Romane & Erzählungen
Der Mann, der nichts tat - Erzählung - 04.: Brauns Bücher

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"Menschen und Geschichte"
Veröffentlicht am 02. Juli 2016, 14 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Zweifler, Pessimist, Misanthrop ... ... ungefähr so: "Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich ...
Menschen und Geschichte

Der Mann, der nichts tat - Erzählung - 04.: Brauns Bücher

Was bisher geschah: Hans-Joachim Gote ist in seinen Heimatort, den er vor zwanzig Jahren verlassen und seitdem nicht mehr betreten hat, zurückgekehrt. Er wollte es nicht, aber er muss es tun. Dabei hat er eine Kleinigkeit mitgebracht, die so wertvoll scheint, dass sie in einen Safe gehört. "Taking him to the white lands of Emphatica, of innocence" Nightwish - The poet and the pendulum




Als Gote das Haus bezog, war es Donnerstag gewesen. Doch die Wirklichkeit ähnelte seiner Phantasie nicht. Er schritt nicht mutig zur Tat. Das ganze Wochenende lang verkroch er sich, ging nicht in den Ort. Er aß Tiefkühlpizza und

trank Mineralwasser, von dem unzählige Kästen im Keller standen. Der Makler hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er sich dort bedienen durfte. Ansonsten tat Gote nicht viel. Zu anderen Zeiten, wenn die Unruhe ihn ergriff, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr ziellos umher. Das wollte er nicht machen, denn er befürchtete, erkannt zu werden. Zumindest redete Gote sich das ein. In Wahrheit war seine größte Angst, dass er die anderen erkannte, aber das gestand er sich nicht ein. Entscheidend war allerdings, dass er seit gut einem halben Jahr genau wusste, woher diese Unruhe, die ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgte, seit er seinen Heimatort mit achtzehn verlassen hatte, kam. Um sie zu tilgen, dazu war er zurückgekehrt. Dazu und...

Er sah die Bücherregale durch, fand jedoch nur belanglose Liebesromane. Es gab nur einen Ausnahme und das war Krieg und Frieden von Leo Tolstoi. Er hatte es genommen und

angefangen zu lesen, den Klassiker aber nach wenigen Seiten wieder zurückgelegt. Dies war nicht die Zeit dafür. Also hatte er den Fernseher eingeschaltet und alles gesehen, was es zu sehen gab. Was das gewesen war, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern und das lag ausnahmsweise einmal nicht am Programm. Seine Augen nahmen die bunten Bilder zwar wahr, ihr Zusammenhang schaffte es aber nicht bis in sein Bewusstsein.

Am Sonntag Abend aß er die letzte Tiefkühlpizza - Paprika-Thunfisch. Verdammt, er hasste Paprika! - und war dann kurz nach neun Uhr ins Bett gegangen. Dennoch erwachte er am nächsten Morgen erst gegen Zehn. Nach einer schnellen Dusche ging er hinunter in die Küche und sah sich gründlich um. Doch so sehr er sich auch bemühte, er fand nichts Essbares mehr. Also musste er wohl oder übel in den Ort. Zuvor nahm er einen Stuhl mit auf die Terrasse, setzte sich verkehrt herum auf ihn,

stützte den Ellbogen seines linken Arms auf der Lehne ab und legte sein Kinn in die offene Handfläche. Eine halbe Stunde lang saß er so da und dachte nach. Er kam zu dem Schluss, dass dieser Tag so gut wie jeder andere war. Wenn er sowieso in den Ort musste, konnte er auch heute beginnen. Beginnen war der falsche Ausdruck. Begonnen hatte alles vor zwanzig Jahren. Das war Gote auch unbewusst immer klar gewesen, doch erst vor einem halben Jahr hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass es mit seinem Weggang von hier nicht geendet hatte. Von sich aus würde es niemals ein Ende finden. Er musste handeln, eintauchen, ohne ein Teil des Ganzen zu werden. Und wo konnte man das besser als bei Brauns Bücher?


Der Buchladen war im Juni 1945 von Adolf Braun, dem Vater der jetzigen Besitzerin, Hedwig Braun, gegründet worden. Damals war er außergewöhnlich und progressiv gewesen.

Adolf Braun hatte sogar Werke von Karl Marx in den Regalen gehabt. Heute war er, unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit, ein Sammelsurium für die verschriftlichten Belanglosigkeiten dieser Welt, wie jedes andere Buchgeschäft auch. Nur ein Teil der Einrichtung vermittelte noch den früheren Eindruck: die alten schweren Bücherregale aus Holz, dunkel gealtert durch die Jahre, der Messingtisch mit den Neuerscheinungen, der seit 1945 immer an dem selben Platz stand, die drei Kronleuchter unter der Decke im vorderen Bereich des Ladenlokals, die bei Einbruch der Nacht ein warmes Licht verbreiteten. Sonst hatte sich viel verändert. Am schmerzvollsten war es für Gote, als er entdeckte, dass die Diskutierecke mit den unbequemen Rattansesseln einer Abteilung, die mit Esoterik & Lebenshilfe überschrieben war, hatte weichen müssen.

Er schritt langsam zwischen den Regalen hindurch und tat so, als würde er sich für die

Buchrücken interessieren. Stattdessen ließ er sich von dem Duft der neuen Büchern umfangen und beobachtete neugierig seine Umgebung. Es dauerte eine Weile, bis er in einer rothaarigen Frau in seinem Alter mit einer tief ausgeschnittenen Bluse Karin Münzer erkannte, verheiratet seit zwanzig Jahren. Früher war sie dunkelhaarig gewesen. Einmal blickte sie länger in seine Richtung, es lag jedoch kein Erkennen in ihren Augen.

'Gut so', dachte Gote.

Und dann kam Leni Silberstein samt Entourage schwatzend in den Laden. Sie musste inzwischen fast achtzig sein, doch sie hatte sich nicht verändert. Schon früher hatte sie uralt ausgesehen.

Gote holte tief Luft und ging auf die Theke zu, die sich an der linken Wand durch die Hälfte des Raumes erstreckte. Hedwig Braun bediente ganz rechts einen Kunden, hinter dem die Silberstein und ihr Fanclub ungeduldig warteten.

Am anderen Ende der Theke stand eine junge Frau mit dunklen Haaren und ebensolcher Miene und betrachtete in einer Mischung aus Trotz und Schmerz ihre Fingernägel. Sie war eine jüngere und hübschere Version von Gotes Exehefrau Anke. Und sie hatte ein Namensschild an ihrem schwarzen Rollkragenpullover. Langsam ging Gote auf sie zu.

!Entschuldigung, arbeiten Sie hier?"

Die junge Frau schaute auf, begriff, dass sie den Mann, der vor ihr stand, nicht kannte und lächelte. "Ja, das tue ich."

"Ich bräuchte Hilfe, aber ich möchte mich nicht vordrängen", sagte Gote und blickte zum anderen Ende Theke.

"Oh, Sie drängen sich nicht vor. Die würden sich nie von mir bedienen lassen", antwortete die junge Frau ohne den Kopf zur Seite zu drehen. Leni Siberstein war also noch immer eine Institution im Ort. Er schaute auf das

Namensschild. A. Bäcker. Bäcker?

"Nun, dann bin ich wohl an der Reihe", erwiderte Gote und lächelt sie freundlich an. "Frau A Punkt Bäcker."

Beide grinsten.

"Anna."

"Ein schöner Name. Ich heiße Hajo Gote."

"Ihre Vorfahren?"

"Hm, das weiß man nie, aber ich würde bei mir eher auf das imperium romanum tippen. Spätrömische Dekadenz, sie verstehen?" Gote strich sich über den Bauch. Anna Bäcker lachte. Das kam scheinbar nicht oft vor, denn Hedwig Braun und Leni Silberstein schauten erstaunt von ihrem Ende der Theke zu ihnen herüber.

"Womit kann ich ihnen helfen?"

"Ich suche einige Bücher aus dem Fachbereich Geschichte. Vielleicht können Sie die für mich besorgen."

"Fachbereich Geschichte? Das würde kaum jemand sagen, es sei denn, er hat studiert."

"Ja."

"Sind Sie Historiker?" Das war eine gute Frage. Gote musste einen Augenblick lang überlegen. "Ja", antwortete er dann, "ja, ich glaube, das bin ich."

"Etwas, das man kennt?" Die junge Frau spielte ihm die Neugier nicht vor. Gote kratzte sich am Kopf. "Nun, ich weiß nicht. Nicht unbedingt. Was ich tue ist schon... schon sehr speziell. Einige Aufsätze. Eine Monographie."

"Und?"

"Taktik und Blut."

Anna Bäcker strahlte. "Warum die Rote Armee den Zweiten Weltkrieg ein Jahr später gewann und sinnlos Millionen Menschen opferte."

"Sie kennen es?" Gote war verblüfft.

"Ihr Name kam mit gleich bekannt vor. Ja, ich interessiere mich sehr für Geschichte, auch für Militärgeschichte. Ein Exemplar stand bei uns im Regal. Wenn nichts zu tun war, habe ich es

durchgeblättert, mehr als einmal und schließlich selbst gekauft. Ich mag ihren Stil. Und sie argumentieren logisch und nachvollziehbar. Tolles Buch!"

Vor Freude schüttelte Gote den Kopf. Dann schob er einen Zettel über den Tisch und Anna Bäcker glich die Titel mit der Datenbank in ihrem Computer ab. Beide Bücher waren nicht vorrätig, beide mussten bestellt werden.

"Übermorgen sind sie wohl hier."

"Gut, ich werde auch da sein."

"Würden Sie mir ihr Buch signieren?"

Gote lachte. "Das wäre das erste Mal."

"Wunderbar! Bis übermorgen."

"Bis übermorgen."


Im Supermarkt holte Gote den zweiten Zettel hervor, den er am Morgen geschrieben hatte und besorgte, was er zum Kochen brauchte. Von Tiefkühlkost hatte er vorerst die Nase voll. In dem Sportartikelgeschäft kaufte er drei Paar

Laufschuhe. Auf dem Weg zurück zu seinem Wagen kam ihm neben anderen Menschen ein alter Mann entgegen. Er hatte eine Baskenmütze auf dem Kopf und ging gebückt, stützte sich auf einen Stock. Klaus Renner war früher der Dorflehrer gewesen. Wer ihn nicht kannte, mochte meinen, dass die Jahre die Verbitterung in sein Gesicht gemeißelt hätte. Wer ihn kannte wusste, dass er niemals lächelte.

Als Gote auf seiner Höhe war, wurde er unvorsichtig, aber weil da noch andere Menschen um ihn herum auf dem Bürgersteig waren, auch drei Schulkinder, konnte er nicht widerstehen.

"Renner, der alte Penner!", flüsterte er im Vorbeigehen. Der alte Mann schaute verblüfft, konnte sich jedoch nicht schnell genug drehen und wenden, um den Sprecher auszumachen. Die Menschen waren bereits weitergegangen und seine Augen waren noch nie die Besten gewesen.

Beim Wagen angekommen verstaute Gote seine Einkäufe auf dem Beifahrersitz des Sevens. Dann sprang er hinter das Lenkrad, startet den Motor und gab Gas. Bäcker. Anna Bäcker. Von allen gemieden. Das konnte kein Zufall sein.




- Fortsetzung folgt

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Hörbuch

Über den Autor

ArnVonReinhard
Zweifler, Pessimist, Misanthrop ...

... ungefähr so:

"Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich imstande bin zu ziehen, die Dinge, die sich mir offenbaren ... die Hässlichkeit. Meine Arbeit fokussiert mich. Das hilft. Du sagst, ich benutze meine Gaben. Ich sage, ich geh nur mit ihnen um."
(Sherlock Holmes; In: Elemantary)


Fantasy- und Schauergeschichten sind mein Ding, weil sich darin alles Menschliche verarbeiten lässt.
Und ob ich es will oder nicht, auch das Thema "Freundschaft" taucht immer wieder auf.
Aphorismen.
Ein weiterer großer Bereich, mit dem ich mich beschäftige, in Erzählungen und Nonfiction, ist das Thema Krieg.

Arn von Reinhard ist EU-Skeptikerkritiker und Medienkritikerskeptiker.


foto by and with permission of Evelyne Steenberghe from vlien.net

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Newcomer Deine Story hat wirklich etwas, aber ich kann es gar nicht so richtig beschreiben. Vermutlich ist es aber genau das was mich dazu treibt, weiter zu lesen.
Herzliche Grüße von Marko
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard DAS hört sich in meinen Ohren gut an!
:-)

LG
AvR

P.S.: Bis zum WE steht die Erzählung hier auch als ein Buch zur Verfügung. Es liegt also an dir, ob du lieber Teil für Teil lesen möchtest, oder dir alles vornimmst.
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Ein Glück, dass ich nicht neugierig bin. :-)) Ich will einfach nur wissen wie es weiter geht. Liebe Grüße Ira
p.s. Erzählung 05 scheint nicht die Fortsetzung zu sein, oder??
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Natürlich ist 05 die Fortsetzung.

LG
AvR
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Ach ich 'Dummerle! :-))
Vor langer Zeit - Antworten
gela556 Sehr Ruhig und gleichmäßig verläuft deine Geschichte, so das ich sie gerne gelesen habe. Musste nur schmunzeln über den Gote was er zum alten Lehrer sagte, Frechheit von ihm....lach
GlG, Gela
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Ich denke, in der Erinnerung hat jeder seinen Renner. ;-)

LG
AvR
Vor langer Zeit - Antworten
Willie Trotz, dass nicht allzuviel passiert ist Spannung genug- mir gefällt diese Art zu schreiben ausgezeichnet.
Schönes wochenende und
b.G.
Willy
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Ich entnehme deinem Kommentar (auch), dass mein Stil zu der Geschichte passt. Und da ich das immer beabsichtige, freue ich mich sehr darüber.

LG
AvR
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EllaWolke Welche Rolle Anna wohl spielt....
Schönes Wochenende
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