Die Lichtalbe
Das fahlgelbe Mondlicht in jener vorfrühlingshaften Vollmondnacht schien mir direkt ins Gesicht und ließ mich urplötzlich erwachen. Wispernde Stimmen drangen an mein Ohr und geboten mir etwas zu tun, nur konnte ich absolut nichts von dem verstehen, was da von mir verlangt wurde. War ich überhaupt wach, oder glaubte ich es nur zu sein, denn die Wahrnehmungen gingen ineinander über und jede neue Erkenntnis, die ich in diesem Zustand erlangte, erschien mir eher noch phantastischer zu sein, als die jeweils vorangegangene. Aber eines war in der Tat unverkennbar, ich vernahm immer wieder den Namen eines Ortes, den ich selbst
schon sehr lange nicht mehr aufgesucht hatte und der seit gefühlten Ewigkeiten von den Menschen in eine höchst seltsame Art der Vergessenheit geraten zu sein schien.
Während der Mond das nächtlich reflektierte Licht der Sonne über der ganzen Stadt gleichmäßig verteilte, breitete sich zeitgleich eine geradezu geheimnisvolle Stille über all den Dächern dieser eigentlich niemals schlafenden Stadt aus. Die Autos, die Straßenbahnen, Busse, ja sogar auch die Fußgänger wurden allmählich immer langsamer und blieben dann ganz plötzlich stehen, gerade so, als wären sie an dieser Stelle irgendwie eingefroren worden. Als hätte die Zeit selber den Sekundenzeiger an jeder einzelnen Uhr in dieser Stadt angehalten.
Nun vernahm ich auch jene wispernden Stimmen wieder, die mich gemahnten, mich unverzüglich zu jenem geheimnisvollen Orte zu begeben, den sie mir bereits kurz zuvor benannt hatten. Diese Botschaft war in ihrer Form nun so eindeutig klar formuliert, dass ich selbst keine Sekunde lang an ihrem aufrichtig gemeinten Inhalt und wohl auch an deren eminenten Wichtigkeit zu zweifeln wagte.
So rief ich denn auch flugs nach meinem getreuen Pegasus, der mich rasch zu jenem Orte bringen sollte. Im Handumdrehen rauschte er auch schon heran und begrüßte mich mit einem lauten Wiehern, während ich ihn sanft über seine Nase streichelte. Gerade als ich ihm den Namen jenes geheimnisvollen Ortes ins Ohr flüstern wollte nickte er ziemlich
heftig mit dem Kopfe, als wüsste er längst schon, wohin er mich nun tragen sollte. So schwang ich mich auf seinen breiten weißen Rücken und gab ihm seine Schwingen frei. Sogleich zog er mit mir los und bereits einen Augenblick später jagten wir zwei schon hoch droben am Firmament über dieser jetzt so still vor sich hin schweigenden Stadt entlang. Ich erkannte in der Ferne das Nikolaiviertel, die Fischer-Insel und die alte Gertraudenbrücke, die städtischen Prinzessinnengärten vom Moritzplatz, auch den Feuerwehrbrunnen auf dem Kreuzberger Mariannenplatz und das Engelbecken, ebenso wie die historischen Gebäude des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses. Tief unter mir ersteckte sich Hochbahntrasse der Linie U1, wie auch die
berühmte und wunderschön anzuschauende Berliner Oberbaumbrücke, die mit ihren beiden filigranen Backsteintürmen elegant die Spree überspannte. Weiter östlich der Spree entlang gewahrte ich das dann kurz darauf auch große Riesenrad vom Spreepark im Plänterwald, welches aber schon lange außer Betrieb war und nur noch ein kümmerliches Dasein fristete. Genau hierhin aber brachte mich mein Pegasus und ließ mich in der Nähe des stillgelegten alten Riesenrades absitzen. Einsam und verlassen stand ich nun inmitten des dunklen Spreeparks und lauschte in die Stille der Nacht hinein. Plötzlich kam aus der Tiefe der Dunkelheit des nahegelegenen Plänterwaldes ein winziges Licht auf mich zu. Als es sich mir näherte, erkannte ich in dem
goldgelblich schimmernden Licht einen Lichtalben. Eine kleine Elfe, die bei jeder Bewegung die sie machte, dutzende von winzig kleinen goldenen Funken versprühte…
Sie ließ sich auf meiner ausgestreckten Hand nieder und schaute mich lächelnd an. Irgendwie kam sie mir mit ihrer Art und ihrem verschmitzt lächelnden Gesicht bekannt vor.
»Hast du mich etwa hier her an jenem vergessenen Ort gerufen?«, fragte ich sie erstaunt, worauf sie überzeugend nickte.
»Natürlich«, sagte sie, »ich wollte Euch zum Abschied nur noch einmal etwas zeigen, bevor ich endgültig gehe.« Dann streckte sie ihren funkelnden Arm aus und wies auf das Riesenrad. Dort gingen plötzlich an allen Gondeln die Lichter an und illuminierten in
faszinierend bunter Vielfarbigkeit dieses alte Berliner Riesenrad.
Viele Stimmen von fröhlichen Menschen waren jetzt zu hören und ein mehrfaches Kinderlachen erscholl, als sich das rostige Riesenrad unter bunt gemischten Alt Berliner Leierkastenklängen und recht bekannten Gassenhauern aus längst vergangen Zeiten langsam in Bewegung setzte.
Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion, ist Holzauktion, ist Auktion… erklang es nun vergnügt vom Riesenrad herüber…
Überrascht schaute ich die noch immer lächelnde Elfe an,
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte sie und zeigte nun nach Nordwesten, in Richtung auf das Zentrum der immer noch stillen Stadt.
Dort leuchtete, angestrahlt von etlichen bunten Scheinwerfern, der Berliner Fernsehturm auf und in der Mitte seiner silbernen Kugel, wo sonst bei Tageslicht im Sonnenschein ein weißes Kreuz leuchtete, pulsierte nun ein riesiges, rot leuchtendes Herz. »Alle diese Bilder wollte ich Euch nur als Erinnerung schenken, weil Ihr damals weit fort in der Fremde weiltet, als ich plötzlich gehen musste und ich mich daher nicht mehr von Euch verabschieden konnte. Und nun mein lieber Prinz vom Weißen Fels, nun muss ich aber wirklich gehen. Lebet wohl, achtet gut auf Euren getreuen Pegasus und vergesst mir die Berliner Randgöre aus dem Rapunzelturm am Weiher nicht ganz«, sagte sie mit etwas Wehmut im Herzen und dabei mit jedem
Flügelschlag zugleich hunderte von goldenen Funken verströmend erhob sie sich in die Lüfte und zog hinauf zu den Wolken…
»So lebe denn auch wohl, liebe Freundin«, flüsterte ich leise und konnte aber die Tränen in meinem Gesicht mitnichten zurückhalten.
Im selben Moment verlosch auch die bunte Illumination an jenen Orten, die sie mir zuvor aufgezeigt hatte, während die Musik abrupt verstummte, ebenso wie auch das Riesenrad anhielt, um anschließend sofort wieder in der anonymen Finsternis der Nacht zu versinken.
Die allmächtige Zeit gab umgehend die Sekundenzeiger aller Uhren in der Stadt wieder frei und zugleich jeglichen Dingen ihre ureigene Mobilität zurück, so als hätte sie den ewigen Fluss der Zeiten niemals wirklich
unterbrochen...
Es war die Minute, in der ich Ella Wolkenstill gedachte. Der Frau, die sonst so oft mit dem Wind geflüstert hatte...
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
© by Louis 2017/6 last Update: 2025/12