Kurzgeschichte
Rauhnacht - ... wenn ein Funke überspringt

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"..überarbeitete Fassung Challenge Nr 15"
Veröffentlicht am 21. Dezember 2016, 36 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind. Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann. Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen. Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit
..überarbeitete Fassung Challenge Nr 15

Rauhnacht - ... wenn ein Funke überspringt

Rauhnacht

Aus der Stallecke schallte es laut: „Hallo, Mama! Wo bist Du?“

Zweimal wiederholte sich der Ruf, jedes Mal lauter, bis Anna die Schubkarre abgesetzt hatte und bei ihrer Jacke ankam, die an einem schmiedeeisernen Haken im Stall hing. Sie holte das rufende Handy aus der Jackentasche. Auf dem Display strahlte ihr das Gesicht ihrer Tochter Maria entgegen. Sie stellte die Verbindung her

„Hallo, Schatz, wie geht es Dir?“

Sie lauschte. „Fein? Mir auch. … Nein, den Baum habe ich noch nicht aufgestellt. Aber er steht schon im Stall und duftet. …. Ja, ich bin gerade im Stall und will nachher noch ins

Tal zum Dorfhaus. Heute ist der letzte Backtag vor Weihnachten.“

Sie lachte und hörte ihrer Tochter im fernen Berlin zu.

Dann fragte sie: „Was möchtest Du? Einen russischen Zupfkuchen zu Weihnachten? Ja, den back ich uns.“

Sie lachte wieder mit ihrer Tochter gemeinsam am Telefon und erkundigte sich dann: „Bleibt es denn bei Sonnabendnacht mit Deiner Zugankunft? Soweit ich gehört habe, streiken die Lokführer nicht mehr. Sie hörte der Tochter eine Weile zu, nickte zustimmend und murmelte mal „Ja“, dann „Aha“, und „Ja, verstehe ich …“ und antwortete dann: „Klar, bring Deine Studienfreundin über Weihnachten ruhig mit.

Wir haben Platz und das Essen reicht auch. Über Weihnachten sollte sie nicht alleine im Internat hocken.“ Sie quittierte das „Danke, Mama!“ mit einem Telefonküsschen und verabschiedete sich: „Dann bis Sonnabend, ich hole euch vom Nachtzug mit dem Auto ab. Passt auf Euch auf. Hier liegt übrigens Schnee. Ja, ich grüße Berthold, er hat heute Nachtdienst in München und kommt erst morgen. Und Du grüß Oma und Opa von mir. Tschüssi.“

Das Telefongespräch mit ihrer Tochter hatte ihr ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und ihr wurde bewusst, dass sie in letzter Zeit viel zu selten gelacht hatte.

„Anna, irgendetwas läuft schief in deinem Leben“, sprach sie halblaut zu sich selbst und

schob die Schubkarre, in der sie Möhren und Äpfel zu einem bunten Berg aufgehäuft hatte, vorsichtig in den Pferdestall.

Mit Schwung und schüttete sie die Ladung in die hölzerne Futterkiste. Was auf dem Boden daneben landete, füllte sie Max und Moritz gleich in deren Trog. Die beiden Braunen kamen angetrottet und rieben sich zuerst an ihrer Jacke, schnoberten laut und ließen sich nach einem kurzen Wiehern und Prusten mit einer Möhre verwöhnen. Max und Moritz zogen im Sommer die Kutsche, auch mal den Wagen, wenn das Heu von der nahen Hauswiese geholt wurde. Im Winter spannte Bert - ihr Mann - sie hin und wieder vor den Schlitten. „Viel zu selten sind diese romantischen Schlittenfahrten inzwischen

geworden“, murmelte Anna vor sich hin und warf einen Blick auf die Geschirre in der Stallnische, bevor sie zum alten

Kuhstall hinüber ging. Hier muhte seit Kurzem wieder ein Kalb, das sie bei der Mutter säugen ließ. Die zweite Kuh wurde für die Milch gehalten. Die Färse würde im nächsten Jahr gedeckt werden. Was Anna an Milch nicht selbst verbrauchte oder zu Käse verarbeitete, verkaufte sie direkt ab Hof.

Anna ging durch die Stalltür hinüber zu ihren Merinos. Zehn Schafe und einige erst vor wenigen Tagen geworfene Lämmer drängelten sich im Stall um die mit duftendem Heu gefüllten Futterraufen. Nur bei schneereicher Witterung kamen sie in den Laufstall, der durch eine Schwingtür mit dem

Außengehege verbunden war. Jetzt konnten sie auf der Weide kein Futter mehr finden. Ein Blick über die kleine Herde zeigte Anna, dass mit den Tieren alles in Ordnung war.  Sie fuhr einem über den Kopf, wühlte mit der Hand im dichten Fell. Ein Gefühl von Sehnsucht nach Wärme und Kuscheln durchzuckte sie. Anna seufzte tief, rief den Hund mit einem kurzen Schnalzer zu sich und setzte sich auf den abgewetzten Holzschemel. Der hatte schon  Bertholds Eltern gedient, vermutete sie.

Die Nachmittagssonne stand tief, strahlte fast waagerecht in die Stallfenster und verbreitete ein warmes Licht auf der frischen Strohstreu. Anna genoss die ruhige Atmosphäre. Schaute den Schafen zu. Der Appenzeller

Sennenhund lag ihr zu Füßen. Und mit ihm hatte es überhaupt begonnen, dass sie heute auf diesem Hof lebte. In einer Wochenendehe und als Nebenerwerbsbäuerin. Seit nunmehr sieben Jahren. Das hatte sie sich anders vorgestellt.

Berthold sprach damals von einer Übergangszeit.

„Ich mache in ein-zwei Jahren hier meine eigene Praxis auf“, versprach er ihr.

„Im Talbereich gibt es keine spezialisierte Kinderarztpraxis oder Klinik. Dann sind wir beisammen.“  Aber dann kamen immer neue Gründe, warum es noch nicht klappte. Seit Langem sprachen sie kaum noch darüber, denn jedes Mal gab es dann Streit. Innerlich hatte sie das Thema gestrichen und baute

sich ihr Leben auf. Sie hatte Freunde, ihre Tochter und ihre Praxis und ihr ging es gut, … soweit.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Anna übernahm vor sieben Jahren im Nachbarort die Tierarztpraxis und auch den Patientenstamm. Ihre Tochter war damals bereits in Berlin in einem Spezialgymnasium mit Internat und wollte nicht mit nach Oberbayern. Sie blieb bei den Großeltern Kam über die Ferien ins Berchtesgadener Land . Dass Anna überhaupt aus Mecklenburg hierhergekommen war, lag daran, dass sie in ihrer Heimat nach dem Studium kein Einkommen als Dorftierärztin gefunden hatte. Die Landwirtschaft lag am Boden. Es gab

kaum Viehbestände und der alte Doktor, der letzte Freie in ihrem Landkreis, würde noch lange mit seiner Praxis und dem bisschen Restvieh durchhalten können. Und in eine Anstellung im Tierpark oder bei einer industriellen Mastanlage wollte sie nicht.

„Warum also nicht Oberbayern?“, dachte sie sich damals und packte zu. Dass sie mit der vakanten Praxis auch den Kampf gegen manchen Aberglauben gekauft hatte, darüber staunte sie zunächst nicht schlecht.

„Ställe müssen ausgeräuchert werden, damit das Vieh gedeiht!“ Darauf schworen immer noch viele Altbauern, und sie holten auch mal zuerst den Pfarrer, ehe sie zum Tierarzt kamen. Damit hatte sie nicht gerechnet, dass der Aberglaube so tief sitzen würde  im 21.

Jahrhundert in Deutschland.

Es war ein zäher Start. Zuerst kamen die Dorffrauen -  neugierig wie sie waren -  mit ihren Katzen und Hunden unter irgendwelchen Vorwänden, um die Neue zu testen. Sie verstanden einiges von Heilkräutern, halfen sich auch mit 1000 Hausmittelchen und wussten um deren Wirkung. Da Anna jedoch neben der traditionellen auch die alternative Tierheilkunde praktizierte, kannte auch sie sich mit Heilkräutern aus. Man konnte sie nicht so schnell aufs Glatteis führen. Und so kam es bald zu ersten intensiven Kontakten, Vertrauen baute sich auf, Freundschaften wuchsen.

Sie hatte einige Tiere heilen können, wo der

Arzt aus dem Nachbarkreis sich die Haare raufte.  Er war damals gerufen worden, da man der Neuen aus dem Osten nix zutraute. Inzwischen schickten selbst alt-gestandene Bauern aus dem Nachbarkreis nach ihr, wenn ihr Vieh kränkelte. Anna musste schmunzeln, als sie daran dachte. Und mit ihrem Kollegen hatte sich eine tragfähige Partnerschaft entwickelt, da der ein begnadeter Chirurg war und auch seine Praxis danach eingerichtet hatte. Man empfahl sich gegenseitig. Davon profitierten alle.

Auf diese Weise hatte sie auch ihren Mann Berthold, den Hoferben, kennengelernt.

Anna kraulte den Hund am Kopf. Sieben Jahre war es jetzt her, als der damals noch junge Harro plötzlich ungestüm in ihr

Behandlungszimmer gestürmt, sozusagen mit der Tür ins Haus gefallen war. Der Besitzer, Berthold Brandstätter, stolperte mit der Leine in der Hand hinterdrein.

Der Schrecken bei allen war riesig, der materielle Schaden hielt sich in Grenzen.

Bert  entschuldigte sich verlegen, mit hochrotem Kopf und ungeschickt, während er versuchte, die schiefe Tür wieder in die Angel einzuhängen: „Harro ist ein Kraftpaket und so verspielt. Irgendwann hat er sich das Türen öffnen selbst beigebracht und nun muss ich zu Hause alle Türen abschließen“, erklärte er. Doch die Tür zu Annas Sprechzimmer war vor Altersschwäche einfach umgekippt und ließ sich nicht mehr einhängen. Ein Glück, dass Anna nicht

gerade ein anderes Tier behandelt  sondern telefoniert hatte. Nun war es an Bert gewesen, zu telefonieren. Kurze Zeit später kam sein Freund Bastl, Schreinermeister im Unterdorf mit einer Ersatztür. Sein Vater hatte damals in der Praxis die Holzarbeiten gemacht, so war der Schaden schnell behoben. Und auch die alte Tür entsorgt.

Sie alle hatten damals ausgiebig gelacht. Und dieses Lachen war das erste, was sie mit Bert verbunden hatte. Harro musste nur seine Impfungen bekommen. Letztlich war Berts Besuch auch so ein Neugierbesuch, wie er später zugab. Anna nutzte die Gelegenheit und checkte den Hund durch.

„Na, der steht aber gut im Futter“, meinte sie zu Bert. „Gesund, aber zu wenig Bewegung,

zu viel Futter und zu viel sich selbst überlassen“, fasste sie das Ergebnis zusammen.

Bert kratzte sich verlegen am Kopf, graulte den Hund hinter den Ohren. Dann erklärte er ihr seine Situation: „ Ich arbeite die ganze Woche in München im Kinderkrankenhaus. Das sind einhundertsechzig Kilometer bis hierher. Den Hof habe ich vor kurzem geerbt, als meine Eltern starben. Bauer bin ich nicht, aber es ist mein Elternhaus. Alles sehr schwierig.“  

Sie nickte. „Kann ich mir vorstellen.“

„Ich habe damals mit dem Gedanken gespielt, Hof und Vieh zu verkaufen. Doch es ist  ja nicht nur mein Elternhaus, das ich verlieren würde. Ich hätte das Gefühl, ich

würde entwurzelt.“

Um klar zu kommen, beschäftigte er halbtags einen Stallknecht, den er sich mit seinem Hofnachbarn teilte. Doch auf Dauer war das alles keine Lösung. Das war ihm bewusst.

„Und  Harro fehlen als Hofhund die langen Spaziergänge mit meinem Vater. In die Stadt kann ich ihn nicht mitnehmen“, beendete Bert seine kurze Vorstellung.  Anna blickte ihn an, er wirkte sehr jungenhaft, sympathisch und doch irgendwie hilflos.

„Ich habe das Gefühl, ihnen fehlt auch der Auslauf“, meinte sie zu ihm.

„Ich mache jetzt Feierabend, wenn Sie Lust haben, können wir mit dem Hund eine Runde oben auf dem Locksteinweg gehen. Ich brauche auch noch ein wenig Bewegung.“

Berthold und Anna mussten viel lachen, wenn beide rein gewohnheitsmäßig in ihre Dialekte verfielen und sich das Mecklenburger Platt von Anna mit dem Oberbayerisch von Berthold  verwirrte. Die Spaziergänge wurden häufiger, die Wanderungen länger.

Kurze Zeit später bat Berthold sie, auch sein Vieh als Tierärztin zu betreuen. Es waren nicht viele Tiere, zwei Kühe, einige Schafe, verschiedenes Geflügel und zwei Pferde, der Rest aus dem einst stattlichen Bauernanwesen seiner Eltern, die beide bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.

Anna rief sich ins Gedächtnis: „Das war heute vor acht Jahren, genau am 21.

Dezember, als Berts Eltern unbedingt bei Schneetreiben und glatter Straße mit dem Auto noch in die nahe Stadt fahren mussten, um Weihrauch zu kaufen. Brauchtum und Aberglauben diktierten ihnen, in der ersten Rauhnacht die Ställe gegen die bösen Geister auszuräuchern.“

Berthold der Kinderarzt hatte nun einen Bauernhof zu versorgen; doch mit Leib und Seele war er kein Nebenerwerbsbauer.

Seinen Eltern zum Andenken behielt er die Tiere. Das Land - bis auf ein paar Weideflächen -  hatte er verpachtet. Anna  ging über den Hof und knipste die Außenbeleuchtung an. Sie würde erst im Dunklen nach Hause kommen. „Wie es ihm wohl heute ging in München? Ob er an seine

Eltern dachte und diesen irrwitzigen Brauch, der sie ums Leben gebracht hatte? Hatte er deswegen die zusätzliche Nachtschicht akzeptiert?“, fragte sie sich. Er redete nicht darüber. Und vor allem nicht mit ihr. Als Arzt und Naturwissenschaftler sollte er doch klüger sein.

Den Brauch, den Stall zu räuchern, behielt er bei und versuchte seinen Dienst in München immer darauf abzustimmen.

Anna war nun regelmäßig auf dem Brandtner Hof, über diese Marotte, wie sie es nannte, schaute sie hinweg. Sie liebte nicht nur die Tiere und den Hof mit seiner herrlichen Aussicht auf den Watzmann. Berthold mit seinen großen lachenden braunen Augen und seinem bayerischen Brummbass in der

Stimme hatten es ihr besonders angetan.

Als Anna und Bertold dann ein Jahr später heirateten, einigten sie sich darauf, dass Anna den Hof als Nebenerwerbsbäuerin führen würde. Er überschrieb ihr dazu die Ställe und das Vieh. Nicht zuletzt in der Hoffnung, das würde sie beide noch mehr verbinden. Bräuche wie das Räuchern jedoch  würde sie nicht übernehmen müssen, vereinbarten sie. Berthold stimmte ihr schnell zu und dabei blieb es. Es wurde von da an nicht mehr geräuchert.

Bei seinen Weihnachtsschützen und im Trachtlerverein, denen er angehörte, gab es noch genug alte Bräuche und Rituale, denen er dort frönen konnte. Da sollte er seine Gaudi haben. Natürlich gab es auch Gefrotzel

im Verein, weil Bertholds Frau sich davon fern hielt. „Sie ist sich wohl zu fein, die Mecklenburgische?“ und „Wer hat denn bei Euch die Hosen an?, waren noch die sanfteren Sprüche, die Bert sich anhören durfte. So stand Berthold in seinen Vereinen unbeweibt da. Und ersetzte es durch Eifer und Ehrgeiz. Einige der Dorffrauen versuchten auf Anna Einfluss zu nehmen, warnten sogar, dass das nicht gut gehen konnte, auf Dauer. Doch sie hatte ihren Standpunkt: „Ich liebe meinen Mann und die Berge und das Viehzeug. Selbst sein Dialekt ist mir lieb. Aber Tracht und Vereinsleben gehören nicht zu mir. Jeder muss doch seinen Freiraum haben, oder?“  Sie suchte sich die Backnachmittage der Frauen, nahm

gelegentlich an den Spinnabenden teil und fühlte sich da ganz wohl.

Berthold musste sich damit abfinden, dass Anna mit ihrem Mecklenburgischen Holzschädel  keinen Millimeter von ihrem Standpunkt abwich. So blieb es dabei.

Nach dem Rundgang durch die Ställe schloss Anna die Türen und ging zum Auto,

dass  vorm Haus stand. Harro würde auf Hof und Vieh aufpassen, während sie weg war. Er kam und rieb sich an ihr. Musste dann aber hinter der Hoftür zurückbleiben die sie sorgfältig verschloss.

Sie wollte gerade auf die Uhr schauen, als das Tal von Glockengeläut erfüllt wurde. Gleich darauf mischten sich die Schüsse der Ramsauer Weihnachtsschützen und aller

anderen Schützenvereine mit  dem Glockengeläut. Sie blickte hinüber, wo der Weihnachtsstern und die beleuchteten Weihnachtsbäume jenseits des Tales standen. Dort wusste sie die Schützenformation, sah das Mündungsfeuer und der Rauch wehte aus dem Tal heraus. Sieben Tage lang bis zum Heiligen Abend wurde mit diesem Schießen täglich um 15 Uhr das Christfest herbei geschossen.  Ihr dröhnten die Ohren vom Echo. Wie mochte es Harro gehen, der war wohl in seine Hütte geflohen.

„Nun aber los!“, trieb sie sich selber an. Das Abendmelken war um 19 Uhr.  Bis dahin konnte sie sich der Weihnachtsbäckerei widmen, den russischen Zupfkuchen für ihre

Tochter backen und dann später noch einmal ins Dorfhaus gehen, die ausgekühlten Kuchen zu holen und etwas spinnen. Berthold hatte Nachtdienst und würde erst morgen Mittag nach Hause zurück kommen. Sie freute sich auf die ruhige Sonnenwendfeier der Dorffrauen, wo  gesungen und gesponnen wurde. Die Männer saßen nach dem Böller sowieso in ihren Vereinen und soffen.

Anna wurde von den Frauen lebhaft begrüßt. Sie suchte sich einen freien Arbeitstisch und packte gerade ihren Korb aus, als die Aschenauer Lili zu ihr kam und ihre Hand nahm und schüttelte: „Anna, Du musst ja stolz sein. Dein Berthold ist ab heute Zugführer unserer Weihnachtsschützen.

Gratuliere Dir. Das ist eine Ehre. Wirst Du denn dann die Backnachmittage und das Spinnen noch schaffen?“ Anna schaute sie erstaunt an, bedankte sich und fragte: „Was hat das mit mir zu tun? Die Vereine gehen mich doch nichts an?“ und sie dachte: „Wieso heute befördert? Er hat doch heute Nachtdienst in München.“ Aber sie wollte keinen Streit, wahrscheinlich war er in Abwesenheit befördert wurden. Aber Lili ließ sich nicht so leicht abspeisen und meinte: „Aber Anna, die Frau vom Schützenführer hat eine Menge offizieller Termine. Es gibt Einladungen und Bälle und Du stehst damit den Frauen der Schützen im Verein vor. Hat der Bertl Dir das nicht alles erklärt?“

Anna zuckte die Schultern. Keine Ahnung

hatte sie und auch nicht die Absicht, sich auf diese Tour in den Verein drängen zu lassen. Sie würde wohl ein ernstes Gespräch mit Bert führen müssen.

„Ja, schon, wir werden sehen. Aber jetzt muss ich schauen, dass ich mit dem Backen voran komme. Bis Weihnachten ist kaum noch Zeit. Dank Dir, Lili.“

Sie widmete sich ihrem Hefeteig und wallte den mitgebrachten Mürbeteig, machte den Schokostreußelteig für den russischen Zupfkuchen und rührte dann die Quarkfülle für den Zupfkuchen an.  Sie musste nur noch Figuren aus dem Lebkuchenteig ausstechen. Bald hatte sie etliches an Gebäck fertig und nahm sich vor, es zu Hause zu dekorieren. Sie holte sich einen Tee und schaute aus dem

Fenster übers Tal zu ihrem Hof hin. In der Nähe schien jemand eines der Sonnenwendfeier entfacht zu haben. Es leuchtete und flackerte gigantisch.

„Ja, der 21. Dezember, so viele Bräuche“, dachte sie. Da klingelte ihr Telefon. „Brandtner Anna“, meldete sie sich und wurde dann blass. „Ich komme, bin gleich da, bin im Dorfhaus.“ Sie schlüpfte in ihre Jacke, warf ein: „Ich muss heim, bei mir brennt es“, rief sie in den Raum, ließ alles stehen und liegen und fort war sie.

Als sie mit dem Auto zu ihrem Hof wollte, kam sie an der unteren Einfahrt nicht weiter, die Straße war voller Feuerwehren. Sie parkte beim Nachbarhof und rannte los. Inzwischen qualmte und glühte es nur noch an ein paar

Stellen. Der Stall hatte kein Dach mehr. Das Wohnhaus schien in Ordnung. Die Scheune war verwüstet. Anna versuchte näher heran zu kommen. Sie hörte ihren Hund bellen. „Harro!“ schrie sie. Und kurz darauf kam das treue Tier mit leicht versengtem Fell angerannt und leckte ihr die Hände. „Was ist hier passiert“, rief sie. „Meine Tiere!“ Sie suchte den Brandmeister, jemanden, der ihr das hier erklären konnte.

Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie drehte sich um. „Anna, Dein Mann ist im Salzburger Unfallkrankenhaus, er hat einen Balken abbekommen, einige schwere Brandverletzungen, als er die Tiere aus dem Stall holen wollte. Ein paar Hühner sind wohl verloren, aber das Großvieh ist gerettet und

beim Stangerbauern im Stall derweil. Seine Frau hat auch das Feuer gesehen und uns geholt. Der Brandmeister schaute sie an. Das Haus ist in Ordnung und Dein Mann auch. Also setz dich erst mal und atme durch.“

Anna schaute ihn an und versuchte die Informationen im Kopf zu ordnen. „Was macht mein Mann hier im Krankenhaus, er hat doch in München Dienst?“

„Ja weißt Du das denn nicht? Er wurde doch heute in der Schützengilde befördert. Dazu musste er doch  hier anwesend sein. Das ist eine große Ehre.“ Anna schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein, er sagte er hat in der Kinderklinik Dienst. Die sind doch wohl wichtiger als diese Schießerei!“

„Anna, versteh doch.“ Der Löschmeister versuchte den Arm um die Schulter der aufgebrachten Anna zu legen. „Er ist nun Schützenmeister und da muss er das Weihnachtschießen kommandieren. Wer soll das denn sonst machen. Also war er zuerst beim Christkindelschießen um 15 Uhr. Das durfte er heute zum ersten Mal kommandieren. Danach hatten sie noch den Umtrunk. Aber er hat nicht mitgetrunken, er wollte ja noch nach München zurück zum Dienst.

Und anschließend ist es ein Brauch unseres Vereins seit Jahrhunderten, dass der neue Schützenmeister mit seinem Zug noch die Ställe ausräuchert. Verstehst Du? Das ist hier eine Tradition, Anna.“ Anna schnappt

nach Luft, versuchte ihre Verwirrung und Erregtheit in den Griff zu bekommen: „Und warum brennt mein Hof?“ schrie sie.

„Wir vermuten, es ist ein Stück glühendes Weihrauch ins Stroh gefallen. Du hast ja überall Stroh rumliegen und keine gefegten Gänge!“

Sie antwortete: “Das ist ein Laufstall, da ist überall Stroh, und kein Beton!“

„Anna, ich weiß, aber wenn geräuchert wird, fegt man vorher die Stallgänge.“

Anne hatte das Gefühl, in einem Narrenspiel zu sein: „Also weil mein Mann zum Schützenmeister gemacht wird, muss er seine Versprechen an mich brechen, dass in meinem Stall nicht geräuchert wird und meine Tiere verbrennen und meinen Stall? Das

muss mir mal jemand erklären. Im Bauernverband bin ich als die Bäuerin eingetragen und ich bewirtschafte den Hof. Wer hat denn hier dann was zum Sagen, he?!“ Sie hatte sich in Wut geredet.

„Und lass mich los!“ Sie machte sich frei.

In ihrem Kopf gingen die Gedanken wild durcheinander. „Das hat ein Nachspiel!“

„Ist die Polizei schon da?“ fragte sie.

„Die werden morgen früh kommen, wir sichern die Brandstätte bis dahin.“ antwortete der Löschmeister ihr.

Anna kramte das Telefon aus der Tasche und rief beim Kommissariat der Kreisstadt an: „Brandtner Anna hier. Ich möchte eine Anzeige erstatten wegen Brandstiftung. Ja, es gibt einen Verdächtigen. Die

Weihnachtsschützen. Sie kommen? Gut, ich bin hier. Den Brandtner Hof kennen sie ja. Danke.“

Der Löschmeister schaute sie erstaunt an: „Anna, das kannst Du doch nicht machen, das regeln wir schon. Und ist ja nix passiert, weiter. Den Stall bauen wir zusammen wieder auf, der Verein. Mach Dir doch keine Sorgen.“

„Nichts passiert?“, fragte Anna. „Die Versicherung kommt bestimmt nicht für Dummheit auf. Wer soll den Schaden bezahlen? Wer war alles beteiligt? Wer hat das brennende Zeug in meinen Stall gestreut? Da wird sich die Polizei aber über Arbeit freuen!“

Anna ging zum Haus, Harro wich ihr nicht von der Seite. Sie dankte ihrem Nachbarn noch

kurz fürs Melken und das Stallasyl für ihre Tiere.

Kurz danach kam der Kommissar und nahm ihre Aussage auf. Einige Techniker beschäftigten sich bereits mit der Brandstätte.

„Brauchen Sie mich dann noch?“ Mein Mann liegt im Krankenhaus“, fragte  Anna den Polizeibeamten.

„Gehen sie nur, wir werden morgen nochmal wiederkommen. Aber ihren Mann werden wir auch noch befragen, deshalb muss ich sie begleiten“, antwortete dieser. „Immerhin haben sie ihn schwer belastet, das ist ihnen schon klar?“ Anna nickte stumm. Ja, Bert hatte in dieser Nacht ihr Vertrauen und den Rest der Ehe verbrannt. Den sie da belastet hatte, der trug nur noch den selben Namen,

aber ihr Mann war er wohl nicht mehr. Er hatte sie verraten.

An der Nachtaufnahme des Unfallkrankenhauses fragte der Polizeibeamte nach Bert und sie wurden in die Intensivstation geschickt.

Eine Nachtschwester wies ihnen den Weg. „Und wer sind sie?“, fragte die Schwester Anna, als sie die Zimmertüre für den Kommissar öffnete.

„Ich bin Anna Brandtner. Da drin liegt mein Mann.“

Die Schwester schaute erstaunt. „So, seine Frau? Na die sitzt aber seit einer Stunde bereits an seinem Bett.“

Anna schaute durch die halb geöffnete Tür. An Berts Bett saß eine Frau im hellblauen

Dirndl und hielt seine Hand. Anna ging nicht dem Kommissar hinterher. Sie würde ihren Mann bei Gericht wiedersehen. Vor dem Krankenhaus stand ihr Auto, es hatte begonnen zu schneien und es war kalt. Anna atmete tief durch, bevor sie den Motor startete und Richtung Berchtesgaden fuhr.

Die erste Rauhnacht des Jahres hatte begonnen. Für Anna würde es die letzte sein.

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Über den Autor

Tintenklecks
Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind.
Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann.
Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen.

Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit

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FLEURdelaCOEUR 
ich weiß, ich habe sie auch schon mal gelesen ...
Oder im Fernsehen gesehen?
Gefällt mir jedenfalls sehr!
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks was hast Du im Fernsehen gesehen? Die Böller? Ja, ist imposant. Ich habe neben einer solchen Böllerstätte gewohnt :-)
Danke für den Favo, :-))
LG Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Auch wenn Du diese unwahrscheinlich toll geschriebene
Geschichte überarbeitet hast, ich konnte mich trotzdem
noch so gut an sie erinnern ... ich hatte und habe sie mit
Spannung gelesen.
Liebe Weihnachtsgrüße
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks DANKE Dir :-) (auch für Taler und Favo.
Ich weiß, das 34 Seiten für Dich Schwerstarbeit waren .
Und es freut mich sehr.
Dir auch schöne Weihnacht
lg vom Klecks
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Ich hab` schon Päuschen dazwischen machen müssen,
aber es war halt so spannend - auch beim zweiten Mal.
Frohe Weihnachten für Dir und lasse es Dir gut gehen
Liebe Grüße
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
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