"Caress the one, the Never-Fading
Rain in your heart - the tears of snow-white sorrow
Caress the one, the hiding amaranth
In a land of the daybreak"
Nightwish - Amaranth
... 6 Monate später ...
Es klopfte.
"Herein", antwortete sie und hoffte, dass er es war. Jemand trat ein.
"Guten Morgen, Frau Jülich", sagte eine Männerstimme. Er war es. Sie drehte sich nicht um, ließ sich nichts anmerken.
"Die Frau hat Angst", sagte Melanie. Sie stand am Fenster ihres Zimmer im Parterre der psychiatrischen Klinik und blickte in den weiten Hof mit dem Garten. Über Nacht war der
erste Schnee gefallen, wenn auch nicht viel. Eine leichte Puderzuckerschicht bedeckte alles, den Boden, die Bänke, die Kunstwerke aus Stein und die Volieren, deren Bewohner schon lange in ihre beheizten Winterquartiere umgesetzt worden waren. Der Mann trat neben sie und lächelte. Durch den Garten schlich eine 27-jährige Frau mit langen dunkelblonden Haaren und gesenktem Kopf. Sie litt in der Tat an einer wirkmächtigen Angststörung. Das war natürlich kein Grund zum Lächeln, zumal die Patientin sich mit der Behandlung schwer tat. Aber es war sehr erfreulich, dass Melanie das erkannte, denn es war ein unübersehbares Zeichen dafür, dass sie nicht mehr nur in sich gefangen war, sondern ihre Umwelt wahrnahm und das auf sehr emphatische Art und Weise.
"Ja", sagte er, "sie hat Angst, aber es geht ihr langsam besser. Manchmal zumindest."
Melanie strahlte.
"Sind sie bereit, Frau Jülich?"
Sie nickte.
Das letzte halbe Jahr war für Melanie erschreckend und erstaunlich gewesen. Begonnen hatte alles kurz nach Arndt Münzers Tod. Marion Meyer und Karin Münzer waren außer sich. In ihre Trauer mischte sich das Gefühl, dass irgendetwas oder irgendjemand den Mord an Andreas Stallwang sühnen wollte. Erst später hatte Melanie das verstanden, denn auch wenn die beiden Frauen nicht selbst Hand angelegt hatten, sie waren vor 20 Jahren danebengestanden und hatten sich gefreut. Panisch packten Marion und Karin ein paar wenige Sachen zusammen und verstauten sie in Karins Porsche Carrera S Cabriolet. Sie wollten sofort den Ort verlassen. Zuletzt griffen sie sich Melanie und zwängten sie auf einen der hinteren Notsitze. Ob die überhaupt mit ihnen kommen wollte, wurde sie nicht gefragt.
Karin fuhr viel zu schnell. Der Wagen
schlitterte durch mehrere Kurven. In Angst schrie Melanie auf. Marion drehte sich zu ihr um - sie stritt ununterbrochen mit Karin - und verpasste ihr eine Ohrfeige. Daraufhin geschah zweierlei:
Melanie war nicht angeschnallt und, mehr aus Furcht denn wegen der Kraft, der Schlag streckte sie nieder. Sie lag zusammengekauert auf beiden Notsitzen und wimmerte. Im Ausholen hatte Marion jedoch auch Karin getroffen. Die zuckte zusammen, veriss das Lenkrad und der Porsche kam von der Straße ab. Unkontrollierte und schnell rutschte er durchs Gelände auf einen Baum zu. Den verfehlte der Wagen zwar knapp, doch ein mächtiger tiefhängender Ast rasierte alles über Türhöhe ab, auch die Oberkörper der beiden Frauen auf den vorderen Sitzen. Melanie blieb unverletzt und kam erst im Krankenhaus von Werrentheim wieder zu Bewusstsein. Sie konnte sich zunächst an nichts erinnern und man
musste ihr viel erzählen. Verwirrt wie sie war, verstand sie nur die Hälfte.
Doch dann war diese Frau aufgetaucht. Sie war um einiges jünger als sie, doch als Melanie in ihr Anna Bäcker aus dem Buchladen erkannte, wurde alles langsam klar. Zunächst hatte sie ihr erzählt, dass sie niemals entmündigt worden war. Jürgen, der Rest der Clique und der ganze Ort hatten sie nur so behandelt. Melanie konnte mit ihrem Leben also anstellen, was sie wollte. Dann hatte die Besucherin ihr einen Vorschlag unterbreitet.
Du musst weg von diesem Ort. Dort gehst Du ein, dafür werden sie schon sorgen. Ich werde wegziehen. Komm mit mir und ich werde mich um uns kümmern und dafür sorgen, dass es dir irgendwann wieder besser geht. Vielleicht ...
Weil Anna Bäcker ihr auf Anhieb sympathisch war, sagte Melanie zu. Die beiden Frauen zogen
in eine Loftwohnung in einer großen Stadt. Anna konnte sich das leisten. Danach brachte sie Melanie zu einem Psychiater und Neurologen. Die Untersuchung dauerte nicht lange. Es fiel nicht schwer, ihn von Melanies Zustand zu überzeugen. Er unterschrieb auch die Einweisung in die psychiatrische Klinik. Jedoch sollten bis zum Antritt der Therapie sechs Monate vergehen. Dabei ließ Anna Bäcker es aber nicht bewenden. Sie machte Druck und ging vielen Ärzten, Sachbearbeitern, Sachbearbeiterinnen und Gutachtern so lange auf die Nerven, bis aus den sechs Monaten sechs Wochen wurden. Zuletzt nahm Melanie wieder ihren Mädchennamen Jülich an.
Langsam ging sie mit dem Mann durch die von warmem Licht erleuchteten Gänge der Klinik. Zwei Ärzte kümmerten sich hauptsächlich um sie, der Mann und eine Frau. Sie mochte den Mann ein wenig mehr, weil die Frau zuweilen
sehr hart in ihren Worten sein konnte. Das war nicht immer angenehm. Hilfreich waren aber beide und Melanie verspürte ihnen gegenüber eine große Dankbarkeit. Zumindest hatte sie nun wieder eine Ahnung davon, was es hieß, am Leben zu sein.
Im Therapieraum angekommen nahmen sie in einem der sich dort gegenüberstehenden Sesseln Platz. Der Mann kam sofort zur Sache.
"Frau Jülich, wir, meine Kollegin und ich, haben uns intensiv besprochen. In den drei Monaten, die Sie nun bei uns sind, haben Sie erstaunliche Fortschritte gemacht."
"Danke", antwortete Melanie. "Sie beide waren mir aber auch eine große Hilfe. Aber genau das brauche ich noch: Hilfe."
Ihr Therapeut nickte. "Das ist richtig. Aber wir glauben, dass eine stationäre Behandlung nicht mehr von Nöten ist."
"Was heißt das?"
"Das heißt, dass Sie Weihnachten Zuhause
verbringen. Ich habe die Freundin, die sie immer besucht, Frau Bäcker, schon benachrichtigt. Sie wird Sie morgen abholen. Und hier" - er reichte ihr einen Zettel - "haben sie die Adresse einer hervorragenden Psychologin an ihrem Wohnort. Kerstin Seibold war eine Studienkollegin von mir und ich wünschte, ich hätte nur die Hälfte ihres Könnens. Wenn Sie zustimmen, werde ich ihr ihre Krankenakte zuschicken."
Melanie nickte heftig. Sie bekam endlich ihr Leben zurück.
"Ich will das Ding nicht haben!" Das kleine verhutzelte Männchen schüttelte den Kopf.
"Stellen Sie sich nicht so an!", meinte die Frau in dem verwaschenen Kapuzenpullover.
Der Himmel über dem Trödelmarkt war grau und ein heftiger Wind verteilte den feinen Nieselregen über den ganzen Parkplatz. Die wenigen Kunden und Schaulustigen drängten sich unter den Schirmen der Glühweinstände
zusammen. Die Händler machten keine gute Geschäfte an diesem Tag.
"Nein, verdammt nochmal!", fluchte das Männchen. "Das Ding ist... ich weiß nicht, was es ist, aber wenn es hier liegt, fühle ich ich unwohl und die Leute streiten sich. War froh, als ich es loswurde. Nein, dafür werde ich nichts bezahlen."
"Sie sollen es auch nicht bezahlen. Ich gebe es ihnen so. Sie sollen es nur wieder in ihr Angebot nehmen."
"Wieso ich?"
"Sie sind verlässlich", antwortete die Frau, von der man unter der Kapuze kaum das Gesicht erkennen konnte. "Sie sind immer hier, jedes Mal, bei jedem Wetter. Es ist bei ihnen verfügbar."
"Natürlich bin ich immer hier, ich lebe schließlich davon."
Die Frau lächelte geheimnisvoll. "Dann will ich sie etwas fragen: Wie sind die Geschäfte im
letzten Jahr gelaufen?"
Das war ein wunder Punkt. "Nicht so gut", maulte das verhutzelte Männlein. "Aber es kommen auch wieder bessere Tage."
"Nein! So ist das nicht", meinte die Frau mit Bestimmtheit. "Im letzten Jahr sind ihre Geschäfte normal gelaufen. Eigentlich können Sie kaum davon leben. Das wissen Sie auch. Nehmen Sie es und Sie werden auch wieder gut verdienen."
Das klang natürlich verrückt. Aber das Männlein hatte seine Geschäftsbücher vor gar nicht allzu langer Zeit überprüft. Solange er das Ding auf seinem Stand gehabt hatte, war es ihm gut gegangen, war sehr viel mehr Geld in die Kasse gekommen. Er knurrte, dann streckte er die Hand aus. Es war verrückt.
"Her damit", brummte er.
Die Frau reichte ihm das kleine Holzkästchen. Er war sich auch ohne nachzuschauen sicher, dass es immer noch die kleine Glaskugel
enthielt. Als er es in seine Auslage stellte, drehte die Frau sich um und verschwand, ohne noch ein Wort zu sagen. Ihren Wagen hatte sie zwei Straßen vom Trödelmarkt entfernt abgestellt. Sie war froh, ihren Auftrag erfüllt zu haben. Erleichtert stieg Anna Bäcker in ihrer Caterham Seven Roadsport 175.
- ENDE -
Anmerkungen:
"I cannot die, I, a whore for the cold world"
Nightwish - The poet and the pendulum
Wer die Erzählung "Der Mann, der nichts tat" lesen möchte, sollte nicht mit den Anmerkungen beginnen, weil hier Dinge beschrieben werden, die zum Spannungsbogen gehören. Oder anders ausgedrückt: Spoileralarm!
Was ich wollte I:
Ich fange mit dem Unwichtigen an. Ich wollte die Schuldigen umbringen. Ich wollte sie
umbringen und zwar auf die ein oder andere absurde Art und Weise. Vor allem sich in eine laufende Kettensäge zu stürzen und den Kopf in einen großen Wassertopf stecken, bis man ertrinkt, sind nicht wirklich Selbtmordmethoden, die sehr verbreitet sein dürften.
Was ich wollte II:
Um erst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Tode waren Selbsttötungen! Denn "Der Mann, der nichts tat" ist keine Erzählung, die Selbstjustiz bejubelt. Es ist eine Geschichte die sich eindeutig gegen Selbstjustiz wendet. Ich will an dieser Stelle nicht meine Gedanken zu diesem Thema ausführen. Es ist jedoch kein Zufall, dass das entsprechende Kapitel, in dem Selbstjustiz geübt wird, "Selbstgerecht" heißt. Den Rest überlasse ich
dem Leser.
Was ich wollte III:
Dieser Roman sollte kürzer werden. Und für meine Verhältnisse ist er das auch. Kleine Warnung im Vorraus: Ich habe auch Monster mit über 100 Teilen!
Aus diesem Grund habe ich mich auch auf einige Szenen, Motive und Personen beschränkt. Gerade die "Jürgen-Reeder-&-Co.-Seite" lässt natürlich noch viele Fragen offen. Außerdem hätte dieser Roman viele Möglichkeiten für atmosphärische Ausführungen geboten. Auch auf diese habe ich größten Teils bewusst verzichtet. Obwohl es - meiner Ansicht nach - eher eine ruhige Erzählung ist, wollte ich den Lesern doch eine zügige Darbietung präsentieren. Darum habe ich mich auch bei der psychologischen Beschreibung der Charaktere auf das wesentliche
beschränkt und manche thematischen Fäden nicht weitergesponnen. Als Beispiel sei hier nur an den am Anfang der Geschichte angedachten teilweisen Stromausfall in dem Ort am See hinter den Bergen erinnert.
Die Freunde des ländlichen bzw. nichtstädtischen Lebens mögen mir verzeihen, dass ich das Leben in diesem Umfeld so negativ dargestellt habe. Es war für die Dramaturgie unerlässlich. Positive Aspekte sind auch den Auslassungen zum Opfer gefallen. Allerdings möchte ich an dieser Stelle auf Hedwig Braun verweisen, auf die eigentlich nur eine Umschreibung zutrifft: Sie ist eine ehrliche Haut.
Aber die Täter mussten ja irgendwie auf das kommen, was sie taten. Darum habe ich ein entsprechendes Milieu kreiert, in dem ihre überhebliche Selbstüberschätzung geduldet, gefördert wurde und sie das machen ließ, was sie taten. Warum ein Außenseiter zum Opfer
wurde, muss ich wohl kaum erklären.
Dabei sind es nicht selten gerade solche selbstgerechten unreflektierten Menschen, die eine hohe Moralität vor sich hertragen. Und dies war der Ansatzpunkt für die Geschichte. Denn die Kugel zwang sie, sich selbst nach diesen moralischen Vorstellungen zu messen. Das solche Menschen dann vor sich selbst nicht bestehen können, ist kein Wunder - weshalb sie es ja zumeist vermeiden. Doch diese Möglichkeit ließ die Kugel ihnen nicht. Im Denken solcher Personen bleibt dann in der Regel nur die Todesstrafe - auch ein Punkt, denn ich als Autor, wenn auch nur am Rande, hier kritisiert habe. Vielleicht ist es ja aufgefallen.
Ein Wort des Dankes:
Die Einordnung "Erzählung" ist in dieser Form
richtig, im Bezug auf das, was ich beabsichtigt habe jedoch falsch. Es ist von der Grundidee ein Roman. Ich habe - siehe oben - "nur" hie und da gekürzt. Lang ist das Ganze ohne Zweifel trotzdem.
Es hat dennoch einige wenige Aufrechte nicht abgeschreckt, der ganzen Erzählung zu folgen, wie ich aus den Kommentaren und Empfehlungen weiß. Bei jenen - sie selbst wissen am besten, wer sie sind - möchte ich mich für ihre Treue bedanken. Es ist nicht selbstverständlich, über Wochen einer Erzählung zu folgen. Wir haben nicht mehr die 50er Jahre des 20. Jhd., in denen der Forsetzungsroman noch etwas Alltägliches war. Anregung und Kritik ist auch im Nachhinein immer willkommen.
Nun hat die Geschichte ja einen Nachteil. Obwohl sie an eine Kriminalerzählung ähnelt, gibt es keinen Ermittler - oder eine Ermittlerin -, der die Ereignisse für den Leser
zusammenfasst. Ich verzichte an dieser Stelle auf die zuerst geplante Kurzzusammenfassung. Sollte jemandem etwas unklar sein, kann er sich gerne an mich wenden und ich werde ihm eine zukommen lassen.
Was kommt:
Wie angedroht, werde ich hier auch in Zukunft Mehrteiler einstellen. Sie werden zunächst immer als jene Mehrteiler erscheinen und erst später von mir zusammengefasst werden (wie ich es mit "Der Mann, der nichts tat" hoffentlich in dieser Woche schaffe).
Ich habe schon einige Dinge im Kopf. Ohne Termin natürlich möchte ich meinen "Ach-Horenn" ankündigen, eine 6-teilige Erzählung über einen fantastischen Fluss. Ende des Sommers/Anfang des Herbstes folgt dann ein weitere Roman mit Namen "Die Bestie", ein
Schauerroman bestehend aus 50 Teilen. Vielleicht lesen wir uns dann ja wieder.
Arn von Reinhard