Kurzgeschichte
Georges Interview - Nachtrag zu Georges Enescu aus dem "falschen Rinderhirten"

0
"Georges Interview - Nachtrag zu Georges Enescu aus dem "falschen Rinderhirten""
Veröffentlicht am 23. Mai 2018, 30 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
Georges Interview - Nachtrag zu Georges Enescu aus dem "falschen Rinderhirten"

Georges Interview - Nachtrag zu Georges Enescu aus dem "falschen Rinderhirten"

Das Interview (Nachspiel zu »Der falsche Rinderhirte in der wilden Puszta«

Der Applaus brandete im hell erleuchteten Saal auf. Er verbeugte sich mit glühenden Wangen und sein schulterlanges, dunkles Haar wirbelte umher. Er hatte es geschafft! Er war endlich, was er sein wollte: ein Komponist. Traumhaft schien ihm, was da passierte. Noch fremd schien ihm der Name, den die Menge ihm von den Rängen frenetisch zurief: »George Enescu!« Dirigent und Orchesterchef legten ihm

anerkennend die Hände auf die Schultern. Das gesamte Kollegium stand und die Musiker klopften mit ihren Instrumenten oder der flachen Hand auf ihre Notenpulte. Während er sich ein ums andere Mal vor seinem Publikum verneigte, hielt er die Geige fest in den Händen und sein Blick suchte die Reihen im Saal ab. Georges Miene entspannte sich, als er in der Loge Massenet und Fauré begeistert klatschen sah. Elena Bebescu, seine Gönnerin und eine gute Freundin seiner Lehrer, beugte sich gerade zu Massenet. George glaubte, in ihrem Gesicht lesen zu können. »Jules, ich habe es doch gewusst! Dieser junge Mann ist jeden Sou wert!« Wie stolz sie sind, ging ihm durch den Kopf, dabei habe ich nur getan, was in mir ist.

»Ein neuer Stern am Musikhimmel ist aufgegangen«, titelten tags darauf die Feuilletons nicht nur in Paris. »Mit Poeme Roumaine Nr. 1 setzt ein Siebzehnjähriger einen Meilenstein nicht nur bei den Colonne Concertes, nein, für die gesamte Musikwelt. Man merke sich den 6. Februar 1898 und den Namen George Enescu …«. Françoise Tuller lehnte sich in ihrem Sessel zurück und verschränkte die Arme. »Wer ist dieser Junge überhaupt?«, fragte sie in Richtung Monsieur Bernhard, dem dicklichen Chefredakteur, dem sie im Büro gegenübersaß. »Was fragen Sie mich, Françoise? Reden Sie mit ihm. Am besten gleich heute noch, ehe sein Stern verglüht, kaum dass er am

Firmament aufgegangen zu sein scheint. Es ist ihr erster Akt, also vermasseln Sie ihn nicht. Sie können das doch, oder?« Sein schmieriges Grinsen und der abschätzige Blick auf ihr Dekolleté gingen ihr auf die Nerven. Françoise nahm ihren Notizblock und erhob sich. »Wie Sie meinen, Monsieur Bernhard. So berühmt, wie er jetzt ist, wird es bestimmt nicht einfach, einen Interviewtermin zu bekommen.« »Wenn Sie sich richtig ins Zeug legen, ganz sicher. Wer kann Ihrem Charme schon widerstehen? Ich verlass mich auf Sie, Mademoiselle Françoise.« Seine feistes Gesicht mit den kleinen grauen Augen verzog sich zu einer unerträglich grinsenden Visage und seine dicken Finger klopften im Rhythmus

ihres Herzschlags auf die Schreibtischplatte. Françoise schüttelte es innerlich. Sie straffte ihre Schultern. Wenn ich könnte, wie ich wollte ... »Okay, ich werde ihn schon zu fassen kriegen.« »Wenn nicht, können Sie sich eine neue Stelle suchen. Am besten in einem Gewerbe, das Ihnen besser zu Gesicht steht.« Als sie die Tür schloss, atmete sie erleichtert auf. »Auf ihn mit Gebrüll!« Ganz Paris schien auf den Beinen zu sein. Françoise lenkte ihre Schritte rasch von der Metro durch die Menschenmenge, die auf dem Trottoir in den Feierabend wallte, zu dem Café, in das Massenet sie eingeladen hatte. »Dort können Sie George gerne interviewen. Ich werde Sie nicht stören, aber der Junge ist noch so

schüchtern, dass er meine Anwesenheit wünscht.« Sie trat auf die beiden Männer zu, die sich bei ihrem Eintreffen erhoben hatten, und reichte dem Älteren zuerst die Hand. »Bonjour, Monsieur Massenet.« Dann blickte sie in Georges jungenhaftes Gesicht und begrüßte ihn ebenfalls. Obwohl sie wenige Jahre älter war, überragte er sie fast um Haupteslänge. »Bonjour. Es ist mir eine Freude und eine große Ehre, dass Sie mit mir reden wollen, Monsieur Enescu.« »Für mich ist es ein großer Schritt, Mademoiselle Tuller.« George verneigte sich. »Aber nennen Sie mich doch bitte George.« »Wir werden schon zurechtkommen, denke ich. Für Sie bin ich Françoise.« Sie nahm den

ihr angebotenen Platz und betrachtete aufgeregt wie ein Schulmädchen den jungen Mann, der fast noch ein Kind schien. Groß gewachsen, schlank, dunkles Haar und ein fein gezeichnetes Gesicht. Seine langen, schlanken Finger nestelten nervös an der Kante des Bistrotischs herum. So erwachsen sie ihn am Abend zuvor erlebt hatte, so zurückhaltend saß er jetzt mit schmalen Schultern vor ihr. »Wie fühlt sich das an, über Nacht zum Mittelpunkt der Welt erklärt zu werden? Und vor allem: Woher kommt ihre Begabung für derartige Musik, die wie ein Paukenschlag in die Stille eingeschlagen hat?« »Nun, für mich hat sich nichts geändert, ich mache, was ich mein Leben lang getan habe.

Ich mache Musik.« George fasste sich und in seiner Stimme lag nur noch ein Hauch der anfänglichen Unsicherheit. In seinen Augen entdeckte sie ein verschmitztes, aber auch sinniges Glitzern. »Es freut mich, dass Sie danach fragen. Ich bin voll mit Musik und schreibe aus dem Herzen. So darf es ruhig weitergehen.« »Was sagen Ihre Eltern dazu? Sind sie stolz auf ihren Sohn?« »Ich denke schon, sie haben mir diesen Weg ermöglicht. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.« »Warum sind Ihre Eltern nicht hier in Paris, bei so einem großen Ereignis?« Françoise sah George erwartungsvoll an. Wenn meine Eltern bei so einem Ereignis fehlten, wäre ich mehr als enttäuscht, dachte sie bekümmert.

»Es wäre eine weite Reise für sie gewesen, fast vom anderen Ende der Welt. Meiner Mutter geht es derzeit nicht gut, da blieb mein Vater auch lieber zuhause.« »War die Musik der Grund, ihrer Heimat den Rücken zu kehren?« Françoise sah auf ihre Notizen, der Block füllte sich. Die anfängliche Aufregung und Unsicherheit hatte routiniertem Arbeiten Platz gemacht. Sie spulte ihre Fragen ab und notierte Stichpunkte. »Meine Möglichkeiten in Rumänien waren begrenzt. Wien war nur der erste Schritt, Paris eine logische Konsequenz.« George errötete leicht. »Sogar meinen Namen musste ich aufgeben, damit mein Publikum es leichter hat. Aber was tut man nicht alles, um Musik zu machen ...«

»... und berühmt zu werden«, vollendete Françoise seinen Satz. »Etwas anderes beschäftigt mich: Wo kommen Sie her? Was war Ihr Leben? Wie wurden Sie, was Sie heute sind?« »Françoise, ich komme aus einfachen Verhältnissen. Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern, was wohl erklärt, dass sie all ihre Fürsorge auf mich lenkten. Eigentlich hätte ich gern Geschwister gehabt, aber das Schicksal hat es nicht gewollt.« »Wie sind Sie aufgewachsen? Ist es in Rumänien anders als Frankreich?« »Wenn es Sie interessiert, mein Elternhaus liegt in einem kleinen Dorf am Ende der Straße. Man kann es nur mit Mühe zwischen einem Akazienwäldchen und dichten

Haselnusssträuchern entdecken. Es ist einstöckig, hat ein Dach aus alten Holzziegeln und weiß gekalkte Mauern. Der Front entlang läuft eine schmale, blau angestrichene Galerie, wo ungezählte Zwiebeln zum Trocknen aufgehängt werden. Und ja, Rumänien ist anders – Ich bin mit der Erde verwurzelt, auf einem Boden voller Sagen und Legenden geboren. Mein ganzes Leben verlief unter dem Einfluss der Götter meiner Kindheit, deren Umgang mir manch strengen Hinweis fürs Leben gab.« »Darf ich das so zitieren, Georges?« Françoise schrieb fleißig mit, blickte aber immer wieder auf. Er nickte. »Natürlich, Françoise. Es macht Spaß Ihre Fragen zu beantworten. Sie sind so anders als die

Fragen Ihrer Kollegen.« Sie lächelte nervös in sich hinein. Bei der Vorbereitung auf dieses Interview hatte sie feststellen müssen, dass es so gut wie keine verwertbare Information über George, geboren als Jurjak Enescu, gab. Sie wollte aber nicht nur mit Fakten dienen, sondern ein buntes Bild dieses aufstrebenden Künstlers zeichnen. Sie fuhr fort: »Sie sind mit sieben Jahren nach Wien gegangen? Das ist bestimmt nicht leicht für Sie gewesen, oder?« »Nicht wirklich, Françoise.« George sah sie freundlich an. »Ich war noch so jung und meine Eltern so fern.« »Das muss auch für Ihre Mutter schrecklich gewesen sein.« Françoise nippte an der Limonade und blätterte eine Seite in ihrem

Notizblock um. »Ja, ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen.« Georges Blick ging hinaus auf die Straße. »Ich war gerade in die Schule gekommen, da waren wir bei einem Professor in Iasi. Ich habe ihm vorgespielt und er meinte, dass ich nach Wien ans Konservatorium wechseln soll. Meine Mutter fand, ich sei doch noch so jung. Sie fing an zu weinen und ich fühlte mich plötzlich schlecht. Wie sollte ich sie verlassen können? Der Professor antwortete ihr, er glaube fest daran, dass in mir mehr steckt. Es sei ein Wunder, dass ich so leicht lernte. Und meine Lieder gefielen ihm ausnehmend gut. Wenn seine anderen Schüler sich krampfhaft bemühten und lange nicht vom Fleck kämen, wäre ich schon

kilometerweit weggeflogen.« »Haben Sie da schon gespürt, etwas Besonderes zu sein, George?« »Für mich war das normal. Ich wollte immer nur Geige spielen.« George lächelte sie an. »Wien war für mich ein großes Abenteuer, Françoise. Ich schloss mich sogar einem Wanderzirkus an, um die Welt zu sehen.« »Sie haben ihre Studien einfach abgebrochen?« Françoise warf einen erstaunten Blick über den Blockrand zu George. »Nein, natürlich nicht. Man hat mich ganz schnell wieder eingefangen und nach ein paar Tagen im finstren Kerker wieder ans Spielpult gekettet.« George lachte amüsiert über Françoises komischen Gesichtsausdruck.

»Keine Sorge, dieser Ausflug hat mir nicht geschadet. Nur die Tränen meiner Mutter trage ich heute noch in mir, sie sind die Perlen, aus denen ich mich und meine Musik nähre.« »Und Ihr Vater? Wie hat er es erlebt, einen so begabten Sohn zu haben?« »Nun, ich erinnere mich noch, dass ich eines Tages eine Gruppe Gaukler in unserem Dorf gehört habe. Sie spielten auf Geigen und Trompeten, was damals so gespielt wurde. Der Geiger hatte es mir angetan. Ich wollte auch so spielen können.« »Wie alt waren Sie da? Und wie ging es weiter?« »Da muss ich gerade noch drei gewesen sein. Ich habe mir ein eigenes Instrument in der

Werkstatt meines Vaters gebastelt. Einfach und nicht wirklich schön, aber ich habe meine kleine Geige geliebt. Mein Vater bekam das natürlich mit, weil ich den ganzen Tag auf dem Hof fiedelte. Er fragte mich, ob ich eine richtige Geige haben wollte. Da konnte ich doch nicht Nein sagen, oder? Wenig später zu meinem vierten Geburtstag bekam ich eine. Doch irgendwie hatte mein Vater mich nicht richtig verstanden. Sie hatte nur drei Seiten!« »Und was haben Sie gemacht?« Françoise lächelte, während sie sich seine Erzählung vorstellte und zugleich Stichpunkte für ihren Artikel notierte. »Ich habe sie im hohen Bogen ins Feuer geschmissen«, antwortete George und lachte dabei, »und habe meinen Eltern gesagt, ich

wolle eine richtige Geige, oder eben keine. Wenig später bekam ich eine kleine Geige mit vier Saiten und mein Vater brachte mir die ersten Stücke bei. Wie Sie ja wissen, ist er Geigenbauer und unterrichtet auch. Allerdings lernte ich zuerst, auf einer einzelnen Saite zu spielen.« »Das kann ich mir gut vorstellen, Georges. Da hätte die Geige mit drei Saiten doch auch gereicht.« Françoise sah den kleinen George mit der Geige unterm Kinn. Sie glaubte sogar, seine ersten Spielversuche zu hören, und schmunzelte in sich hinein. »Das stimmt schon, aber ich wusste da schon, dass ich Geiger werden und eine richtige Geige spielen wollte.« »Und mit Professor Hellmersberger von der

Wiener Akademie hatten Sie sicher einen guten Ziehvater, oder?« »Ja, er hat mir nicht nur das Spielen beigebracht, sondern auch zu leben, wo ich auch bin. Und nun bin ich hier in Paris, ein Musiker, wie ich immer sein wollte. Dank Messieurs Massenet und Fauré.« »Sie haben sich gut eingefunden in die Gesellschaft? Hier erzählt man sich so allerhand. Ihnen sagt der Name Maruca sicher was.« »Ja, eine rumänische Prinzessin, ich habe sie auf einem Hauskonzert kennengelernt.« Françoise entging nicht, dass seine Wangen einen rötlichen Schimmer bekamen. Ob sich da etwas anbahnte, fragte sie sich, traute sich aber nicht, die Frage zu stellen.

Wahrscheinlich würde Bernhard ihn jetzt genau darauf festnageln, dachte sie verärgert, nur um der Pointe willen. So wollte sie jedoch Journalismus nicht verstehen. Für sie stand an erster Stelle der Mensch, der hinter seiner Geschichte steckt, und nicht der Voyeurismus mancher ihrer Kollegen nur um der Sensation oder der Auflage willen. »Wie erklären Sie Ihren Erfolg, George? Nicht erst seit gestern setzen Sie Maßstäbe, Sie werden hofiert und spielen, als gäbe es kein Morgen. Sind Sie ein Wunderkind, oder ist es einfach nichts weiter als Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit?« »Darauf antworte ich Ihnen mit einer Gegenfrage, Françoise. Wenn Sie tun, was in Ihnen ist, würden Sie es als Arbeit empfinden?

Wenn Sie schreiben, schreibt auch Ihr Herzblut mit, oder?« »Zwei Fragen, George, eine Antwort. Die Arbeit für das Magazin ist mein Beruf, meine Liebe aber gilt der Poesie. Aber zurück zu Ihnen, George. Welche Pläne gibt es hinsichtlich Ihrer Musik? Was kommt als Nächstes? Verschlägt es Sie doch noch ans Dirigentenpult?« »Im März dirigiere ich erstmals in Bukarest im Athenäum mein Werk. Darauf freue ich mich, vor allem weil ich bei dieser Gelegenheit auch meine Eltern wiedersehen werde.« »Ganz sicher wird Ihr Konzert auch in Rumänien viele Freunde finden. Ich wünsche es Ihnen von Herzen und danke Ihnen für Ihre Offenheit. Ich werde Ihr Wirken sicher weiter

verfolgen. Und Sie können schon bald über unser Gespräch im Magazin nachlesen.« Hoffe ich, dachte Françoise und erhob sich mit einem Lächeln. Massenet, der am Nebentisch das Gespräch verfolgt hatte, trat auf sie zu. »Das haben Sie ja fein eingefädelt, Mademoiselle. Es hat mir Spaß gemacht, Euch zuzuhören.« »Vielen Dank für die Gelegenheit zu diesem Gespräch, Herr Massenet. Au revoir, George.« »Und das ist alles, was Sie mir anzubieten haben, Mademoiselle!« Monsieur Bernhard war außer sich. Mit puterrotem Kopf schnappte er wie ein Karpfen nach Luft. Dabei wedelte er mit den Papieren vor Françoise Nase herum, bevor er sie ihr vor die Füße

warf. »Das ist alles, was Sie aus diesem Jüngling herausgeholt haben? Das ist nicht Ihr Ernst, Mademoiselle!« »Ich verstehe nicht, Chef.« Sie hob ihren Artikelentwurf auf. »Ein paar Anekdoten habe ich doch aus ihm herausgekitzelt.« »Papperlapapp! Als ob die Leser das wissen wollen! Françoise, Ihnen hätte ich mehr zugetraut. Oder ist er nicht Ihr Typ?« »Das tut nichts zur Sache, Monsieur.« Sie versuchte, Haltung zu bewahren, obwohl sich Tränen in ihren Augen sammelten. Daran gewöhne ich mich wohl nie, dachte sie empört. »Ich kann doch nicht einfach etwas dazu erfinden, nur weil Sie sich andere Antworten erhofft haben!« »Das ist langweiliger Müll, Françoise.«

Bernhard beruhigte sich, seine Stimme klang weniger unbeherrscht. »Benutzen Sie Ihre Kreativität, seien Sie mutig und entschlossen. Dann wird ein Schuh draus. - Und die Leser werden es Ihnen danken, nicht mit belanglosen Einzelheiten gequält zu werden. Schreiben Sie einen Artikel, der mich vom Hocker reißt. Dann sehe ich für Sie eine große Zukunft in unserem Magazin. Und jetzt raus hier!« Françoise verließ wie ein geprügelter Hund sein Büro. Ihren Kollegen war der Wutausbruch des Chefredakteurs nicht entgangen, aber ihr Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Auch ihnen war er schon manches Mal über den Mund gefahren. Sie erntete stilles Bedauern und ließ sich auf ihren

Schreibtischstuhl sinken. Was soll ich nun machen, dachte sie enttäuscht und zugleich wütend. Sie ärgerte sich mehr über sich selbst, dass sie Monsieur Bernhard gegenüber so wenig selbstbewusst aufgetreten war. Ihre Story las sich gut, und sie fand, sie traf genau den Kern. Sie war sich vorher schon im Klaren gewesen, dass es nicht leicht sein würde, über einen Menschen zu schreiben, der so jung noch, an sich ja kaum etwas hergab, außer seiner Einzigartigkeit als Musiker und Komponist. Die wenigen Fakten hätten in wenigen Zeilen aufgelistet sein, aber den Menschen dahinter hätte sie damit nicht skizzieren können. Sie erinnerte sich gern an die Stunde im Café. George war nett und die Atmosphäre anregend gewesen. Seine

Schilderungen entbehrten nicht einer gewissen Komik. Sie sah ihn jetzt noch vor sich, zuerst schüchtern und ein wenig einsilbig. Mit der Zeit war er aufgetaut und hatte das Bild von einem kleinen Jungen entstehen lassen, der nichts weiter wollte, als Geige spielen und Lieder erfinden. »Es wäre mir eine Freude, diesen Artikel in die nächste Ausgabe zu nehmen.« Monsieur Venneur gab Françoise mit einem Lächeln ihre Mappe zurück. »Einzig die paar Flüchtigkeiten sollten Sie noch korrigieren. Und es wäre schön, dem Artikel ein Foto von Enescu beizufügen. Vielleicht können Sie ja noch mal mit ihm zusammenkommen, bevor er nach Bukarest aufbricht. Und Sie, Monsieur Bernhard, halten sich in Zukunft ein wenig

zurück. So ein Verhalten dulde ich nicht! Und jetzt raus hier, alle beide, ich habe zu tun.« Françoise wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das Lob des Verlagschefs ging ihr wie warmer Honig runter, ebenso wie die kalte Dusche für ihren Abteilungsleiter. Auf dem Flur meinte sie: »Es tut mir leid, Monsieur Barnard, aber ich fühlte mich ungerecht behandelt. Sie verstehen sicher, dass ich mich dagegen verwahren musste.« »Ist schon recht, Françoise«, Barnard reichte ihr die Hand, »ich habe manchmal einen schlechten Tag. In Zukunft machen wir das Beste draus, ja? Ich weiß, was Sie können. Und das andere bringe ich Ihnen bei. Wenn sie möchten, Françoise.« »Dieses Angebot kann ich nicht ausschlagen,

Monsieur Barnard.« Sein Händedruck war warm und fühlte sich gut an. »Ich schreibe den Artikel fertig und versuche, einen Fototermin zu bekommen.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, übernehme ich das für Sie. Ich schicke einen Fotografen raus. So ist das Bild bis zum Druck fertig und Ihr Artikel kann in die nächste Ausgabe. Das kriegen wir gemeinsam hin.« »Das wäre sehr nett, Monsieur Barnard.« Sie wollte ihm diese Freude nicht nehmen, obwohl sie sich gerne selbst noch einmal mit George Enescu getroffen hätte. »Sie haben den Artikel rechtzeitig vor Druck, Monsieur Barnard.« »Aber gern, Mademoiselle.« Und diesmal klang es nicht mehr so von oben herab. Monsieur Bernhard war an seinem Büro

angekommen. »Wir sehen uns dann später, Françoise.« »Un café, s’il vous plaît«, rief George dem Kellner des Cafés zu und setzte sich an einen Tisch mit Blick über die Champs Elisée. Kaum drei Tische waren bei dem Wetter besetzt, Herren in Anzügen, deren Köpfe hinter Zeitungen versteckt waren. »Haben Sie auch etwas zu lesen für mich?« Der Kellner brachte ihm das Getränk und nahm auf dem Weg von einem Stapel Zeitschriften die oberste mit. »Bitte schön, Monsieur.« Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen. Bald schon würde er zu seiner ersten Konzertreise aufbrechen. »Der ganze Rummel macht mich noch nervös«, murmelte

er. »Dass meine Musik so einen Anklang findet, damit habe ich nicht gerechnet. Aber es fühlt sich richtig gut an. Mal sehen, wohin mein Weg noch führen wird.« »Bitte lesen Sie den dazugehörigen Artikel unserer aufstrebenden Kollegin Françoise G. Teil 2 in der März-Ausgabe.«


0

Hörbuch

Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

Leser-Statistik
8

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Katharina,
ich habe diese Erzählung sehr gern gelesen, zumal ich mich noch vage an die von George und Maruca erinnere.
Ich kenne ja Bukarest ein wenig, die Calea Victoriei, das Atheneum, die Oper, das Enescu -Museum ...
Im Untertitel hast du einen Schreibfehler "Nachtrag zu Georges Enescu ..."
Nur in Frankreich nannte er sich Georges Enesco, rumänisch heißt er George Enescu.

Schön, dass du wieder da bist, ich hoffe, es geht dir gut?
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
KatharinaK Liebste Fleur, danke fürs Bemerken und das Lob, das darin mitschwingt. Enescu ist die Schreibweise, die ich überall gefunden und somit übernommen habe. Zudem "spielt" diese Episode IN Frankreich, da ist die Schreibweise also richtig.
Gut ist immer relativ, zufrieden bin ich. Danke der Nachfrage.

Ich hoffe, Dein Befinden ist gut bis sehr gut.

Liebe Grüße aus meinem Kessel,
Katharina
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Danke, mir geht es gut.
Ich meinte mit der Schreibweise den Vornamen, George ohne s.
LG fleur
Vor langer Zeit - Antworten
KatharinaK na dann …
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Das Interview ..."
Schön und interessant geschrieben,
wie auch mit eloquenten und ausgewählten Worten erzählt,
selbst wenn Monsieur Bernard ab der 26zigsten Schreibseite
gelegentlich auch die Schreibweise seines Namens ändert... ...smile*
Feiner Text, der mir dennoch gut gefallen hat... ...smile*
LG
Louis :-)



Vor langer Zeit - Antworten
KatharinaK Ist mir inzwischen auch aufgefallen. Aber ich habe den Text nicht noch einmal Korrektur gelesen. 2016. Mache ich aber sicher noch, wenn ich MUSS. Danke, Louis, für Löble … liebe Grüße,
Katharina
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
6
0
Senden

158368
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung