Kurzgeschichte
Es begann kaum spürbar

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"Es begann kaum spürbar"
Veröffentlicht am 12. Dezember 2017, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Matthias März wurde am 28.10.1961 in Hannover geboren und ist ebenda wohnhaft. Der Hobbyautor hat schon von Kindesbeinen an Kurzgeschichten geschrieben, wovon z. Zt. über 330 veröffentlicht sind. Hinzu kommen etwa 90 Drabbles. Überwiegend bewegt sich März in den Bereichen Humor und Satire, Drama und SF. Bereits erhältlich sind im Handel die humoristischen Kurzgeschichten-Sammlungen "Die dreiundzwanzigste Deutschstunde", "Pausenlos ...
Es begann kaum spürbar

Es begann kaum spürbar

Es begann kaum spürbar von Matthias März

Als ich es das erste Mal bemerkte war es kein Anlass zur Sorge. Im Gegenteil es war eine große Freude für mich. Ich hatte gegen Herbert zum ersten Mal eine Schachpartie gewonnen. In all den Jahren die wir uns kannten war mir das noch nie gelungen. Allenfalls zwei Remis hatte ich zuvor geschafft. Doch an diesem Tag war Herbert unkonzentriert. Er machte schlimme Fehler und schien das noch nicht einmal zu bemerken.

Drei Monate später waren wir zu einem Turnier in Stuttgart eingeladen. Herbert

hatte unsere Fahrt wie immer perfekt organisiert und die Fahrkarten viele Wochen zuvor besorgt. Er kannte die Fahrpläne aller großen deutschen Verkehrsverbünde auswendig, daher machte ich mir keine Sorgen, dass etwas schief gehen könnte. Doch als wir in der Schwabenmetropole ankamen, stellte sich heraus, dass die Stadtbahn nicht zum gewünschten Ziel führte, wir waren in die falsche Richtung gefahren. Herbert spielte das herunter. „Das kann schon mal passieren!“, sagte er mit einem Lächeln. Zum Glück trafen wir dann noch rechtzeitig am Veranstaltungsort ein. Als uns dort Manfred Fleischer begrüßte, war ich das zweite Mal an

diesem Tage irritiert. Herbert stellte sich und mich vor zur großen Verwunderung von Manfred. Wir kannten uns schon lange, doch Herbert hatte das offenbar vergessen.

Was war nur mit ihm los? Er war mit seinen 65 Jahren geistig bislang topfit. Sein Gedächtnis war phänomenal, auf vielen Bereichen. Wenn wir gemeinsam Quizshows guckten, kannte er meistens alle Antworten, egal ob es Sport, Geschichte, Musik oder Literatur war. Herbert machte sich immer über die „dummen Kandidaten“ lustig, die so wenig wussten aber so viel Geld dafür bekamen. Doch nun machten sich bei ihm

erste Anzeichen einer Verwirrung bemerkbar.

Das Turnier gewann mein Freund überlegen und freute sich riesig. Er lud mich zum Essen in einem teuren Feinschmeckerlokal ein. Die „Zirbelstube“ befand sich in dem Hotel, in dem wir nächtigten. „Wunderschön hier“, stellte ich fest und ergänzte: „Und nicht gerade preiswert.“

„Mach darüber keine Sorge und schau nicht auf die Preise“, antwortete Herbert. „Ich denke, ich nehme als Vorspeise die Froschschenkel. Das wollte ich immer schon einmal probieren. Der Lammrücken ist bestimmt

auch köstlich. Was nimmst du, Alexander?“

„Ja das Lamm werde ich auch nehmen, aber keine Froschschenkel. Ich wundere mich, dass du so etwas essen willst. Du hast dich doch immer so für den Tierschutz engagiert.“ Ein verwirrter Blick von meinem Freund. Dann entgegnete er: „Na, ja, auf meine alten Tage kann ich ja wohl noch einmal meine Meinung ändern.“

Sechs Monate vergingen. Ich hatte es mir gerade vor dem Fernseher mit einem wunderbaren Rotwein gemütlich gemacht, als das Telefon klingelte. „Guten Abend, Herr Bartels. Hier

Polizeiobermeister Vogel. Kennen Sie einen Herbert Reimers?“

„Selbstverständlich. Ist ihm etwas passiert?“

„Nicht direkt. Aber wir haben Ihren Freund am Messeschnellweg aufgegriffen. Er lief dort mehrfach auf die Schnellstraße. Zum Glück fuhren wir zufällig vorbei. Herr Reimers hatte keine Papiere dabei und trug nur einen Schlafanzug und Pantoffeln. Können Sie ihn hier bei uns in Döhren abholen?“ Natürlich war das kein Thema. Ich machte mich sofort auf dem Weg zum Polizeirevier. Zum Glück hatte ich noch nicht viel getrunken.

Diesen Blick von meinem Freund werde ich nie vergessen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er wirkte teilnahmelos und wusste offensichtlich nicht, wo er war. „Die wollten mich entführen, Alexander. Gut, dass du endlich da bist“, flüsterte er mir zu. Immerhin erkannte er mich. Ich brachte ihn nach Hause. Während der ganzen Fahrt redete er wirres Zeug und beschwerte sich, dass seine Schwester Gertrud sich schon lange nicht mehr bei ihm gemeldet hatte. Herbert hatte vergessen, dass sie vor drei Jahren verstorben war.

Es wurde immer schlimmer mit ihm. Als ich einige Zeit danach Socken in seinem

Kühlschrank und mehrere Brote in seinem Geschirrspüler entdeckte stellte ich ihn zur Rede. „Das war die Gertrud!“, behauptete er. „Die hat mich vorgestern  besucht und hier alles durcheinander gebracht. Aber was soll es. Lass uns eine Partie Schach spielen. Ich habe die Figuren schon aufgebaut.“ Das hatte er tatsächlich, aber die Könige und die Damen standen falsch. So etwas war ihm noch nie passiert. Jetzt reichte es mir. „Herbert, wir müssen reden. Warst du schon einmal beim Arzt wegen deiner Krankheit?“

„Wieso? Mir geht es prima. Ich bin fit wie ein Turnschuh.“

„Das bist du nicht, Herbert. Das fällt mir

schon seit einiger Zeit auf.“

Mit großem Widerstand fügte er sich schließlich und ließ sich zwei Tage später untersuchen. Doktor Bauer stellte bei ihm Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium fest. Mein Freund konnte nicht einmal simple Fragen richtig beantworten. Er war felsenfest davon überzeugt, dass Kohl noch Bundeskanzler war und wusste auch nicht welchen Wochentag wir hatten.

Da Herbert keine Verwandten mehr hatte, kümmerte ich mich um alles Weitere. Ich fand ein gutes Pflegeheim in der Nähe seines bisherigen Wohnortes für ihn.

Man blickte von seinem Zimmer auf den Stadtwald, den er so liebte. „Wunderschön hier in diesem Krankenhaus, Alexander“, stellte Herbert fest, als ich ihn das erste Mal dort besuchte. „Ich werde übrigens nächsten Montag entlassen. Die kleine Magenverstimmung habe ich doch recht schnell überwunden. Gertrud war vorhin auch da. Schau dir die schönen Blumen an, die sie mir mitgebracht hat.“ Er zeigte auf seinen Nachttisch. Dort standen gar keine Blumen. „Mach doch bitte den Fernseher an. Die DDR hat die Grenzen aufgemacht, das will ich unbedingt sehen. Dann besucht mich bestimmt auch bald Erwin, mein Cousin.

Der lebt doch in Dresden. Ich freue mich schon, ihn wieder zu sehen.“ Ich musste eine Träne unterdrücken. Herbert lebte für sein Gefühl im Jahr 1989.

Ich habe Herbert vorgestern das letzte Mal gesehen. Er ist friedlich eingeschlafen. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen geht an eine Stiftung, die sich um Menschen kümmert, denen es so ergeht wie ihm. Zu hoffen bleibt, dass in ferner Zukunft die Forschung solche Schicksale wie das von Herbert verhindert.

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Hörbuch

Über den Autor

Katerlisator
Matthias März wurde am 28.10.1961 in Hannover geboren und ist ebenda wohnhaft.
Der Hobbyautor hat schon von Kindesbeinen an Kurzgeschichten geschrieben, wovon z. Zt. über 330 veröffentlicht sind. Hinzu kommen etwa 90 Drabbles.

Überwiegend bewegt sich März in den Bereichen Humor und Satire, Drama und SF.

Bereits erhältlich sind im Handel die humoristischen Kurzgeschichten-Sammlungen "Die dreiundzwanzigste Deutschstunde", "Pausenlos peinliche Pannen" und "Hubert deckt auf"; sowie "Siebzehn Wege zu Yin und Yang", eine Sammlung dramatischer Kurzgeschichten, "Zeitenwandler", eine Zusammenstellung von SF-Storys und "Dem Mord auf der Spur", eine Sammlung von Kurz-Krimis. Diese Werke sind jeweils als E-Books im Handel erhältlich. Außerdem gibt es das E-Book "Unser Wilder Westen", wo der Autor als Herausgeber fungiert.

Die humoristischen Geschichten gibt es auch kompakt als Printbook unter dem Titel "Bedeutende Vertiefung aber der Reihe nach", erhältlich bei Amazon.

Der SF-Roman "Fast die gleiche Welt" ist fast fertig und wird in Kürze vollendet.

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Gabriele Beim Lesen sind mir die Tränen gekommen....
....denn ich habe es sehr ähnlich bei meiner Mutter erlebt.
Du hast es sehr gut beschrieben - die Zeitabstände mit eingebaut.
Bei Herbert scheint es in der Tat sehr schnell verlaufen zu sein,
bei meiner Mutter hat sich das über sechs Jahre hingezogen und am Anfang hat sie es selbst registriert und fand es (als sehr intelligente Frau) schrecklich. Mögen Forschung und Stiftungen mögliche Wege zur Linderung von Alzheimer finden!
Danke für den gut geschriebenen Text,
liebe Grüße, Gabriele
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Gut geschrieben und wenn mir das Thema durchaus sehr bekannt ist, berühren mich deine Zeilen sehr.
Alzheimer ist Fluch und Segen zugleich.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
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