Weißer Falke
Weißer Falke war ein kleiner Indianerjunge. Er wollte ein großer Häuptling werden. So gerecht und weise wie sein Großvater. Nun saß er neben ihm auf einem Stein und schaute über die Prärie.
„Was siehst du?“, fragte sein Großvater.
„Ich sehe dich, dein buntes Gewand, den schönen Federschmuck und deine Pfeife.“
Weißer Falke sah die fernen Berge in der Abendsonne rot glühen. Er bemerkte, dass die Schatten der Kakteen immer länger wurden. Er schaute auf das dürre
Gras und die vielen Steine, die überall herum lagen. Und er schaute hinüber zum Indianerdorf, zu den vielen braunen Zelten.
Das alles sah er.
„Was hörst du?“, fragte der Großvater.
„Ich höre dich atmen, husten und sprechen.“, antwortete der Junge. „Ich höre den Wind ein Lied singen.“ Er sah zum Himmel hinauf, weil er den rauschenden Flügelschlag eines Raubvogels vernommen hatte. Im selben Moment aber raschelte es im dürren Gras, eine Schlange zischte kurz auf und glitt blitzschnell unter einen Stein. Dann hörte Weißer Falke seine Mutter rufen.
Das alles hörte er.
„Was riechst du?“, fragte der Großvater.
Weißer Falke sah Rauch aufsteigen und schnupperte.
„Ich rieche Rauch,“ sagte er, „und Essen.“
So schnell er konnte, lief er und erreichte das Wigwam seiner Familie. Aus dem Kessel über dem Feuer strömte ihm der Geruch von Fleisch und Gemüse entgegen und vermischte sich mit dem vertrauten Geruch der brennenden Holzscheite. Die Mutter hielt ihm bereits ein köstlich duftendes Fladenbrot entgegen.
Das alles roch er.
„Was schmeckst du?“, fragte sein Großvater.
Der Junge biss herzhaft in eine Scheibe gebratenes Fleisch. „Das schmeckt herrlich“, sagte er, „es ist saftig und zart, sehr pikant.“ Aber noch besser schmeckten ihm die würzig knusprigen Fladenbrote. Er genoss den süßen Geschmack, der sich in seinem Gaumen ausbreitete und freute sich an dem Knacken der knusprigen Rinde. Dazu reichte ihm die Mutter einen Becher voll mit süßem Fruchtsaft. Kühl und erfrischend rann er seine Kehle hinunter.
Das alles schmeckte er.
„Was fühlst du?“, fragte der Großvater.
„Ich fühle mich satt und zufrieden,“ antwortete Weißer Falke und setzte sich ans nahe Feuer. „Ich fühle die wohlige Wärme, ich fühle Vertrautheit und Geborgenheit.“
Der Großvater legte seine Hand auf den Kopf des Jungen. Die Hand war alt, rissig und voller Narben. Weißer Falke spürte das alles. Aber er fühlte auch die Liebe seines Großvaters. Er sah ihn an und sagte: “Ich möchte so werde wie du.“
Das alles fühlte er.
Großvater sah ihn lange an.
Dann sagte er: „Lerne sehen wie ein Falke und hören wie ein Luchs. Schärfe
deinen Geruchs- und Geschmackssinn. Achte auf alle Empfindungen und höre immer auf die Stimme deines Herzens ... dann wirst du ein echter Indianer und ein großer Häuptling werden.“