die allee in die ewigkeit
Volker war Altenpfleger in einem Sanatorium. Er mochte seinen Beruf.
Ein Beruf der nicht sonderlich gut bezahlt war und auch die Arbeitszeiten konnten nicht jeden begeistern.
Volker mochte seinen Beruf wegen der Menschen, mit denen er zu tun hatte.
Für viele seiner Kollegen und Kolleginnen waren diese alten Leute nur lästige Patienten, die sie zu versorgen hatten. Aber Volker nannte sie seinen Schützlinge.
Und Volker unterhielt sich mit seinen
Schützlingen oft mehr, als der knappe Zeitplan eigentlich erlaubte.
Denn noch etwas mochte Volker. Und das waren Geschichten.
Er liebte es, seinen Schützlingen zu zuhören, wie sie Geschichten aus ihren langen und oft spannenden Leben erzählten. Es war so viel Erfahrung und Weisheit darin.
In seiner Freizeit schrieb Volker selber Geschichten und oft waren seine Schützlinge seine Inspiration.
Mit einem Neuzugang unterhielt sich Volker besonders gern. Alfons Beer. 92 Jahre, 40 Jahre lang Grundschullehrer.
Obwohl Alfons da einige male beim Erzählen was durcheinander brachte und
sich manchmal auch mitten im Redefluss nicht mehr erinnern konnte , was er eigentlich sagen wollte, hatte er doch eine Menge Geschichten aus seinem Leben zu erzählen.
Einmal lauschte Volker Alfons Erzählungen so lange, dass er Tags darauf mächtig Ärger bekam. Die 5 Minuten, die er Zeit hatte, sich mit seinem Patienten zu unterhalten und irgendwelche sinnfreien Phrasen aus zu tauschen, nur damit der Patient das Gefühl hatte: „Hey, ich bin ja doch noch da“, hatte er bei weitem überschritten.
Besonders gefiel Volker, wenn Alfons von seinen Mutmach Geschichten
erzählte.
„Weißt du mein Junge“, sagte er dann zu Volker, „ diese kleinen Kinderchen, die dann zum ersten mal in die Schule gehen haben oft furchtbare Angst, was auf sie zukommen wird. Als Grundschullehrer musst du da sehr einfühlsam sein. Du bist die erste Person auf ihrem Bildungsweg durchs Leben. Und wie ich finde auch die Entscheidendste. Von dir hängt es ab, ob dieses kleinen Wesen Spaß am Lernen entwickelen, oder nicht. Am lebenslangen Lernen.“
„Und was haben sie gemacht, um den Kindern ihre Angst zu nehmen?“, wollte Volker wissen.
„Ich habe Mutmach Geschichten
erfunden“, antwortete Alfons.
„Das hört sich ja cool an“, begeisterte sich Volker. „Könnten sie mir eine davon erzählen? Ich liebe Geschichten.“
„Ach mein Junge“, seufzte Alfons. „Ich kann mich an keine einzige mehr erinnern. Es müssten in Laufe meines Berufslebens an die Tausend gewesen sein. Jede einzelne war nur für ein Kind bestimmt. Ich habe sie nie aufgeschrieben, nur erzählt. Für jedes Kind seine individuelle Geschichte.“
Am nächsten Tag merkte Volker sofort, dass mit Alfons etwas nicht stimmte, als er das Zimmer betrat.
Teilnahmslos lag Alfons im Bett und Volker fragte natürlich sofort nach, ob
etwas nicht in Ordnung sei.
„Ach mein Junge“, sagte der schließlich. „Ich bin alt habe nicht mehr lange zu leben. Aber ich habe schrecklich Angst davor, was danach sein wird. Wo gehen wir hin, wenn wir nicht mehr sind, was erwartete uns da, oder ist es einfach aus?“
Volker wusste zuerst nicht, was er sagen sollte. Da fiel ihm das Bild ein, das in der Eingangshalle hing und auf dem eine wunderschöne Allee mit schlanken, hoch gewachsenen Bäumen zu sehen war.
Er beschloss, eine Mutmach Geschichte zu erfinden, so wie Alfons es schon tausendfach gemacht hatte.
„So schlimm ist das gar nicht, da
drüben“, begann Volker. Alfons sah ihn ernst an. „Woher willst du das denn wissen?“, fragte er.
„Von meinem Opa“, erklärte Volker weiter. „Ich war noch klein, als er starb und ziemlich traurig darüber. Einige Tage danach erschien er mir im Traum und erzählte mir von der Allee in die Ewigkeit, die er ging. Er traf dort all seine Freunde wieder, die ihn begleiteten, hatte keine Schmerzen mehr und konnte auch wieder aufrecht gehen. Nicht mehr so gebückt, wie zu Lebzeiten.“
Noch einiges erzählte Volker von der Allee in die Ewigkeit und merkte, dass es Alfons dadurch besser ging.
Noch lange lag Alfons an diesem Abend wach und dachte darüber nach, was ihm Volker erzählt hatte. Die Vorstellung, dass es so eine Allee in die Ewigkeit gibt, erfüllte ihn mit Freude.
Schließlich schlief er ein und träumte tatsächlich von dieser Allee in die Ewigkeit. Es war der realistischste Traum, den er je hatte.Die Sonne wärmte seine Haut, die Luft duftete nach Frühling und die Vögel zwitscherten und er hatte auch überhaupt keine Schmerzen mehr. . In der Ferne erblickte er einen jungen Mann, in dem er sofort den Jungen erkannte, dem er zum ersten mal eine Mutmach Geschichte erzählte, weil
dieser Angst vor der Schule hatte.
Die beiden hatten sich viel zu erzählen., während sie auf der Alle in die Ewigkeit entlang schlenderten.
In Alfons Todesanzeige stand zu lesen:
„Alfons Beer. 92 Jahre. Mit einem friedlichem Lächeln für immer eingeschlafen.“
Titelbild (c) Manuela Schauten