehmen wir nur einmal rein hypothetisch für einen kurzen Augenblick an, Ihre Aussage entspräche zumindest teilweise tatsächlich der
Wahrheit. Was verlangten Sie dann als Gegenleistung für Ihr Schweigen?« Ich lächelte, denn das Gespräch schien bereits einen von mir gewünschten Verlauf zu nehmen, »Sie werden es kaum glauben, Herr Botschafter, Euer Exzellenz, aber ich verlange nichts, oder besser gesagt, fast nichts...« Er drehte sich überrascht zu mir herum und war offensichtlich sehr erstaunt über meine Antwort. »Wie nichts? Weshalb sind Sie denn überhaupt hier?« »Nun, ich bin vor allen Dingen deshalb hier, weil ich möchte, dass die betreffende Versuchsperson einfach nur ihren Status als französische Staatsbürgerin wiedererhält und
anschließend auch wieder einen gültigen französischen Pass in ihren Händen hält. Nicht mehr und nicht weniger.« Der Botschafter lachte, »Sie beginnen mich langsam zu amüsieren, Monsieur Sommerfeld. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass sich die Republik mit dieser obskuren, ja fast bin ich geneigt zu sagen, geradezu abenteuerlichen Geschichte von Ihnen damit erpressen lässt.« »Das ist keine Erpressung, Herr Botschafter, denn diese Frau besaß ja schließlich einmal die französische Staatsbürgerschaft. Sie hat sie in der ganzen Zeit übrigens niemals verloren. Es geht nur darum, die Form der heutigen Zeit angemessen anzupassen«, erwiderte ich. »Außerdem glaube ich kaum,
dass sich die Republik Frankreich ebenso der Lächerlichkeit preisgeben will, wie es im Jahre 1906 der deutsche Kaiser höchst unfreiwillig getan hat, als er dem Schuster Wilhelm Voigt das Recht auf einen Pass verweigerte. Und dieser dann daraufhin in einer äußerst medienwirksamen und spektakulären Aktion den preußischen Militärstaat vorführte. Auch bekannt, als der Hauptmann von Köpenick. Ich denke, dieser Fakt dürfte selbst Ihnen hinlänglich bekannt sein Herr Botschafter, denn auch dort ging es damals lediglich um das Ausstellen eines gültigen Passes.« Der Botschafter schwieg eine geraume Zeit.
»Sie argumentieren sehr geschickt, Monsieur Sommerfeld, das traut man Ihnen so auf Anhieb gar nicht zu.«
»Danke, Herr Botschafter, aber ohne Not hätte ich es gewiss nicht gewagt, Euer Exzellenz mit solchen Dingen zu belästigen«, gab ich ihm zu verstehen. Der Botschafter indes konnte sich ein Lächeln jedoch nicht ganz verkneifen. »Sie gestatten aber, bevor wir überhaupt etwas unternehmen, dass wir die von Ihnen genannten Fakten auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen müssen«, meinte er resolut. »Ich bitte förmlich darum, Herr Botschafter, denn wir haben absolut nichts zu verbergen«, bestätigte ich ihn in seiner Meinung. »Dann bräuchte ich zunächst einmal die vollständigen Personalien jener französischen Versuchsperson und im Übrigen natürlich auch die aller beteiligter Personen, sowohl von französischer, als auch von deutscher Seite,
wie Sie sicherlich verstehen werden.«
»Selbstverständlich. Also da wären zuallererst die Versuchsperson selbst, Charlotte Bonnet. Sie wurde am 14. Februar 1875 in Paris, als siebentes Kind und einzige Tochter des Schreiners Jaques Bonnet und dessen Ehefrau Irene Bonnet geboren. Beide Eltern starben jedoch noch bevor Charlotte ein Jahr alt war. Sie kam daraufhin in einem Pariser Waisenhaus unter. Weiterhin wären da noch die beiden Curies, die bekanntlich über jeden Verdacht erhaben sein sollten und die preußische Physikerin, Frau Doktor Elsa Neumann. Sie wurde am 23. August 1872 in Berlin geboren und starb leider in sehr jungen Jahren, am 23. Juli 1902 ebenfalls in Berlin. Wir nehmen an, dass ihr früher tragischer Tod
die Ursache zum Abbruch, oder zum Vergessen des Experimentes gewesen sein könnte«, berichtete ich dem Botschafter, der sich währenddessen ein paar Notizen gemacht hatte. »Wo befindet sich die angeblich überlebende Versuchsperson im Moment, Monsieur Sommerfeld?«, kam prompt die Frage des Botschafters hinterher geschossen. Jetzt musste ich allerdings grinsen, »Nun, Sie können davon ausgehen, dass sie sich in Sicherheit befindet, Herr Botschafter und zu gegebener Zeit werden Sie sie natürlich zu Gesicht bekommen und dann selbstverständlich auch mit ihr reden können.« Ein leises, aber verständnisvolles Lächeln huschte über das markante Gesicht des
erfahrenen Diplomaten. Im Anschluss an meine Ausführungen betätigte er einen Klingelknopf und kurz darauf betrat der mir suspekte Sekretär des Botschafters den Raum. Der Botschafter flüsterte kurz mit seinem Sekretär und übergab ihm dann den Notizzettel, über dessen Inhalt ich dennoch zu gern mehr Kenntnis gehabt hätte. Während der Botschafter noch etwa zehn Minuten angeregt mit mir plauderte, wurde meine Legende offenbar bereits einem ersten Schnelltest unterzogen. Denn bereits eine viertel Stunde nach diesem Gespräch erschien der Sekretär wieder und reichte seinem Chef stumm einen voll beschriebenen A4-Zettel. Der Botschafter kehrte mir wieder den Rücken zu und studierte im hellen
Tageslicht intensiv, das ihm gereichte Blatt. Danach faltete er den Zettel zusammen und legte ihn auf seinen Schreibtisch. Er wandte sich zu mir herum, »Auch wenn sich scheinbar einige der persönliche Daten mit Ihrer Aussage zu decken scheinen, Monsieur Sommerfeld, so werden Sie verstehen, dass wir Ihren Hinweisen, bezüglich des von Ihnen genannten Experimentes und der angeblich daran beteiligten Personen natürlich noch genauer nachgehen müssen. Über unser weiteres Vorgehen bis zu einer definitiven Entscheidung werden wir Sie gegebenenfalls baldmöglichst informieren. Bitte unternehmen Sie nichts, bevor wir die Sache nicht endgültig geklärt haben, Monsieur Sommerfeld. Sollten
sich aber dennoch irgendwelche Hinweise in der Presse oder den Medien finden, die über den von uns besprochenen hypothetischen Fakt berichten, so betrachten wir dieses Gespräch als nie geführt, Monsieur Sommerfeld. Ich denke, Sie haben dafür vollstes Verständnis.«
»Das versteht sich natürlich von selbst, Euer Exzellenz«, bemühte ich mich zu versichern. »Ich lasse Ihnen nur schon mal ein Passbild jener betreffenden Person da, um die es geht. So kann ich Ihnen wohl am besten behilflich sein, wenn Sie diese Person bereits schon mal visuell im Ausschlussverfahren checken lassen wollen.«
»Sie handeln sehr umsichtig und durchaus mit angemessenem taktischem Geschick, wenn
ich diese Formulierung einmal benutzen darf«, erwiderte der Diplomat und schaute sich das Passfoto von Charlotte an. Er lächelte. »Darf man auch erfahren, welcher Profession Sie nachgehen, Monsieur Sommerfeld?«, fragte der Botschafter. Ich reichte ihm meine Karte, »Privatdetektiv, ich bin nur ein kleiner, eher unbedeutender Privatdetektiv, der eine dubiose Leidenschaft für alte Schachbücher besitzt, Euer Exzellenz.« Der Botschafter nickte abermals lächelnd, »Oh, das erklärt dann natürlich so einiges, Monsieur Sommerfeld.« Er machte ein freundliches Gesicht und gab mir erneut die Hand. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« »Merci, die Freude war ganz meinerseits, Herr
Botschafter, habe die Ehre.«
Damit war ich entlassen und die Audienz beendet. Die Saat war nun ausgebracht und ich hegte durchaus die berechtigte Hoffnung, dass sie nicht auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen war... * Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Fluge und Charlotte lernte sehr schnell. Sie war intelligent und wissbegierig. Ständig fragte sie mich etwas Neues und erwartete auf alle Fragen stets eine kompetente und sachkundige Antwort. Mit dem Internet lernte sie bald schneller und pfiffiger umzugehen, als ich es ihr erklärt hatte. So konnte ich ihr auch
einige kleinere Aufgaben aus meiner Detektei zur Recherche übertragen, die sie sogar mit Bravour löste. Eines Tages, um die Mittagszeit klingelte das Telefon und der Sekretär des französischen Botschafters war am Apparat. Er fragte mich ganz unverblümt, ob ich noch an dem 'Fall Bonnet‘ interessiert wäre. Als ich ihm versicherte, dass mein Interesse an der Sache nach wie vor ungebrochen sei, bestellte er mich auf den Nachmittag in die Botschaft ein, um den 'Fall Bonnet‘ endgültig abzuschließen, wie er es nannte. »Und vergessen Sie bitte nicht, ihre kleine charmante Freundin mitzubringen, Monsieur Sommerfeld, damit sich der Herr Botschafter selbst ein Bild von jener sagenumwobenen
Dame aus dem 19. Jahrhundert machen kann«, gemahnte mich der Sekretär und beendete erneut abrupt das Gespräch. Mir gefiel seine Art nicht und schon gar nicht die Formulierung, wie er Charlotte bezeichnet hatte. Auf mein Zeichen hin, hatte Charlotte mit dem Zweithörer das Gespräch mit angehört. Verstört stellte sie das mobile Telefon wieder in die Ladebox. »Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Gespräch gehabt, mon amour, dieser Mensch führt nichts Gutes im Schilde«, sagte sie leise. Ich hatte genau denselben Eindruck. Auch mich beunruhigten seine Worte und vor allem aber die zutiefst abscheuliche Grabeskälte in seiner Stimme. »Aber wir kommen leider nicht drumherum, wir
müssen dorthin. Unser Vorteil ist jedoch, dass wir bereits vorgewarnt sind und vorgewarnt, heißt auch vorbereitet sein«, versuchte ich Charlotte etwas zu beruhigen.
Sie nickte, aber man sah ihr ihre Angst vor einer Falle sehr genau an. Wie oft konnte sie den Angriffen noch ausweichen, noch zumal sie das Gefühl hatte, in die Höhle des Löwen zu gehen, wie sie mir selbst sagte.
»Du machst dort keinen Schritt ohne mich, ich werde stets an deiner Seite sein und ich werde dich auch keinen einzigen Augenblick aus den Augen lassen, mon chérie. Sei also unbesorgt, es kann dir nichts geschehen, denn ich werde es nicht zulassen, was immer auch passiert. Ich verspreche es«, sagte ich und nahm sie fest in meine Arme.
Am späten Nachmittag, kurz vor Einbruch der
Dunkelheit erreichten wir das neuerbaute, unspektakuläre Botschaftsgebäude. Der Tag war dämmrig und diesig. Die Sonne war anscheinend überhaupt nicht richtig aufgegangen und ein eiskalter Nebel senkte sich vor der herannahenden frühen Abenddämmerung herab. Drei Tage noch bis zu Charlottes Geburtstag. Welchen, das wollten wir dann klären, wenn alles vorbei, geregelt und in trockenen Tüchern wäre. Noch bevor ich überhaupt den Klingelknopf an der Eingangspforte betätigen konnte, ertönte bereits der Summerton an der Türöffnung.
»Rat‘ mal wer zum Essen kommt?«, murmelte ich und betrat mit Charlotte das Gebäude. Selbstverständlich wurden wir bereits erwartet,
denn man hatte uns längst schon bei der Annäherung an das Botschaftsgebäude ausgemacht. Hinter uns fiel die Tür fest ins Schloss und als ich mich kurz umdrehte, registrierte ich, dass diese Tür von innen keine Klinke hatte, sondern nur einen einfachen Knauf. Kein gutes Zeichen, dachte ich noch. Aber auf der Treppe empfing uns ein smarter Angestellter der Botschaft, der uns sehr freundlich begrüßte und uns anschließend über die große Freitreppe in die persönlichen Räumlichkeiten des Botschafters führte. Er bat uns in den breiten Polstersesseln dieses geräumigen und modern eingerichteten Büros Platz zu nehmen. In Kürze würde uns der Botschafter aber zur Verfügung stehen, eine dringende dienstliche Angelegenheit habe
leider zu einer kleinen Verzögerung geführt. Dann verschwand er durch eine Seitentür und ich hatte nicht einmal sehen können, wie er sie geöffnet hatte. Minutenlang tat sich gar nichts und ich hielt nur Charlottes Hand fest. Plötzlich öffnete sich die Flügeltür und der Botschafter kam uns freundlich und überschwänglich gut gelaunt entgegen. »Aha, wen sehe ich, Madame Bonnet! Ich habe schon viel von Ihnen gehört und freue mich Ihnen endlich persönlich begegnen zu können. Und Monsieur Sommerfeld, welche Freude, Sie zu sehen. Ich bin untröstlich, dass Sie etwas warten mussten, aber nun ist alles geregelt. Ich kann Ihnen gleich zu Anfang eine große Überraschung mitteilen, Madame Bonnet...«, wandte er sich nun direkt an
Charlotte und überschüttete sie quasi überfallartig mit einer wahnsinnig schnellen Rede in französischer Sprache, der ich absolut nicht folgen konnte. Ich bekam nicht einmal den Sinn dieser Rede mit, bei dem ein Wort das andere jagte, während der smarte Botschafter wie ein hochtalentierter Bühnenkünstler großartig mit den Händen gestikulierte und mit einer Vielzahl von Worten regelrecht jonglierte. Was dann geschah, überraschte mich mindestens genau so, denn Charlotte beantwortete seine Rede mit einem brillanten, wie ebenso eloquentem Feuerwerk an französischen Redewendungen und sich übersprudelnden Sätzen, wie sie nur eine leidenschaftliche Französin hervorbringen kann. Plötzlich hob der Botschafter beide
Arme und rief: »Bon, Madame Bonnet, Sie haben mich überzeugt...« Auf mein Fragezeichen im Gesicht antwortete er wie entschuldigend, »Voila, Monsieur Sommerfeld, ich selbst konnte mich soeben sehr deutlich davon überzeugen können, dass Madame Bonnet tatsächlich eine waschechte Pariserin ist, nur damit es Ihnen hilft diese rasante Situation etwas besser zu verstehen. Weiterhin habe ich ihr zu verstehen gegeben, dass der Präsident der Republik von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, Madame Bonnet die von Ihnen beantragte französische Staatsbürgerschaft Ihrer Person rechtskräftig zuzuerkennen, obwohl noch nicht einmal alle wirklich wichtigen Fragen zu diesem geheimen wissenschaftlichen Experiment von 1902
umfassend geklärt werden konnten. Aber wenigstens hinsichtlich Ihrer Herkunft scheinen nun keinerlei Zweifel mehr zu bestehen und das hat mich und damit den Präsidenten in erster Linie überzeugt. Das heißt, ein ganz kleines Identitätsproblem gibt es trotzdem noch. Und sollten Sie tatsächlich jene Charlotte Bonnet sein, für die Sie sich ausgeben, dann dürfte es Ihnen auch überhaupt keinerlei Mühe bereiten, uns von Ihrer wahren Identität zu überzeugen. Richtig ist, dass wir keine Sterbeurkunde einer 1875 in Paris geborenen Charlotte Bonnet gefunden haben, was aber noch gar nichts bedeutet. Sie könnte ausgewandert sein oder das Schicksal könnte sie in den Wirren zweier Weltkriege nach sonst irgendwohin verschlagen haben
und so weiter.« Der Botschafter machte eine Pause und fuhr dann fort, »Aber auf der Geburtsurkunde jener wahren Charlotte Bonnet wurde ein klares, signifikantes Identifizierungsmerkmal schriftlich exakt festgehalten, Sie wissen nicht zufällig, Madame, wovon ich rede?«
Charlotte wurde sofort eine Spur blasser um die Nasenspitze.
»Natürlich weiß ich wovon Sie reden, Herr Botschafter. Sie meinen das Muttermal auf meiner rechten Schulter. Einen Kreis mit einem gleichmäßig gevierteiltem Inhalt.«
Der Botschafter starrte sie mit offenem Mund an, als hätte Charlotte ihm soeben das Geheimnis der ungelösten Formel für die Quadratur des Kreises offenbart.
»Wären Sie denn auch bereit, diesen Fakt von unserer Botschaftsärztin, Madame Colbert, betätigen zu lassen, Madame Bonnet?«
»Nur wenn Monsieur Sommerfeld zugegen sein darf, um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.«
Der Botschafter nickte,
»Wenn dies Ihr ausdrücklicher Wille ist, Madame, dann soll es natürlich so sein.«
Er drückte auf den Klingelknopf und eine junge Frau mit einem blonden Pferdeschwanz öffnete die Tür. Sie stellte sich kurz vor. »Ich bin Doktor Susanne Colbert, die hiesige Botschaftsärztin, wenn Sie mir bitte in den Nebenraum folgen wollen, Madame Bonnet?« Charlotte sah sich hilfesuchend nach mir um. »Ich werde Sie begleiten«, sagte ich und
folgte den beiden Frauen ins Nebenzimmer. Die Ärztin bat Charlotte inzwischen die rechte Schulter frei zu machen. Also wusste sie genauestens Bescheid, es war ja auch nicht anders zu erwarten. Als das Muttermal an Charlottes rechter Schulter sichtbar wurde, warf die Ärztin einen langen Blick darauf. »Merci, Madame Bonnet, das genügt mir, Sie können sich wieder anziehen.« Dann ging sie zurück zum Botschafterzimmer und öffnete eine Seite der Flügeltür. Sie nickte dem Botschafter zu und zog sich dann zurück. Der Botschafter kam lächelnd auf Charlotte zu, »Na sehen Sie, wie ich sagte, nur eine simple Formalität.« Dann setzte er sich umständlich seine Lesebrille auf und öffnete eine lederne Mappe, »So möchte ich Ihnen nun, Madame
Bonnet, in aller Form Ihren Pass überreichen, der Sie als Bürgerin der Republik Frankreich mit allen Rechten und Pflichten ausweist. Ein paar Bedingungen sind natürlich daran geknüpft, die Sie mir bitte freundlicher Weise noch quittieren möchten, Madame Bonnet. Erstens: Sie verpflichten sich zu absolutem Stillschweigen gegenüber jedermann über das von französischer Seite durchgeführte Experiment aus dem Jahre 1902 und sofern es einen weiteren Interessenkreis berühren sollte, ist nur der Präsident der Republik Frankreich berechtigt, Sie zu autorisieren dieses Schweigen zu brechen. Gleiches gilt auch für Sie, Monsieur Sommerfeld. Und zweitens: Sie, Madame Bonnet, verpflichten sich, definitiv keinerlei weitere
Forderungen an die Republik Frankreich zu stellen, die sich aus dem Ergebnis des Experimentes ergeben haben, oder noch ergeben könnten.
Und drittens: Der Präsident hat aus nachvollziehbaren Sicherheitsgründen verfügt, dass Ihr Geburtsdatum um exakt einhundert Jahre zurückverlegt wird, Ihr Geburtsdatum ist jetzt der 14. Februar 1975 und dürfte den tatsächlichen physiologischen Gegebenheiten Ihrer Person, Madame Bonnet, wohl auch eher entsprechen. Erklären Sie sich einverstanden, Madame Bonnet, die festgelegten Bedingungen anzuerkennen und einzuhalten?«, fragte der Botschafter und schaute Charlotte über seinen Brillenrand hinweg an. Charlotte lächelte,
»Selbstverständlich erkenne ich diese Bedingungen an und freue mich über die positive Entscheidung des Präsidenten, Herr Botschafter.« Der Botschafter neigte seinen Kopf und legte aus der Mappe ein Maschine geschriebenes Blatt auf den Tisch, »Dann darf ich Sie beide bitten, hier zu unterschreiben, Madame Bonnet und Monsieur Sommerfeld.« Charlotte setze ihre Unterschrift unter das Papier und ich danach ebenfalls. Anschließend übergab der Botschafter Charlotte ihr den frisch ausgestellten, aktualisierten Pass, sowie eine notariell beglaubigte Abschrift ihrer neuen Geburtsurkunde. Anschließend gratulierte er ihr dazu. Mir nickte er freundlich zu und wandte sich abschließend noch einmal an
Charlotte, »Damit dürfte dieses bedauerliche Kapitel Ihres Lebens für Sie, Madame Bonnet, glücklich zu Ende gegangen sein und wir hoffen, dass es nachträglich auch keinerlei Konsequenzen für Sie weiter geben wird. Die Republik betrachtet diese Angelegenheit ab sofort, als für erledigt, Madame. Ich wünsche Ihnen im Namen des Präsidenten, ein glückliches Leben.« Er reichte uns abschließend die Hand und wir verließen wieder in Begleitung des freundlichen Herren, der uns hergebracht hatte, die Diensträume des Botschafters. Unterwegs umarmte ich Charlotte und drückte sie fest an mich. »Siehst du, es ist doch alles gut gegangen, sogar besser als wir erwartet hatten«, sagte
ich lächelnd und Charlotte drückte fest meine Hand, während wir uns auf den Ausgang hin zubewegten. Wir waren gerade im unten im Erdgeschoss angekommen, als plötzlich das Licht in den Gängen zu flackern begann und dann ganz ausfiel. Unser Begleiter rief uns aufgeregt zu, »Kommen Sie schnell, in dem Kellergang hier unten, da brennt noch Licht, dort gibt es einen Lieferantenausgang der über den Hof auf die benachbarte Straße führt.« Allein diese Bemerkung hatte mich sofort stutzig gemacht. Nur weil das Licht ausfiel, sollten wir einen äußerst fragwürdigen Weg durch den Keller eines uns unbekannten Gebäudes nehmen, um einen separaten Seitenausgang zu benutzen? Dennoch folgten
wir dem Begleiter, der uns rasch die Tür zu einem Kellergang öffnete. »Bitte gehen Sie bis zum Ende des Ganges und biegen dann nach rechts ab. Dort stehen sie dann auch schon vor der Hoftür und beeilen Sie sich, bevor das Licht womöglich hier auch noch ausfällt…« Ich nickte und packte Charlotte bei der Hand. Gemeinsam rannten wir den Gang entlang. Ich hörte noch, wie die Kellertür hinter uns ins Schloss fiel und von außen abgeschlossen wurde. Das ist doch eine verdammte Mausefalle, dachte ich sofort und stürmte mit Charlotte im Schlepptau durch den Gang, dem scheinbar rettenden Hofausgang entgegen. Als wir etwa die Hälfte der Strecke geschafft hatten, fiel in dem Kellergang ebenfalls das Licht aus und eine gespenstische Finsternis
umfing uns.
»Halt an!«, rief ich Charlotte zu. Wir blieben beide abrupt stehen und ich wühlte suchend in meiner ledernen Umhängetasche, nach meiner Hochleistungstaschenlampe. »Wenn wir wie blind in der Dunkelheit weiterrennen, stürzen wir womöglich noch in eine Fallgrube im Boden, dann können wir uns vielleicht überhaupt nicht mehr verteidigen, oder wir würden sogar getrennt«, beschwor ich sie. Dann hatte ich endlich die Lampe gefunden und hängte mir die Tasche wieder um den Hals. Die Hände musste ich unbedingt freibehalten. Ich griff wieder nach Charlottes Hand und schaltete die Leuchte ein. Ein gleißender Lichtkegel, erzeugt von 17 superhellen LED’s, leuchtete den Gang
schlagartig mit grellweißem Licht aus. »Komm!«, rief ich und zerrte Charlotte mit mir vorwärts. Unsere Schritte hallten durch den betonierten Kellergang. Auf einmal entdeckte ich vor uns einen schmalen Spalt im Boden, aber Charlotte hatte bereits schon einen Fuß auf den Spalt gesetzt. Zum Glück konnte ich sie gerade noch festhalten und riss sie zurück. Mit einem dumpfen Knall, öffnete sich eine große Luke im Fußboden und die metallene Abdeckplatte verschwand polternd in der Dunkelheit. Charlotte stieß einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an mich. Vor uns gähnte nun ein breites schwarzes Loch, aus dem modrig kalte Luft aufstieg. Tief unter uns hörten wir Wasser rauschen. »Wir müssen da hinüber springen. Wer weiß,
was uns hier unten sonst noch alles noch zustoßen kann«, sagte ich hastig und ging drei Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Mit einem weiten Satz war ich über das Loch im Boden hinweg auf der anderen Seite gelandet. »Und jetzt du«, rief ich Charlotte zu. Sie nahm ebenfalls Anlauf und auch sie übersprang das finstere Loch, während ich sie auf der anderen Seite auffing. Wieder griff ich nach ihrer Hand und zog sie mit mir fort. Das grelle Licht der Taschenlampe gab uns ein wenig Sicherheit. Wir hatten vielleicht noch fünfzehn Meter bis zum Ende des Ganges zu laufen, als Charlotte plötzlich stehen blieb und mich zurückhielt, »Jean, sie sind hier, ich kann sie ganz deutlich spüren, sie sind gleich bei uns…«
Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen,
als sich vor uns eine Tür in der Nische der Kellerwand öffnete und zwei Gestalten aus der Tür kamen. Sie betraten den Gang und begaben sich sofort in unsere Richtung. Sie hatten es nicht sonderlich eilig und kamen beständig näher. Aus ihren Augen flammten auf einmal jeweils zwei helle Lichter auf, die immer größer wurden und sich sogar zu langen heißen Flammen entwickelten. Schwarze Magier! Mir sträubten sich sofort die Nackenhaare, aber es blieb uns beiden keine Zeit mehr für irgendwelche überlegten Gegenmaßnahmen. Schließlich hatten sie uns erreicht, und das Licht in ihren Augen verlosch. Einer von ihnen packte mich mit einer Wahnsinnskraft in seiner riesigen eiskalten Hand an den Hals und drückte fest
zu. Der zweite ergriff Charlotte ebenfalls am Hals und würgte sie heftig. Die Taschenlampe war mir in dem Getümmel aus der Hand gefallen und beleuchtete nun gespenstisch vom Fußboden aus, diese ungleiche Kampfszene. Inzwischen hatte der zweite Magier Charlotte mit einer Hand an ihrem Hals hochgehoben und presste sie mit brutaler Gewalt gegen die Kellerwand. Die Lichterflammen in seinen Augen waren gerade vollständig erloschen und ich hörte nur noch das leiser werdende Röcheln aus Charlottes Kehle. Die Sinne begannen mir bereits zu schwinden, als ich in meiner Not nach dem silbernen Brieföffner fingerte. Ein kurzes Aufbäumen und ich hatte mit letzter Kraft den Brieföffner aus der am Gürtel befestigten
Lederscheide herausgerissen. Die silberne Schneide drückte ich nun kurz gegen die Hand des schwarzen Magiers. Der brüllte nun wie unter einem wahnsinnigen Schmerz auf und ließ augenblicklich meinem Hals los. Ich japste nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trocknen. Beinahe wäre es zu spät gewesen. Ich hatte ihm, ohne Gewalt angewendet zu haben, mit der silbernen Schneide des Brieföffners drei Finger seiner rechten Hand abgetrennt. Die abgeschnittenen Finger des Magiers waren auf den Boden gefallen und zerfielen sofort darauf zu grauem Staub. Er sprang auf die Füße und rannte vor Schmerz brüllend weiter in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Dann hörte ich nur noch einen Aufschrei und er war durch die offene
Bodenluke in das dunkle Loch gestürzt. Einen Moment darauf war das Aufklatschen eines Körpers auf eine Wasseroberfläche zu vernehmen. Obwohl ich selber kaum noch atmen konnte fasste ich mich und sprang mit einem gewaltigen Satz sogleich auch den zweiten schwarzen Magier an. Zum Letzten entschlossen, hielt ich ihm die silberne Schneide des Brieföffners direkt an den Hals,
»Lass' sie sofort los, oder ich pulverisiere dich auf der Stelle, du verdammter Dreckskerl!«, zischte ich ihn wie eine giftige Kobra an. Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, denn augenblicklich ließ er Charlottes Hals los. Sie rutschte an der Wand herunter und fiel leblos wie eine Marionette auf den Boden. Der
Magier hatte sofort die Macht des Silbers an seinem Hals gespürt und sank augenblicklich in sich zusammen.
»Solltest du es wagen, auch nur daran zu denken, deine Augenfeuer zu aktivieren, zerfällst du eine Sekunde später ebenfalls zu Staub, nur damit das klar ist, ich hab nämlich überhaupt kein Problem damit, dir den Garaus zu machen.«
Er nickte nur stumm und ergeben und atmete schwer. Ich hob Charlotte hoch und setzte sie aufrecht an die Wand, wo sie einen Moment später etwas Luft schöpfen konnte und danach dann langsam wieder zu sich kam.
»Geht es wieder, mon chérie?«, fragte ich sie. Charlotte schlug die Augen auf und sah mich schwer atmend verwirrt an.
»Leben wir?«, fragte sie mich nach einer Weile der Erholung. Ich nickte bestätigend,
»Wir leben und wir haben sogar einen Gefangenen gemacht«, antwortete ich ihr leise und wandte mich trotz meiner immer noch bestehenden Atmungsprobleme, dem auf dem Boden sitzenden, teilnahmslosen Magier zu.
»Wer bist du?«
»Wen kümmert‘s, wer ich bin. Ich bin nur ein Niemand. Aber Ihr müsst ein ganz hoher Herr sein, denn nur bedeutende Fürsten besitzen eine so mächtige Waffe, wie Ihr sie Euer Eigen nennt. Allein die furchtbare Nähe zu Eurem massiven Silber macht mich schwach und gebrechlich. Dieses verdammte Silber, es stiehlt mir fortwährend meine gesamte Lebensenergie.«
Er wälzte sich mühsam herum und fasste in das graue Pulver, was vor kurzem noch die drei Finger seines Kameraden waren und atmete erleichtert auf. »Ahh, Graphit«, murmelte er befreit, »das hilft etwas.« »Sagt mir nur, warum gerade Charlotte?«, fragte ich ihn. Der schwarze Magier grinste schwach. »Sie trägt seit ihrer Geburt das Symbol und hätte damit das Weib des obersten schwarzen Magiers werden können, sobald sie geschlechtsreif gewesen wäre. Aber sie ist ihm zuvor entflohen und hat sich in Paris auf der Straße prostituiert. Damit war sie unrein und kam nicht mehr als Gemahlin in Frage. Sie hätten beide eine eigene neue Dynastie gründen können und er wäre damit nicht mehr
so abhängig von der Macht den schwarzen Dämonen. Stattdessen hat er sich später von einem unbedeutenden Verehrer dieses Weibes, mit einer Silberkugel erschießen lassen, dieser Narr. Dabei hoffte er noch auf ihre Reinigung, wenn er sie für die nächsten einhundert Jahre wegschließen würde. Denn eine Frau mit diesem Symbol zu finden, ist extrem selten. Aber dafür ist er dann selbst im Reich der ewigen Finsternis untergegangen. Kurz bevor er jedoch starb, gab er noch den Tötungsbefehl und der jetzige oberste schwarze Magier wollte vor kurzem diesen Befehl widerrufen, um sich letztlich selbst mit diesem magischen Weib zu vereinen. Leider kamt Ihr ihm dazwischen, mein Fürst. Ihr wart einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort
und so ist Euer beider Todesurteil, endgültig beschlossene Sache. Da ich es nicht mehr zu richten vermag, wird es ein anderer für mich tun. Irgendwann... Ihr hättet dieses Schachbuch jedenfalls niemals besitzen dürfen, zumindest nicht mehr, nachdem die Zeit der Reinigung bereits vorüber war.« Er stöhnte auf und wand sich auf dem Boden. »Die Nähe zu Eurem Silber, sie wird mich töten, ich bin jetzt bereits schon hochgradig vergiftet und spüre schon mein baldiges Ende herannahen«, flüsterte er völlig erschöpft. Ich nahm seine Hand und zog sie über die Graphitreste auf dem Fußboden. Eine Spur von dankbarem Lächeln huschte über sein schon grau und faltig gewordenes Gesicht.
»Ist der Botschafter auch ein schwarzer Magier?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Sein Sekretär aber schon?« Er nickte.
»Als Menschen werden wir geboren, aber das dunkle Profil der Macht der schwarzen Dämonen lässt uns zu schwarzen Magiern werden. Sie gewähren uns kleine Privilegien und wir helfen ihnen dafür, über die Menschen zu herrschen. Denn allein können sie niemals lange über die Menschen gebieten. Nur als Diktatoren gelingt es ihnen hin und wieder eine gewisse Zeitlang. Sie bedienen sich der Hülle eines schwarzen Magiers, schlüpfen praktisch in sie hinein und regieren dann selbst. Aber erfahrungsgemäß wenig erfolgreich. Ihr Symbol ist immer ein Kreis, der wie auch immer, in vier Teile aufgeteilt ist.
Allein in Deutschland ist es ihnen zweimal im 20. Jahrhundert für einige Zeit gelungen, die Macht an sich zu reißen. Meist aber sind es die schwarzen Magier, die die Menschen in den verschiedenen Ländern regieren. Oder denkt Ihr, eure obersten Führer sind von ganz allein in diese Positionen gekommen? Die meisten von ihnen erliegen im Umgang mit den schwarzen Dämonen den Verführungen durch Geld und Macht, die ihnen die schwarzen Dämonen gewähren und werden so langsam und unmerklich selbst zu schwarzen Magiern. Eines Tages wachen sie auf und sind dann selbst zu einem schwarzen Magier geworden, können somit nicht mehr zurück in ihr altes Leben. Sie müssen dann aber den Befehlen der schwarzen Dämonen
bedingungslos folgen und können ihnen nicht mehr ernsthaft widerstehen.«
Er machte eine kleine Pause um sich zu erholen, aber sein Atem ging bereits sehr schwer.
»Es gibt natürlich auch immer wieder Ausnahmen«, fuhr er nach einer Weile bereits sichtlich geschwächt fort. »Zum Beispiel der Germane Arminius, als er im Jahre 9 mit seinen zahlenmäßig und technisch unterlegenen germanischen Horden drei unserer besten Legionen im Teutoburger Wald so vernichtend schlug. Wie konnte das geschehen?« Er lachte leise in sich hinein. »Arminius besaß eine massive Silbermaske und sein Schwert hatte er in Rom heimlich ganz aus Silber machen lassen. Er wusste
selbstverständlich, wo und wie er uns am besten treffen konnte.«
Der schwarze Magier grinste schwach. »Oder auch das Beispiel dieser Jeanne d’Arc. Wie kommt es, dass ein 17jähriges einfaches Bauernmädchen eine ganze Armee anführt und Schlachten gewinnt, wie sie selbst überlegene und erfahrene Feldherren nicht gewinnen konnten? Ich sage Euch, es ist die Macht des reinen Silbers. Denn solange sie die Rüstung aus reinstem Silber am Leibe trug, war sie unverwundbar und führte ihre Soldaten erfolgreich an. Erst ein bestochener Landsknecht hatte ein paar ihrer Rüstplatten am Oberarm aufgebogen. Als es einem unser besten Bogenschützen gelang, sie mit einem vergifteten Pfeil dort zu treffen, erst dann
stürzte sie schwer verwundet von ihrem Pferd. Nachdem einige ihrer eigenen Landsknechte ihr auch noch die Rüstung ausgezogen und das Silber dieser Rüstung gestohlen hatten, war sie praktisch nackt und wehrlos. Nur so konnten dann wir die Schlacht gegen dieses aufrührerische Weib, Jeanne d’Arc, überhaupt gewinnen.« Wieder grinste er matt. »Egal, was ihr Menschen unterschreibt. Ihr unterschreibt immer dort, wo euer Arzt, euer Versicherungsvertreter, oder wer auch immer, ein Kreuzchen für euch macht. Dies ist die gängigste Kurzvariante. Wenn ihr wählen geht, kreuzt ihr immer einen vorgezeichneten Kreis an. Eine Partei, eine Person es ist völlig bedeutungslos, so erfahren es die schwarzen
Magier und ihr alle verstärkt damit die Macht ihres Symbols in der Welt. Sie haben euch fest in der Hand und ihr könnt ihnen nicht entkommen, seid ihnen praktisch auf Treu und Glauben ausgeliefert.« Er schwieg augenblicklich und rang mit einem entsetzlich verzerrten Gesicht mühsam nach Luft. Charlotte hatte ihn die ganze Zeit über nur stumm und mit angstgeweiteten Augen angestarrt. Sie brachte kein Wort heraus. Dann bäumte sich der schwarze Magier noch einmal auf und seine Augen starrten plötzlich in die Leere einer unendlichen Ferne. Eine Minute später begann er zu grauem Staub zu zerfallen. Nach drei Minuten war nur noch ein Häufchen Graphitstaub von ihm übrig. »So hatte es mir Graf Lubomirski beschrieben,
denn er hatte diesen Vorgang beim Tod des schwarzen Magiers schon einmal genau so beobachtet«, flüsterte sie mit verängstigter Stimme. »Sag, Jean, müssen wir jetzt auch sterben?«, fragte mich Charlotte traurig und starrte auf das graue Pulver am Boden. »Nicht solange wir kämpfen und uns verteidigen können. Wie wir jetzt wissen, haben wir sogar eine ziemlich gefürchtete Waffe, die uns für den Notfall zur Verfügung steht. Und wir werden unseren Haushalt daheim mit noch mehr silbernen Gegenständen ausstatten, ich denke da besonders an silberne Löffel und Messer und Gabeln. Wir werden zwar immer wieder tüchtig viel blank putzen müssen, aber es wird uns dauerhaft schützen. Kein schwarzer
Magier wird es je wagen, unsere Wohnung zu betreten, es wäre dann nämlich sein sicherer Tod. Aber bevor noch mehr solche Typen auftauchen, sollten wir erst einmal von hier verschwinden, mon chérie, denn dieser Ort ist nicht sicher.« Charlotte nickte und reichte mir ihre Hand. Dann reinigten wir unsere Sachen vom Staub und wir gingen vorsichtig weiter den Gang entlang, bis wir an jene Tür kamen, die tatsächlich auf den erwähnten Lieferantenhof führte. Kurz darauf hatten wir das Areal glücklich und unversehrt verlassen können.
*
Etliche Wochen nach diesem unliebsamen Ereignis verriet mir Charlotte mit einem
glücklichen Lächeln, dass sie schwanger sei und noch vor Weihnachten unser Kind zur Welt bringen würde. Unsere Freude darüber war natürlich grenzenlos und wir begannen uns auf Familienzuwachs einzustellen. Von den schwarzen Magiern hatten wir seit dem nichts mehr gehört und unser Leben schien sich langsam wieder zu normalisieren. Natürlich hatten wir unser Domizil auch aufgerüstet und alles mit so viel Silber wie nur möglich ausgestattet. Von der Teekanne, über die Trinkbecher, Bestecke, bis hin zum Kamm und den mehrarmigen Leuchtern, alles aus massivem Silber. Diese Maßnahmen erschien uns notwendig und wir fühlten uns zuhause nun auch wieder relativ sicher. Drei Tage vor dem Heiligen Abend glaubte
Charlotte, dass es nun soweit wäre und sie in die Klinik zu Entbindung müsste. Sie fühlte, dass das neue Leben seinen Anspruch auf seine Daseinsberechtigung geltend machte. Noch in der Nacht, bei stürmischsten Wetter, mit Blitzen und Donner, gefolgt von einem Blizzard, der Unmassen von Schnee und Hagel über das Land jagte, gebar Charlotte ihr erstes Kind. Es war ein gesundes Mädchen und mit lautem Schrei aus ihrer kräftigen Stimme war sie in dieser kalten und außerordentlich stürmischen Nacht auf diese Welt gekommen. Auf ihrer rechten Schulter befand sich das Muttermal. Wie wir es schon im Voraus geahnt hatten. Ein Kreis mit einem Kreuz....
Wir benannten das kleine Mädchen nach
Charlottes Mutter, Irene. Der Arzt, der die Entbindung geleitet hatte, untersuchte das Kind eingehend und bescheinigte uns, dass das kleine Mädchen völlig stabil und wohlauf sei, es sogar vor bester Gesundheit nur so strotze. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen«, meinte er lächelnd. »Denn dieses kleine Menschenkind wird von nun an unter einem ganz besonderem Schutze stehen, es wird ihm nichts Böses je wiederfahren können, vertrauen Sie uns«, sagte er und übergab das in eine warme Decke gewickelte Kind an die überglückliche Charlotte. Dann drückte er auch mir lächelnd die Hand, »Natürlich auch meine Gratulation an den glücklichen Vater«, sagte er sehr freundlich
und schlug mir dabei jovial auf die Schulter. In der Iris seiner Augen glommen für den Bruchteil eines Augenblicks, zwei winzige gelbliche Flämmchen auf...
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Impressum
Cover: selfARTwork
Covermotiv: Egon Schiele_Frauenbildnis mit großem Hut _Gerti Schiele_1910
Picture inside: la belle Epoque
Text: Bleistift
© by Louis 2013/8 Story-Update: 2022/6
PuckPucks Was für ein grandios gruseliges Ende, lieber Louis :o))) Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, diese Geschichte zu lesen und so ganz nebenbei auch noch unglaublich viel zu lernen; deine Geschichte hat meine stabile Halbbildung wieder um Einiges erweitert ;o) Was ich mich frage: Wie steht es um das Schachspielen bei diesem ungewöhnlichem Paar? Was meinst du, haben sie ein Schachspiel aus Silber in ihrem Wohnzimmer? Ich war gerne dein Gast. Liebe Grüße Judith |
Bleistift Merci, liebe Judith, sowohl fürs Lesen, als auch für den Kommentar zum 'papiernen Gefängnis' und es freut mich natürlich ungemein, wenn Dir mein geschichtlicher Abenteuer-Querschnitt durch das 20.Jahrhundert auch ein wenig gefallen haben sollte. ...smile* Allerdings wollte ich damit keine Lehrstunde in Geschichte vermitteln, sondern dem geneigten Leser lediglich eine spannend zu lesende Geschichte offerieren... ...grinst* Soweit ich mich übrigens recht entsinne, kann Charlotte eigentlich gar kein Schach spielen, wie sie sogar noch aus ihrem Gefängnis heraus, dereinst selbst erklärt hatte... ...smile* LG Louis :-) |
Feedre bin wieder aufgetaucht....hab mich zwei Tage in deiner mystischen Welt aufgehalten...sozusagen als dritte Person....war auf der Titanic...im Weltraum in Paris, habe meinem Kollegen Henry die Hand geschüttelt also das Buch ist gar kein Buch....es ist ein Erlebnis....:-))) muß man lesen!!! Feedre |
FLEURdelaCOEUR Lieber Louis, ich habe sehr gern noch einmal ein bisschen darin gelesen, hatte damals die Fortsetzungsreihe gelesen und gebe dir gern hier ein paar Goldrubel. ;-) LG fleur |
Bleistift Liebe Fleur, herzlichen Dank für das nochmalige Überfliegen aller inzwischen komplett refreshten Kapitel, wie auch für die kredenzten Goldrubel, die ich wohl aus Sicherheitsgründen jedoch gegen gute Silbermünzen eintauschen werden muss... ...smile* Und wenn meine Bank nach dieser Corona-Geschichte wieder öffnen sollte, kann ich Dich für diesen feinen Kommentar sicherlich auch wieder etwas angemessener honorieren... LG Louis :-) |
Enya2853 Lieber Louis, wie schön! Ich habe ja vor langer Zeit die einzelnen Teile gelesen, bin aber nicht bis zum Ende gekommen, da ich hier pausiert habe. Umso freudiger habe ich nun alles noch einmal gelesen - auch den Schluss, der mir gut gefällt. Ich habe gehofft, dass sich alles so fügt. Ein tolles Werk, atmosphärisch dicht mit feingezeichneten Charakteren, mystisch, magisch, spannend. Was will man mehr? Dazu eine wohl gute recherchearbeit sowie fundierte Kenntnisse in Kunst und Historie, die du wieder fantastisch eingebaut hast. Hut ab. Ich bin sehr angetan. Liebe Grüße Enya |